RE:Pleistonikos

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Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Arzt der dogmatischen Schule, Schüler des Praxagoras von Kos
Band XXI,1 (1951) S. 210212
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Pleistonikos, ein Arzt der dogmatischen Schule.

Er war ein Schüler des Praxagoras von Kos. Das erfahren wir allerdings nur aus Celsus prohoem. 20. Galen (Π. Ἱππ. καὶ Πλάτ. δογμ. V 625, 2 K. = p. 688, 10 Mü.) rechnet ihn neben Hippokrates, Diokles, Mnesitheos, Praxagoras zu den angesehensten der alten Ärzte. Jedoch ist die Reihenfolge, in der Galen die Namen der alten Ärzte an dieser und anderen Stellen aufzählt, nicht einheitlich und bietet infolgedessen keine sicheren Anhaltspunkte für eine chronologische Einordnung (vgl. auch H. Hohenstein Der Arzt Mnesitheos aus Athen, Diss. Berlin 1935, 5). Aber es hat den Anschein, als ob Galen den P. mehr in die Nähe des Diokles als des Praxagoras rücke (vgl. Gal. IV 731, 14ff. = Albrecht Gal. lib. An in art. natura sanguis contineatur, Diss. Marb. 1911, p. 18, 18ff. V 685, 2. X 28, 3. 110, 18. XI 163, 3. 169, 13. 728, 7. 795, 8. XVII B 29, 10 = CMG V 10, 2. 2 p. 138, 19. XVIII A 270, 7; dagegen V 104, 10 = CMG V 4, 1. 1 p. 71, 9. X 260, 10. XV 135, 15 = CMG V 9, 1 p. 69, 30). Hier eine Entscheidung auf Grund übereinstimmender oder widersprechender Lehrmeinungen zu treffen, dürfte kaum möglich sein, da einerseits die überlieferten Fragmente des P. verhältnismäßig dürftig sind und andererseits viele δόξαι des Diokles und Praxagoras eine auffallende Übereinstimmung zeigen, so daß dieser als ein Schüler des Diokles erscheint (vgl. Wellmann, Die Fragmente der sikelischen Ärzte Akron, Philistion und des Diokles von Karystos, Berlin 1901, 11). Somit können wir der Mitteilung bei Celsus bis zum sicheren Erweis des Gegenteils ruhig Glauben schenken, um so mehr als Celsus einem zuverlässigen griechischen Autor folgt (vgl. die Praefatio der Ausgabe von Marx). Die Lebenszeit des Praxagorasschülers P. würde dann etwa in das erste Drittel des 3. Jhdts. v. Chr. anzusetzen sein (über die Lebenszeit des Diokles und damit auch des Praxagoras vgl. W. Jäger Diokles von Karystos, Berlin 1938, 225f.). Der Wirkungsort des P. wird, wie der seines Meisters Praxagoras, vornehmlich die Insel Kos gewesen sein. Nach einer brieflichen Mitteilung von Rudolf Herzog ist zwar ein P. inschriftlich nicht bezeugt, aber auf einem Grabepigramm des 4. Jhdts. v. Chr. (Paton-Hicks Inscriptions of Cos, nr. 225) findet sich der Name Πολύνικος. Dieser konnte in der Familie leicht für ein weiteres Glied zu Πλειστόνικος gesteigert werden (einen ähnlichen Fall aus dem 5. Jhdt. hat Herzog Herm. L 1915, 319f. festgestellt). Der Vater des Πολύνικος, Ἡρακλείδης, gehört zum koischen [211] Hochadel der Herakliden, die mit dem Adelsgeschlecht der Asklepiaden beständig durch das ganze Altertum auf Kos verschwägert sind (Vgl. Herzog Heilige Gesetze auf Kos, Abh. Akad. Berl. 1928, Nr. 6, S. 48, und Nikias und Xeno von Kos, Hist. Ztschr. CXXV 1922, 218. 228).

Plin. n. h. I zählt in den Quellenregistern zu B. XX–XXVII P. unter den medici externi auf. Titel bestimmter Werke sind uns jedoch nirgends überliefert. Wir dürfen lediglich vermuten, daß P. und seine Schüler, wie überhaupt der ganze Kreis um Praxagoras, in besonderen Schriften eingehend die χυμοί behandelt haben (Vgl. Gal. V 104, 9 = CMG V 4, 1.1 p. 71, 9).

Über die Lehre des P. sind uns folgende Einzelheiten bekannt: Grundlage seiner Physiologie ist die Lehre von den Säften. Darin folgte er hippokratischer Tradition (Gal. V 104, 9 = CMG V 4, 1. 1 p. 71, 9. V 685, 3 = p. 688, 10 Mü.). Auch bemühte er sich, wie alle Hippokratiker, die Säftelehre noch zu vervollkommnen. Ob er allerdings 11 Säfte (wie Praxagoras), darunter den ‚glasartigen‘ (ὑαλώδης) und den ‚leimartigen‘ (κολλώδης) unterschieden hat, läßt sich nicht mit Sicherheit behaupten; denn an den in Frage kommenden Stellen (VII 137, 15. VI 765, 2 = CMG V 4, 2 p. 398, 6) spricht Galen nur ganz allgemein von der Schule des Praxagoras (οἱ περὶ τὸν Πραξαγόραν τε καὶ Φυλότιμον), während er den P. (s. o.) mehr mit Diokles zu verbinden scheint. Immerhin ist eine weitgehende Übereinstimmung in diesen Lehren wahrscheinlich. Das zeigt sich z. B. auch in der Erklärung des Verdauungsvorgangs. In der oben erwähnten Celsusstelle heißt es: et duce alii Erasistrato teri cibum in uentre contendunt, alii Plistonico Praxagorae discipulo putrescere. Wir dürfen wohl daraus schließen, daß auch Praxagoras die Theorie von der Verdauung als einem Verfaulen der Speisen vertreten hat. Von Diokles wird uns die gleiche Theorie ausdrücklich berichtet (Ps. Sor. quaest. med. 61 = Rose Anecdota II 255). Diokles geht seinerseits in dieser Lehre auf Empedokles zurück (Plut. quaest. nat. II p. 912 C). Vgl. zu der ganzen Frage Wellmann Fragm. der sikel. Ärzte 34. 85f. Hinsichtlich der Bewegung des Pneumas in den Arterien war P. mit Herophilos, Praxagoras, Phylotimos, Diokles und Hippokrates der Ansicht, daß es durch die Diastole der Arterien nicht nur vom Herzen, sondern von überallher ‚gezogen‘ würde (ἕλκεσθαι). Das Herz sei gleichsam die Quelle der διαστέλλουσα δύναμις der Arterien (Gal. IV 731, 14 = Gal. libellus An in art. natura sanguis contineatur ed. Fr. Albrecht Diss. Marburg 1911, 18, 18).

Über die anatomischen Anschauungen des P. wissen wir so gut wie nichts. Gal. II 900, 14 sagt, daß neben Diokles, Praxagoras und Phylotimos auch fast alle anderen alten Ärzte sich nur sehr oberflächlich mit der Anatomie befaßt hätten. Doch ist dieses Urteil nicht allzu ernst zu nehmen; denn an anderer Stelle (Gal. Π. Ἱππ. καὶ Πλάτ. δογμ. ed. Mü. p. 143, 13ff.) lautet es wesentlich günstiger. In seinem Komm. zu Hipp. Περὶ φύσιος ἀνθρώπου (XV 135, 15 = CMG V 9, 1 p. 69, 30) hebt Galen hervor, daß unter anderen Anatomen auch P. nicht (wie der Interpolator von [212] Π. φύσιος ἀνθρώπου) die törichte Meinung vertreten habe, es gingen acht Venen vom Kopfe nach den unteren Teilen des Körpers. Daß P. im Anschluß an die Schule des Praxagoras die beiden zitzenförmigen Auswüchse der Gebärmutter κόλποι genannt und das Gehirn als Anhang des Rückenmarks angesehen hat, ist zwar nicht ausdrücklich belegt, aber durchaus möglich (vgl. Gal. II 890, 15 und III 671, 8 = I 487, 5 Helmreich).

Etwas besser sind wir über seine Lehren auf dem Gebiet der Pathologie und Therapie unterrichtet. Er war der Ansicht, daß bei der Therapie nicht nur der erkrankte Teil, sondern auch dessen Umgebung, ja der ganze Körper mit berücksichtigt werden müsse, ein Grundsatz, den er nach Galen (X 260, 10) mit den übrigen alten Ärzten teilte. Mit diesen war er auch weit entfernt von der Theorie der κοινόντες, wie sie der Methodiker Thessalos später aufstellte (Gal. XVIII A 270, 7; vgl. auch X 28, 3). Den Aderlaß kannte und schätzte P. wie andere Dogmatiker (Gal. XI 163, 3. 169, 13). Bei der Prognose berücksichtigte er die Kräfte des Patienten, die Schwere der Krankheit und den Eintritt der ἀκμή, um daraus auf einen günstigen oder ungünstigen Ausgang der Erkrankung zu schließen (Gal. IX 728, 7ff.). Das Fieber hielt P. für eine anormale Steigerung der eingepflanzten Wärme (Rose Anecdota Graeca II 226). Wenn bei Melancholikern ein blähendes Pneuma (πνεῦμα φυσῶδες) sich im Hypochondrion ansammelte, so nannte P. (mit Diokles und Aristoteles) derartige Leiden πνευματώδη und ὑποχονδριακά (Gal. XVII B 29, 8ff. = CMG V 10, 2. 2 p. 138, 19ff.). Den Nießwurz (ἐλλέβορος) hat er therapeutisch in mannigfacher Form verwandt. Hierin scheint er insofern originell gewesen zu sein, als er, um Erbrechen zu erregen, den Nießwurz in Zäpfchenform verarbeitete und in den Darm einführte oder die Patienten an mit Ochsengalle vermischtem Elleboros riechen ließ; vgl. Orib. (aus Rufus) VII 26 = CMG VI 1, 1 p. 245, 2. Rettig (ῥάφανος) verordnete P. bei Magenleiden (Plin. n. h. XX 26), während er das Basilienkraut (ocimum, ὤκιμον) bei Verstopfung und Hartleibigkeit gegeben zu haben scheint; vgl. Plin. n. h. XX 122, wo vielleicht zu ergänzen ist: et contra ⟨plirosin [d. i. πλήρωσιν] intestinorum⟩ Plistonicus. Überhaupt dürfte er (nach Galen XI 795, 8) manches zur Förderung der Pharmakologie beigetragen haben. Auf dem Gebiet der Diätetik vertrat er (nach Athen. II 45 d) die Ansicht, daß das Wasser verdaulicher sei als der Wein (ähnliches lehrten Diokles und Praxagoras, vgl. Athen. II 46 d).

P. war, soweit uns diese dürftigen Reste ein Urteil erlauben, keine überragende Persönlichkeit unter den Ärzten seiner Zeit, sondern lebte im Schatten des Diokles und Praxagoras. Zwar zählt ihn Galen mehrmals unter den δοκιμώτατοι τῶν ἰατρῶν auf, aber diese Ehre verdankt er wohl in erster Linie dem Umstand, daß seine Lehren mit denen der damaligen Koryphäen im wesentlichen übereinstimmten und er zudem einer Ärztegeneration angehörte, die noch ganz im Geiste hippokratischer Tradition wirkte.