RE:Diogenes 44

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Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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von Sinope Sohn des Wechslers Hikesias diogenes im Fass
Band V,1 (1903) S. 765 (IA)–773 (IA)
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44) Von Sinope, Sohn des Wechslers Hikesias, mit dem er als junger Mensch, so heisst es, auf Münzfälschung betroffen wurde (Diog. Laert. VI 20. 49. 56. Dio Chrys. or. IV in. VIII in. Muson. bei Stob. III 40, 9. Plut. de cap. ex inimic. utilit. 2 p. 87 a; de exil. 7 p. 602 a. Lucian. bis accus. 24; moralischer Sinn des τὸ νόμισμα παραχαράτειν Diog. 20. 71. Plut. de Alex. virt. p. 332 c. Luc. Demon. 5. Iulian. or. VI 188. VII 208 d. 211 b. E. Weber Leipz. Stud. X 99. Diels Arch. f. Gesch. d. Philos. VII 315). Deswegen flüchtig, kam er nach Athen, wurde von der Lehre des Antisthenes ergriffen (Diog. 21. Suid. Dio VIII 1–4. Plut. quaest. conv. II 1 p. 632 e. Aelian. v. h. X 16. Hieron. adv. Iovin. II 206 u. Diog. epist. 30) und übersetzte sie noch gründlicher [766] als sein Vorgänger in That (Dio VIII 2. Diog. 18). Ohne Behausung (Diog. 22. 69. Dio IV 13. Teles bei Stob. flor. 5, 67 [vol. III p. 40, 1 Hense]; die Tonne Diog. 23. 43. 105. Sen. ep. 90, 14. Lucian. vit. auct. 8; fugit. 20; de hist. conscr. 3. Iuven. 14, 308; vgl. Zeller Philos. d. Gr. II a⁴ 317, 5), in schlechtem Gewand (Diog. 22, vgl. 6. 13. 76. Dio VI 14. Epict. diss. I 24, 7; Stab und Ranzen Diog. 23. 32. 33 al.), bei geringer Kost (Diog. 25. 34. 44. Dio VI 62), in planmässiger Abhärtung (Diog. 23. 34; bewusste Überspannung 35; ἄσκησις 48. 70; πόνησις συνεχής ebd. Iulian. VI 195 a. Dio VI 8–15. Max. Tyr. diss. XXXVI 5; Leben des Herakles Diog. 71. Lucian. vit. auct. 8, und ausführlich Dio VIII 27–35), unter ostentativer Verschmähung alles Entbehrlichen (Diog. 37. 55. 26) führte er freiwillig das Leben eines Bettlers (nach Diog. 49 bettelte er nur anfangs aus Not, in zahlreichen Anekdoten aber erscheint er als gewohnheitsmässiger Bettler, so Diog. 49. 56. 57. 59. 67. Teles bei Stob. a. a. O. [p. 45, 1 H. wozu Anm.]. Zeller 317, 4; von Freunden jedenfalls nahm er Gaben an, Diog. 29, ja glaubte sie fordern, nicht erbitten zu dürfen, 46). So allein glaubte er frei zu sein (μηδὲν ἐλευθερίας προκρίνων Diog. 71. Dio VI 34. Epict. III 24, 67: ἐξ οὗ μ’ Ἀντισθένης ἠλευθέρωσεν, οὐκέτι ἐδούλευσα. IV 1, 152. Lucian. vit. auct. 7), weder von andern Menschen abhängig (z. Β. Diog. 45. Plut. de exil. 12 p. 604 d; vielmehr über sie Herr selbst in äusserer Sclaverei, Diog. 74. 75. Iulian. VI 195 c. Weber a. a. O. 91) noch den eignen Lüsten und eingebildeten Bedürfnissen unterworfen (Dio IX 12. X 15. Diog. 66. 75: δούλου τὸ φοβεῖσθαι. Epict. III 24, 71. Philo quod omn. prob, lib. p. 888), und so in gottähnlicher Unbedürftigkeit (Diog. 105, gegenüber der Bedürftigkeit des Verwöhnten 44 al.), gegen jedes Schicksal gewappnet (63. 38, vgl. Stob. II 8, 21 Wachsm.), der Todesfurcht ledig (Diog. 44. 52. 68. Dio VI 41. Epict. I 24, 6. IV 1, 30), die höchste Glückseligkeit zu erringen (er tauscht nicht mit dem Perserkönig, Dio VI 1. 7. 35. Epict. III 22, 60. Lucian. v. a. 9. Iulian. VI 195 b. Weber 86; ironischer Preis seines Reichtums Diog. 40 al.; πάντα τῶν σοφῶν Diog. 37. 72. Plut. non posse suav. vivi 22 p. 1102f; θεῶν εἰκόνες 51). So durfte er zugleich die Thorheit der andern ungestraft verlachen (z. Β. Max. Tyr. XXXVI 5; wogegen er selbst sich nichts daraus macht ausgelacht zu werden, Diog. 54. 58) und rücksichtslos, wo sie sich auch darstellte, angreifen (παρρησία Diog. 69. Lucian. v. a. 8; er schilt, oft mit οὐκ αἰσχύνῃ u. ä., Diog. 65, die Athener 59, die Hellenen 27, die Menschen überhaupt 32; die meisten sind verrückt 35, gar nicht Menschen 40. 41. 60. Weber 135), von keinem Herkommen, keiner angenommenen Meinung beirrt (allem entgegenzutreten sein eigentlicher Beruf Diog. 64; was andern ἄτοπον, ist es ihm nicht 73. 58. 61. 32. 33. 35. 36 al.; herrschen doch bei andern Völkern andere Sitten 73; Schamlosigkeiten 69. 44. 46; doch vgl. 54. Dio VI 17–20. Lucian. v. a. 10; Chrysippos bei Sext. Pyrrh. hypot. III 206. Iulian. VI 201 d–202 c sucht ihn in Schutz zu nehmen; seine Enthaltsamkeit rühmt Demetr. de eloc. 261. Zeller 322, 1. 327, 2. Weber 112). Er beruft sich vielmehr auf die Natur [767] (Diog. 38; oder den ὀρθὸς λόγος 73). Sie allein ist ihm Gesetz und Vaterland (er lebt nach dem Wort eines Tragikers, Nauck² fr. inc. 284, ἄπολις, ἄοικος, πατρίδος ἐστερημένος, πτωχός, πλανήτης, βίον ἔχων τοὐφ’ ἡμέραν, Diog. 38. Epict. III 22, 47. Iulian. VI 195 b; er ist κοσμοπολίτης Diog. 63. Lucian. v. a. 8, ihm ist πᾶσα γὴ πατρίς Epict. III 24. 66. Max. Tyr. XXXVI 3 vgl. Muson. a. a. O.; die einzig wahre Politie ist die des Kosmos, Diog. 72); das Beispiel der ‚Brüder‘ (Diog. 79), der naturgewachsenen Lebendigen, ist für ihn bestimmend (Tierbeispiele: die Maus Diog. 22, die Fische Dio VI 18, andre ebd. 21. 27. 32. X 16. 30; besonders der Hund Diog. 33. 45. 55. 60. Dio VIII 11. IX 3. 7. Lucian. v. a. 7 al.). Menschliche Vernunft (Diog. 24. 38) und Erziehung (30. 31 ; Lob der παιδεία 68. 47; φιλοσοφεῖν 58. 63. 64. 65) sollen nur dienen den Weg zur Natur zurück zu finden und dann auch andern zu weisen. Durch die unbeirrte Bethätigung dieser eigenartigen Lebensauffassung, vielleicht noch mehr durch seinen schlagfertigen, in aller Bissigkeit anmutigen Witz (Diog. 74. ἴυγξ τῶν λόγων 76. Dio LXXII 11. Epict. III 22, 90; s. die zahlreichen Wortwitze und treffenden Vergleiche bei Diog., die parodische Verwendung von Homerversen u. s. w., genauer untersucht durch Weber a. a. O. Wachsmuth Sillogr.² 66–72) übte er eine merkwürdige Anziehungskraft (Diog. 75) auf die Mitlebenden wie auf die Nachwelt und wurde so der eigentliche Begründer, zwar nicht der kynischen Philosophie, aber der kynischen Lebensweise. Seine Individualität steht als eine der schärfst gezeichneten aus dem Altertum vor uns; selbst aus den Übertreibungen gewährloser Anekdoten lässt sie sich fast immer glatt herausschälen. Eine beträchtliche Masse des bei Dio Chrysostomos, Epiktetos, Plutarchos, Lukianos, Maximos Tyrios, Diogenes Laertios, Iulianos u. a. reichlich überlieferten Stoffes scheint übrigens auf gleichzeitige oder wenig jüngere Quellen, nämlich Aufzeichnungen (Chrieen, Diatriben) der alten Kyniker zurückzugehen. Nur darf man diese Anekdoten auch dann nicht unbesehen als Geschichtserzählungen auffassen, wie es immer noch vielfach geschieht. So wird man am besten wohl dahingestellt lassen, ob irgend etwas Historisches zu Grunde liegt bei der angeblichen Einbringung des D. als Kundschafters zu König Philippos gelegentlich der Schlacht bei Chaironeia (Diog. 43. Epict. III 22, 24. Plut. de adul. 30 p. 70 c; de exil. 16 p. 606 c; über die kynische Bedeutung des κατάσκοπος Weber 211. 221. Norden Jahrb. f. Philol. Suppl. XIX 377) oder der noch berühmteren Begegnung mit Alexandros zu Korinth (Diog. 32. 38. 60. 68. Cic. Tusc. V 92. Sen. de benef. V 4, 3. Iuven. 14, 311. Dio IV. Theo progymn. V 13. Plut. Alex. 14; de Alex. virt. 10 p. 331 f; ad princ. inerud. 5 p. 782 a. Iulian. VII p. 212 c. Epict. III 22, 92. Simpl. in Epict. c. 21 p. 123 Salmas. Arrian. exp. Alex. VII 2. Diog. epist. 33. 40; schon Bayle hat auf den plumpen Anachronismus hingewiesen: Alexandros ist als Weltherrscher gedacht; er stellt sich dem D. vor: ‚Ich bin Alexander der Grosse‘; während die Begegnung natürlich nur vor dem asiatischen Feldzug stattgefunden haben könnte), vollends bei den nach Alexandros Tod gedachten Beziehungen zu [768] Perdikkas und Krateros (Diog. 44. 57. Diog. epist. 5. 45. Weber 93, 1; nach gewöhnlicher Überlieferung, Diog. 79, Plut. qu. conv. VIII 1 p. 717 c und weiter unten, wäre D. an demselben Tage wie Alexandros und zwar in Korinthos gestorben, jene Anekdoten aber setzen ihn fortdauernd in Athen voraus; ebenso wie die mehrfach überlieferte Angabe, dass er gewünscht habe, sein Leichnam möge in den Ilissos geworfen werden, s. weiter unten). So kann man auch Zweifel hegen gegen die Tradition, dass D. auf einer Reise in die Hände von Seeräubern gefallen, als Sclave ausgeboten, von einem Korinthier Xeniades gekauft und als Erzieher seiner Söhne angestellt worden sei, als der er sich vortrefflich bewährt habe (Diog. 29; 30. 36. 74. 82. Suid.; ersterer erwähnt eine Διογένους πρᾶσις von Menippos [Hermippos? s. Menag.] und eine solche von Eubulos [identisch mit der ebd. 20 citierten Schrift des Eubulides περὶ Δ.?]; Erinnerungen an eine solche vielleicht bei Lucian. vit. auct. 7. 8. Hirzel Der Dialog I 389, 4; ferner Philo quod omn. prob. lib. p. 883 c. Plut. tranqu. an. 4 p. 466 e; an vitio sit etc. 3 p. 499 b. Gell. II 18. Epict. II 13, 24. III 24, 66. IV 1, 115. Clem. Alex. paedag. p. 261 Pott. Iulian. VII p. 212 d. Stob. flor 3, 63 [52 H.]. 40, 9 [p. 754, 20 H.]). Dion weiss von dieser ganzen Tradition nichts. Nach ihm (VIII 4) begab sich D. nach Antisthenes Tode freiwillig nach Korinth und lebte grade dort ohne Behausung, meist im Kraneion (vgl. IX 4. IV 14), oder wechselte seinen Aufenthalt regelmässig zwischen Athen und Korinth (VI in., vgl. Plut. de prof. in virt. 6 p. 78 d. Val. Max. IV 3 ext. 4). Die Erzieherrolle des D. lieferte vielleicht nur die Einkleidung für eine kynische Pädagogik, wie die des Eubulos bei Diog. 30. 31 (eine Quelle ist ein Παιδαγωγικός des Kleomenes, Diog. 75, ohne Zweifel des Kynikers ebd. 95; vgl. Hirzel a. a. O. 389, 3). Richtig scheint indessen, dass D. seine letzten Lebensjahre zu Korinth verbrachte, wo er hochbetagt (Diog. 79. Suid.; gegen 90 Jahre alt nach Diog. 76; 81 nach Censorin. de die nat. XV 2) um die 113. Ol. starb (Anekdoten über sein Sterben Diog. 31. 76. Cic. Tusc. I 104. Plut. cons. ad Ap. 12 p. 107f.; aqu. an ign. util. p. 956 b. Lucian. dial. mort. 21, 2; vit. auct. 10. Cens. a. a. O. Aelian. v. h. VIII 14. Athen. VIII p. 341 e. Tatian. adv. Gr. 2. Hieron. adv. Iovin. II 207 m. Mart. Iulian. VI p. 181 a. Stob. flor. 98, 9. 123, 11). Die Stadt ehrte ihn durch feierliche Bestattung und Errichtung des (nach Diog. 78. Suid. s. Φίλισκος mit dem Marmorbild eines Hundes geschmückten) Grabmals am isthmischen Thor, welches noch Pausanias (II 2, 4) gesehen hat. Auch seine Vaterstadt setzte ihm Denkmäler (Diog. 78). Als seine Schüler nennt Diog. 75 Onesikritos mit seinen Söhnen Androsthenes und Philiskos aus Aigina (vgl. 73. 80. 84), 82 Monimos, 84 Menandros und Hegesias, 85 den berühmtesten, Krates, 76 den Feldherrn Phokion, Stilpon von Megara und ‚mehrere andere Staatsmänner‘ (von beider Verhältnis zu D. ist jedoch sonst nichts überliefert und die ganze Angabe sehr wahrscheinlich). Weitere Schüler sind auch sonst nicht bekannt.

Auf Schriftstellerruhm konnte D. kaum Wert legen (Diog. 48; vgl. epist. 17. Weber 201). [769] Das schliesst indessen nicht aus, dass er Schriften verfasst hat. Von Sosikrates und Satyros (Diog. 8) wurde die Echtheit der unter seinem Namen gehenden bestritten, und ohne Zweifel fanden sich unechte darunter. Diog. Laert. giebt zwei Verzeichnisse, die nur in wenigen Titeln übereinstimmen, das zweite nach Sotion. Den in beiden genannten Pordalos (Pordalis?) erwähnt Diog. 20, eine Schrift πρὸς Ἰσχύαν (Ἰσχύας im 1. Verz.) derselbe II 112, den Κεφαλίων Athen. IV 164 a (wo die Lesung freilich nicht feststeht). Auch Diog. VI 31 wird die Existenz von Schriften vorausgesetzt. Eine Vermutung Teichmüllers (Lit. Fehden II 247) über den Πτωχός sei wenigstens erwähnt; weiteres über die Dialoge Hirzel 316. 334. 337. Gestritten wurde namentlich über die Echtheit der Πολιτεία und der 7 kurzen Tragoedien, welche beide Sotion nicht aufführt. Allein schon Kleanthes hatte die Πολιτεία als echt anerkannt (Philod. vol. Herc. VIII col. 13. Gomperz Ztschr. f. öst. Gymn. XXIX 252. Dümmler Antisthenica append.); auch Athen. IV 159 c citiert sie, und Diog. VII 131 (vgl. VI 72). Plut. Lyc. 31 wird der Staat des D. neben denen des Platon und des Zenon erwähnt, von welchem letztern gesagt wurde, er sei ἐπὶ τῆς τοῦ κυνὸς οὐρᾶς geschrieben (Diog. VII 4). Die Tragoedien (Nauck² 807) wären nach Satyros bei Diog. 80 nach D.s Tod von dessen Schüler Philiskos oder von Pasiphon verfasst. Iulian. VI 186 c. VII 210 c. 212 a kennt die erstere Tradition und möchte die Stücke dem D. absprechen, gesteht aber fast wider Willen ein, dass sie echt sein könnten. Philodem behauptet ihre Echtheit, und so Gomperz, Dümmler (auch Academica 205), Wachsmuth Sillogr.² 24, Weber 153, die darin nicht Bühnenstücke, sondern Parodien mit didaktischer Tendenz erkennen. Ihr Inhalt lässt sich aus Dion u. a. vielleicht noch mit einiger Sicherheit reconstruieren (Dümmler u. bes. Weber aa. OO.; auf den Herakles geht Tertull. apol. 14: sed et D. nescio quid in Herculem ludit; über den Thyestes Diog. 73; wunderlich beruft sich Hirzel 387, 2 auf Iulian. VI. VII, um den Ernst der diogenischen Tragoedien darzuthun; das Gegenteil steht da). Die von Sotion als echt aufgeführten Chrieen waren jedenfalls Anekdotensammlungen gleich den von Stobaios angeführten ‚Diatriben des D.‘, die vielmehr über D. reden und sämtlich aus Dio Chrysost. geschöpft sind (Dümmler Antisth. 72. Hense ad Stob. anthol. III 460 adn. Weber 81). Über die überlieferten Briefe des D. (Hercher Epistologr. gr.) s. Boissonade Not. et extr. X 2, 122. Westermann Comm. de epist. Script. gr. IV 1852. Schafstaedt De D. epistolis. Gott. 1892. Marcks Symb. crit. ad epistologr. gr. (Bonn 1883). Nach letzterem sind sie etwa unter Augustus verfasst, also verschieden von den im Verzeichnis des Sotion aufgeführten. Den 16. Brief citiert Diog. 23. Iulian. VII 212 d kennt einen Brief an Archidamos, der nicht unter den erhaltenen ist, vgl. Epict. IV 1, 30. 156.

Die Moralphilosophie des D. lässt sich auf wenige ständig wiederkehrende τόποι zurückführen. Sie beginnt damit, alles nicht moralisch verwertbare Wissen zu verwerfen; man soll nur forschen, ὅττι τοι ἐν μεγάροισι κακόν τ’ ἀγαθόν τε τέτυκται (Diog. VI 103, vgl. II 12. Aelian. v. h. X 11 [770] εἰδότας ἃ δεῖ πράττειν ἐν τῷ βίῳ καὶ ἃ δεῖ λέγειν). Die Philosophie steht auf einer Linie mit der Wissenschaft des Steuermanns, des Arztes (Diog. 24. 30) und hat sich wie diese durch die That zu erweisen (Iulian. VI 191 b. Diog. 64 vgl. 71). Grammatik, Musik, Mathematik, Meteorologie (Diog. 27. 28. 39. 65. 73. 104. Zeller 289, 2) finden so wenig Gnade vor ihm, wie die Rhetorik (57), die theoretische Philosophie, besonders sofern sie sich mit dem Augenschein in Widerstreit setzt (daher die Lehren der Megariker Diog. 24. 38. 39. Stob. flor. 33, 14. Zeller 292, 2; Platons Ideenlehre Diog. 53, sein Definitionsverfahren 40; gegen Platons Person 24–26. 40. 41. 58. 67), die ganze Buchweisheit (38. 26. 48), das Schauspiel, die bildende Kunst (24. 35). Fanatischer ist wohl nie aller eigentlich menschlichen Cultur, im Namen der ‚Natur‘ und ‚Vernunft‘, der Krieg erklärt worden. Der Gegensatz von φύσις und νόμος beherrscht das ganze Denken des D. (Weber 98). Er ist berufen, nach einem delphischen Orakelspruch, τὸ νόμισμα παραχαράττειν d. h. allem Hergebrachten entgegenzutreten, ja es ‚mit Füssen zu treten‘ (Weber 102). ‚Nach der Natur‘ soll man leben und dadurch glückselig werden (Iulian. VI 193 d), alle überlieferte Meinung von sich thun. Das gilt vom religiösen Aberglauben und Cultus (Diog. 37. 38. 63. 73. Mysterien 39. 42; Traum- und sonstige Zeichendeutung 43. 48; das Gebet scheint nicht durchaus abgelehnt zu werden 42. 63. Zeller 329f.); es gilt nicht minder von allem staatlichen Leben (Diog. 24. 41. 50. 72. Zeller 324; Ehe, Diog. 54. 72; öffentliche Spiele 33. 43. 49. 60; vgl. Zenon bei Diog. VII 32-34. E. Wellmann Jahrb. f. Philol. 1873, 437. Pöhlmann Gesch. d. ant. Comm. u. Socialismus I 115. 208. 614. 617); vollends von dem Dünkel des Reichtums, Adels und Ansehens (47. 50. 60. Stob. flor. 86, 19. 93, 35. 95, 11. 12. 19. 97, 26. Epict. I 24, 6. Zeller 305, 3–5). Das einzige, was von unanfechtbarem Werte ist, ist die selbstgenügsame kynische Tugend, ruhend auf dem Gesetze der Natur. Sie zu erlangen, bedarf es freilich der sittlichen Einsicht. Sie beruht auf der Selbstkenntnis, d. i. der Erkenntnis der menschlichen Natur (Γνῶθι σαυτόν Dio X 22. Iulian. VI 188 a. Weber 101). Der Kyniker stellt entgegen τύχῃ μὲν θάρσος, νόμῳ δὲ φύσιν, πάθει δὲ λόγον (Diog. 38), und die Herrschaft der Vernunft macht ihn gottähnlich; D. nennt sie geradezu den ‚Gott in uns‘ (Iulian. 196 d). Andrerseits wird die Rückkehr zur Natur sehr buchstäblich verstanden, bis hart an die Grenze der Vertierung. Die körperliche ἄσκησις, welche der Kyniker fordert, scheint geradezu diese zum Ziel zu haben. Er weiss sich, wie das Tier, jeder Jahreszeit und Witterung anzupassen. Er murrt über nichts, denn was Gott (d. i. das Naturgesetz) schickt, ist gut. Natur hat den Menschen wie ihre anderen Geschöpfe mit allem zum Leben Nötigen ausgerüstet (Dio VI 28. X 10. 11), nur er selbst schafft sich endlose Mühsal und Widerwärtigkeiten. Das naturgemässe Leben ist ungleich lustvoller als das künstliche Leben des Culturmenschen, der, in seiner Jagd nach Lust, elender lebt als die Tiere (Dio VI 12–20. 29. 33; οὐδεὶς ἄλλος συνίησι τῆς αὑτοῦ μάλιστα εὐδαιμονίας, 21. 42; ähnlich [771] Max. Tyr. ΙII 9. XXXVI 2; die Überwindung der künstlichen Lüste und Übernahme der natürlichen Beschwerden verschafft grade die höchste Lust, Diog. 71; so gilt vom Kyniker, was von den Göttern gesagt ist, dass ihnen ‚das Leben leicht wird‘, Dio VI 31. Diog. 44; vergleicht man hiermit Stob. flor. 103, 20. 21 und die bei Weber 260 angeführten Parallelen flor. Monac. 179 = Leid. 168. Mel. Augustana fol. 82 r cap. XXV, ferner Stob. 24, 14 [wohl zusammengehörig mit 18], so kann man auch wohl 9, 49 [46 H.] dem Kyniker nicht absprechen trotz der auffallenden Anklänge an Demokritos und Epikuros, derenwegen Usener Epic. 396 an den Smyrnaeer – weshalb nicht an den Epikureer aus Tarsos? – gedacht hat; wenn aber, so ist die Moral des D. ihrer Begründung nach ausgeprägt hedonistisch, was gewöhnlich übersehen wird; ein gewisser Einfluss der demokriteischen Ethik auf die kynische lässt sich auch sonst nachweisen). Nächst dem Tierleben dient als Beweisinstanz das Leben des Urmenschen (Dio VI 28. Max. Tyr. XXXVI). Er musste doch ohne Cultur leben können; durch das Zuviel von Sorge und Vorbedacht ist der Mensch verdorben worden (daher Prometheus mit Recht der Strafe verfiel, Dio 25. 29). Eine dritte Instanz bieten die Sitten barbarischer Völker, bei denen z. Β. Geschwisterehe, Essen von Menschenfleisch, Nichtbestattung der Toten nichts Unerhörtes ist (Weber 131; bei der Anführung aus dem Thyestes, Diog. 73, fällt die naturphilosophische Begründung auf, die ganz stoisch lautet). Wie man sieht, steht das äussere leibliche Leben des Menschen weit im Vordergrund des sittlichen Interesses bei D., wie es seinem naiven Sensualismus entspricht. Doch konnte der Kynismus seinen Lehrmeister, Sokrates, nicht so ganz vergessen, dass er nicht ausdrücklich das ‚Heil der Seele‘ als das eigentliche Ziel anerkannt und demgemäss die ἄσκησις der Seele über die des Leibes gestellt hätte (Diog. 70 und Stob. flor. 7, 18 [17 H.], wo statt εὐψυχία vielleicht εὐεξία oder εὐλυσία scil. τῆς ψυχῆς zu lesen ist). Nur die Tugend ist des Menschen Eigentum (Epiph. exp. fid. 1089 c. Epict. III 24. 68 sagt D. von Antisthenes: ἐδίδαξέ με τὰ ἐμὰ καὶ τα οὐκ ἐμά· κτῆσις οὐκ ἐμή, συγγενεῖς, οἰκεῖοι, φίλοι, φήμη, συνήθεις τόποι, διατριβή, πάντα ταῦτα ὅτι ἀλλότρια, das allein Eigene sei χρῆσις φαντασιῶν, wie nach Diog. 70 die ψυχικὴ ἄσκησις die ist, καθ’ ἣν ἐν γυμνασίᾳ συνεχεῖς γινόμεναι φαντασίαι εὐλυσίαν πρὸς τὰ τῆς ἀρετῆς ἔργα παρέχονται; man beachte auch hier die einfach sensualistische Grundanschauung). Der Philosoph ist demnach vorzugsweise ‚Arzt der Seelen‘ (Dio VIII 7. 8. Stob. flor. 13, 25 [43 H.]). Er begnügt sich nicht, das selbstverschuldete Elend der Menschen zu beklagen oder sie darob zu schelten, er will helfen (z. Β. Epict. III 24, 64. Weber 135). Er vergleicht seinen Kampf (μάχη) wider die Lüste und Begierden gern den olympischen oder isthmischen Wettkämpfen (Dio VIII. IX. Weber 137) oder den Arbeiten des Herakles (s. o.). Er ist der Diener (διάκονος Epict. 65), der abgesandte Bote des Zeus (ἄγγελος ἀπὸ τοῦ Διὸς ἀπέσταλται ehd. 22, 23), der Heiland, der Erlöser, der Prophet (Lucian. v. a. 8 ἐλευθερωτής εἰμι τῶν ἀνθρώπων καὶ ἰατρὸς τῶν παθῶν … [772] ἀληθείας προφήτης. Weber 202–208; hier freilich fragt es sich, ob wir nicht lediglich die Anschauungen des jüngeren Kynismus zu erkennen haben).

Übrigens bietet das Auftreten des D. mehr ein culturgeschichtliches, sociologisches als dogmengeschichtliches Interesse. Man fragt sich, wie in dem Hellas des 4. Jhdts., in Athen, ein Mann aufstehen konnte, der, nicht in vorübergehender Laune oder auf der Jagd nach Paradoxen, sondern mit dem Ernste einer durch sein ganzes Leben bethätigten Überzeugung die vorhandene Cultur für nichtig erklärt und zum Naturstand zurückzukehren, nicht blos die äusseren Bedürfnisse, sondern auch die Bedürfnisse des Geistes möglichst einzuschränken, die widersinnige Forderung stellt. Allein, wenn sonst nichts, so gäbe die zeitlich so nahestehende Erscheinung der Staatslehre Platons den Schlüssel. Hier wie dort dieselbe tiefe Überzeugung von der Unrettbarkeit der gegenwärtigen hellenischen Cultur; daher zahlreiche Berührungen auch im einzelnen, mag man nun von Kynismen Platons oder von Platonismen des Kynikers sprechen. Mit derselben radicalen Schärfe verurteilen beide die bestehende Staatsordnung, Eigentumsordnung, Ordnung des Geschlechtsverkehrs, die nationale Dichtung, die geltende Religion. Allerdings ist es ein grosser Unterschied: Platon verwirft nicht nur nicht die Wissenschaft, sondern baut nicht weniger als alles auf ihre Vollendung und die Durchdringung des ganzen, auch öffentlichen Lebens mit ihr; D. ist entschlossen, sie mit allen Schöpfungen der Cultur wegzuwerfen. So setzt Platon auch an die Stelle des bestehenden Staats einen andern, der nicht weniger, sondern weit mehr Staat ist, d. h. eine ungleich straffere Organisation, vollendetere ‚Einheit‘ und ‚Gemeinschaft‘ zeigt; D. sieht kein Heil als in dem völligen Bruch mit dem staatlichen Leben überhaupt. Der Naturstand soll zwar durch Menschenvernunft zum sittlichen Stand erhoben werden, aber ohne das Medium einer äusseren, staatlichen Ordnung. Platon steht gegen die überlieferte Cultur nicht, sofern sie Cultur, sondern sofern sie es viel zu wenig ist. Nicht das Zuviel von Vorsorge bekämpft er, wie D., sondern die gesetzlose Willkür, die sich den Schein der Ordnung giebt, den nur legalisierten inneren Krieg. Mit einem Wort, er denkt ebenso streng socialistisch, wie D. individualistisch (so Pöhlmann a. a. O.). Und die Stoa (Zenon) hatte mit ihrem Ausgleichsversuch hier so wenig Glück, wie überhaupt; der Widerstreit tritt nur um so schroffer zu Tage. Gerade neben Platon aber und im Unterschied von ihm begreift sich D. als Auflösungserscheinung, als fast naturnotwendiges Symptom einer rettungslos sinkenden Cultur. Übrigens lässt sich ein Zusammenhang dieses Unterschieds zwischen beiden Philosophen in ihrer sociologischen Stellung und Bedeutung mit dem Gegensatz ihrer metaphysischen (erkenntnistheoretischen) Überzeugungen nicht verkennen. Die Idee, zumal die des Guten, enthielt den Keim des (wenn auch bei Platon wenig ausgeführten) Gedankens eines unendlichen möglichen Fortschritts der von der Vernunft geleiteten menschlichen Entwicklung, während der beschränkte Sensualismus des D. (schon Bayle fand seine Widerlegung [773] der Argumente gegen die Realität der Bewegung durch den Augenschein sophistischer, als diese Argumente selbst) zur legitimen Consequenz den derben Naturalismus hatte. ‚Ich sehe den Tisch, aber nicht die Tischheit‘, soll D. gegen Platon gesagt haben. So, möchte man sagen, ahnte er auch nichts von ‚der‘ menschlichen Cultur, in der gesetzlichen Notwendigkeit ihrer Entwicklung, sondern sah nur diese gegebene; erwies sie sich unhaltbar, so fiel damit für ihn die Cultur überhaupt. Dass Platon dahin nicht gelangte, musste dem D. als Befangenheit in eben jenem Culturwahn erscheinen, über den er hinaus war. Dass er mit der unverkennbaren Eitelkeit seines äussern Auftretens, mit seiner Sucht zu witzeln und zu komodieren, mit der Drastik seiner ad-oculos-Beweise, mit der ganzen, dem Sokrates äusserlich abgeguckten unthätigen Strassenphilosophie weit mehr an der Zufälligkeit des Orts und der Zeit klebte, kam ihm selber freilich nicht zum Bewusstsein. Wie konnte er Rückkehr zur Natur auf den Märkten von Athen und Korinth suchen? Die bekannte Antwort, dass der Arzt eben die Hauptsitze der Krankheit aufsuchen müsse, entspricht wohl mehr dem Sinne des jüngeren Kynismus als des D. selbst. Bei seinem Urteil über die Menschen, konnte er zu ihrer Heilbarkeit kein grosses Vertrauen hegen. Er soll gestorben sein in sicherer Erwartung eines nah bevorstehenden allgemeinen Umsturzes. Schwerlich hat er ihn erwartet – von der Besserung der Menschen durch seine Predigt.

Bayle im Dict. Steinhart in Ersch und Grubers Encykl. Göttling Ges. Abh. I 251. Zeller Phil. d. Gr. II a⁴ 283. 288–336 passim. Mullach Fr. Ph. Gr. II 295–330.

[Natorp. ]