Sankt Michael/II

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Sankt Michael
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 40-52, S. 716–720, usw.
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Novelle – 16.–28. Fortsetzung
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


Sankt Michael.

Roman von E. Merner.
(Fortsetzung.)

[716] Hans Wehlau, der an jenem Abende klüglich die Nähe seines Vaters mied, hatte sich Michael’s bemächtigt und hörte mit augenscheinlichem Interesse einem kurzen Bericht desselben zu.

„Du hast sie also gesehen und gesprochen?“ fragte er gespannt.

„Gesehen – ja, gesprochen – nein. Die Gräfin stellte mich allerdings dem Fräulein von Eberstein vor, aber ich erhielt keine Antwort auf meine Anrede, nur einen ganz unglaublichen Knix. Es ist ja fast noch ein Kind und viel zu jung, um schon in die Gesellschaft geführt zu werden.“

„Mit sechzehn Jahren ist ein junges Mädchen kein Kind mehr,“ sagte Hans ärgerlich. „Wie hat sie Dir denn sonst gefallen?“

„Es ist ein sehr liebliches Gesichtchen. Von den Augen habe ich allerdings nichts gesehen, da sie hartnäckig gesenkt blieben, und es war auch nicht möglich, Rede und Antwort zu erhalten. Das kleine Burgfräulein, wie Du sie nennst, scheint doch etwas beschränkter Natur zu sein.“

Der junge Künstler sah seinen Freund mit einem Blick der tiefsten Verachtung an.

„Michael, an Deinem Geschmack habe ich stets gezweifelt; jetzt zweifle ich auch an Deiner Urtheilskraft. Beschränkt! Ich sage Dir, Gerlinde von Eberstein ist klüger als die Anderen all’ zusammen.“

„Das ist eine etwas gewagte Behauptung,“ sagte Michael trocken. „Du nimmst es ja gewaltig übel, wenn man ein Wort gegen die junge Dame sagt. Hast Du wieder einmal Feuer gefangen? Zum wievielten Male?“

„Davon ist diesmal gar keine Rede, mein Interesse an diesem holden kindlichen Geschöpf ist ein ganz selbstloses.“

„So?“

„Michael, ich verbitte mir dies spöttische: So?“ erklärte Hans gereizt. „Aber ich vergesse ganz, Dich Frau von Nérac vorzustellen, Clermont hat mich ausdrücklich darum ersucht.“

„Clermont? Ah so, der junge Franzose, dessen Haus Du öfter besuchst! Du wolltest mich ja auch einmal veranlassen, mitzugehen.“

„Und Du schlugst es mir ab, wie gewöhnlich.“

„Weil ich weder Zeit noch Neigung zu einer so ausgebreiteten Bekanntschaft habe, zumal in diesem Winter. Mit Dir ist das etwas Anderes, Du bist Künstler. Kennst Du diesen Clermont schon längere Zeit?“

„Nein, ich lernte ihn erst im Laufe des Winters kennen und wurde mit großer Liebenswürdigkeit eingeladen. Er und seine Schwester haben mich auch schon einige Male ersucht, Dich mitzubringen.“

Rodenberg stutzte bei den letzten Worten.

„Mich? Das ist seltsam; sie kennen mich ja gar nicht.“

„Gleichviel, es wird wohl Höflichkeit gewesen sein. Jedenfalls wirst Du in der jungen Wittwe eine interessante Frau kennen lernen, vielleicht auch eine gefährliche Frau.“

„Wirklich?“ Die Frage klang sehr gleichgültig.

„Nun, selbstverständlich nicht für Dich,“ spottete Hans. „Deine Eisnatur hält ja sogar der schönen Gräfin Steinrück Stand, ohne zu schmelzen, und Heloise von Nérac ist nicht einmal schön; trotzdem könnte sie ihr den Rang ablaufen an einer Stelle, die selbst die stolze Hertha empfindlich verletzen würde. Ich sprach Dir doch einmal die Vermuthung aus, daß Graf Raoul in ganz anderen Banden liege, als in denen seiner Braut – er ist ein täglicher Gast im Clermont’schen Hause.“

„Und Du glaubst, daß Frau von Nérac Antheil daran hat?“ fragte Michael plötzlich aufmerksam werdend

„Sehr wahrscheinlich. Jedenfalls macht der Graf ihr mehr den Hof, als es sich mit seinen Bräutigamspflichten verträgt. Wie weit die Sache geht, kann ich natürlich nicht – still, da ist er selbst!“

Raoul kreuzte in der That soeben ihren Weg, er kannte Hans Wehlau nur oberflächlich, trotzdem blieb er jetzt stehen und begrüßte ihn in der verbindlichsten Weise. Es sah fast aus wie eine Demonstration, denn während er angelegentlich mit dem jungen Künstler sprach und ihm Komplimente über die so äußerst gelungene Vorstellung machte, ignorirte er den Hauptmann Rodenberg, der dicht daneben stand, so andauernd und beharrlich, daß die Absicht unverkennbar war. Michael betheiligte sich mit keiner Silbe an dem Gespräche und schien ganz ruhig zuzuhören, aber er sah dem Grafen, als dieser sich, endlich entfernte, mit einem Blicke nach, der Hans veranlaßte, rasch, wie in erwachender Besorgniß, die Hand auf seinen Arm zu legen.

„Du wirst dieser Unart doch keine Wichtigkeit beilegen?“ fragte er, während sie weiter gingen. „Zwischen Dir und den Steinrück herrscht ja nun einmal Feindschaft –“

„Die hier einen sehr kindischen Ausdruck fand,“ ergänzte Michael. „Graf Raoul müßte es doch nun nachgerade wissen, daß ich mir dergleichen nicht bieten lasse.“

„Was meinst Du?“ fragte Hans unruhig, aber er erhielt keine Antwort, denn sie standen bereits vor Clermont und seiner Schwester und er mußte seinen Freund vorstellen.

Beide empfingen den Hauptmann mit vollendeter Artigkeit, und Henri trat ihm sofort seinen Platz neben Heloise ab, während er selbst Hans in Beschlag nahm. Er stellte über ein Gemälde, das ihnen gegenüber an der Wand hing, eine Behauptung auf, welcher der junge Künstler mit Lebhaftigkeit widersprach, blieb aber hartnäckig bei seiner Meinung, und endlich traten Beide vor das Bild, um dort den Streitpunkt zu entscheiden. Auf diese Weise erhielt Frau von Nérac die Freiheit, sich gänzlich ihrem Nachbar zu widmen, was sie auch mit großer Liebenswürdigkeit that.

Das Gespräch drehte sich anfangs noch um die Gesellschaft, und die junge Frau sagte unbefangen, während sie auf Hertha wies, die wieder den Mittelpunkt eines bewundernden Kreises bildete: „Gräfin Steinrück ist wirklich eine Schönheit ersten Ranges! Allerdings etwas sehr souverän; die ganze Gesellschaft liegt ihr zu Füßen, und sie nimmt das mit der Miene einer Fürstin hin, die den schuldigen Tribut empfängt. Ich bin überzeugt: sie wird auch dem künftigen Gemahl gegenüber ganz Herrscherin sein.“

„Die Frage ist nur, ob der Gemahl sich dieser Herrschaft beugt,“ warf Rodenberg ein.

„Einer schönen und geliebten Frau beugt sich der Mann immer! Sie scheinen freilich sehr unbeugsam zu sein.“

„Vielleicht bin ich nur ruhiger und nüchterner als Andere; denn ich pflege selbst schönen Frauen gegenüber die Besinnung zu behalten. Ich weiß allerdings nicht, wie Graf Steinrück in dieser Hinsicht veranlagt ist. – Sie kennen ihn ja wohl näher, gnädige Frau?“

„Er ist ein Freund meines Bruders, und da sehe ich ihn gleichfalls öfter.“

Die Antwort klang eben so harmlos wie die Frage; aber dabei kreuzten sich die Blicke der Beiden, der eine kühl beobachtend, der andere aufblitzend, wie im erwachenden Mißtrauen. Das dauerte freilich nur einen Augenblick, dann lächelte Heloise und ging mit einer leichten Wendung auf andere Dinge über.

Sie sprach viel und lebhaft, während Michael, der zwar kein elegantes, aber ein fließendes Französisch sprach, sich mehr auf das Zuhören beschränkte. Es war ein heiteres, zwangloses Geplauder, das alle möglichen Gegenstände berührte und bei keinem verweilte, aber trotzdem zu fesseln wußte. Politik, Tagesneuigkeiten, Kunst und Gesellschaft: das Alles wurde nur wie im Fluge gestreift, aber es waren sehr originelle Streiflichter, die darauf fielen, ein Blitzen und Sprühen von Gedanken und Bemerkungen, das etwas Blendendes hatte. Frau von Nérac war offenbar eine Meisterin in der Unterhaltungskunst.

Rodenberg hatte es auf den ersten Blick bemerkt, daß sie nicht schön war, aber nach fünf Minuten hatte er bereits begriffen, daß diese Frau der Schönheit nicht bedurfte, um gefährlich zu sein; schon in ihrer bloßen Nähe lag etwas Bestrickendes. Sie lehnte in ihrem Sessel mit jener unnachahmlichen Grazie, die [718] ihr eigen war, und spielte nachlässig mit dem Fächer – eine äußerst pikante Erscheinung, die durch die geschmackvollste Toilette noch mehr gehoben wurde. Ihr Lächeln war von bezaubernder Anmuth, und das Aufsprühen der dunklen Augen hatte einen fast dämonischen Reiz. Leider schien Hauptmann Rodenberg gegen diesen Zauber gänzlich unempfindlich zu sein; so oft die sprühenden Augen den seinigen auch begegneten, sie trafen immer wieder den kalten, forschenden Blick, und Heloise fühlte, daß es kein Blick der Bewunderung war.

Endlich hatten Clermont und Hans ihre Debatte beendigt Und traten wieder heran. Die Unterhaltung wurde noch einige Minuten lang gemeinschaftlich geführt, dann empfahlen sich die beiden jungen Männer, und Henri nahm wieder den Platz neben seiner Schwester sein.

„Nun, was ist’s mit diesem Rodenberg?“ fragte er. „Er war sehr einsilbig, so viel ich bemerken konnte. Du sprachst ja fast allein, vermuthlich ein schwerfälliger, pedantischer Deutscher.“

Heloise zuckte kaum merklich die Achseln.

„Den Mann gieb auf, Henri, ein für alle Mal. Der ist starr und unzugänglich wie ein Fels.“

Um die Lippen Clermont’s spielte ein halb spöttisches, halb verächtliches Lächeln.

„Unzugänglich ist Niemand; man muß nur die rechte Seite zu finden wissen, und gerade die Schroffsten sind am leichtesten zu nehmen.“

„Diesmal könntest Du Dich doch täuschen. Dieser Rodenberg hat etwas in der Haltung und in den Zügen, was mich unwillkürlich an den General Steinrück erinnert. Es ist dasselbe Eiserne, Unerbittliche, derselbe kalte, stahlharte Blick, wie bei dem alten Grafen – mir ist er unerträglich!“

„Mir ist er wichtig!“ sagte Henri trocken. „Hast Du ihn eingeladen?“

„Nein, und er würde auch schwerlich kommen; es müßte denn sein, um zu beobachten, wie er während der ganzen Unterredung beobachtet hat. Ich habe nicht Lust, diesen Augen noch einmal Rede zu stehen. Nimm Dich in Acht vor ihnen, Henri!“

Clermont schien kein besonderes Gewicht auf diese Warnung zu legen, denn er sah, daß Heloise übler Laune war, und kannte auch den Grund davon. Sie ertrug es nun einmal nicht, durch irgend Jemand in Schatten gestellt zu werden, und am heutigen Abende erblich jedes andere Gestirn vor der strahlenden Sonne, die Alles in ihren Bannkreis zog. Gräfin Hertha Steinrück feierte Triumphe, die selbst die verwöhnteste Eitelkeit befriedigen mußten. Wo sie nur erschien, umdrängte man sie von allen Seiten; wohin sie sich wandte, folgten ihr die bewundernden Blicke, und sie nahm die Huldigungen, die man ihr verschwenderisch zu Füßen legte, in der That wie eine Fürstin hin, gnädig, aber höchst souverän.

Raoul befand sich fast unausgesetzt an der Seite seiner Braut. Es schien ihm heut doch voll und ganz zum Bewußtsein zu kommen, wie hoch der Preis war, den er mühelos gewonnen, und die alte Neigung, die schon seit den Knabenjahren in ihm wurzelte, flammte wieder hell auf. Es war einer jener Wendepunkte, wo es in Hertha’s Hand lag, ihn zurückzugewinnen. Ein warmer Blick aus ihren Augen, ein herzliches Wort aus ihrem Munde hätte ihn vielleicht jenen gefährlichen Banden entrissen und eine Brücke über die Kluft geschlagen, die sich mit jedem Tage weiter zwischen ihnen öffnete. Aber auch heute lag wieder in ihrem Wesen jene für Fremde unmerkliche, eisige Abwehr, die ihn bis in das Innerste verletzte und erkältete und seinen ganzen Trotz wach rief.

Augenblicklich befand sich die junge Gräfin nicht im Saale, sondern im Zimmer der Frau von Reval. Sie war, wie alle bei der Vorstellung Mitwirkenden, im Kostüm geblieben, und der Schleier, der von ihrem Haupte niederfloß, hatte sich gelöst. Er mußte von Neuem befestigt werden, wobei ihr die Jungfer der Frau vom Hause hilfreiche Hand leistete. Die Sache war bald wieder in Ordnung gebracht und das Mädchen entlassen, aber Hertha, anstatt in die Gesellschaft zurückzukehren, saß noch im Armsessel und blickte träumend vor sich hin.

Die Wohnzimmer lagen auf der andern Seite des Hauses, getrennt von den Gesellschaftsräumen, und wurden heute nicht benutzt; sie waren nur matt erleuchtet, eine stille, angenehme Zuflucht für Jemand, der sich auf einige Minuten der Hitze und dem Gewühl entziehen wollte, und die junge Gräfin schien in der That ermüdet zu sein, ermüdet von Triumphen und Huldigungen.

Der heutige Abend war ja nur ein einziger fortgesetzter Triumph für sie gewesen, sie beugten sich Alle der siegreichen Macht ihrer Schönheit, Alle – bis auf Einen! Nur Einer wagte es, ihr zu trotzen; nur der allein behielt mitten im Sturme der Leidenschaft Kraft und Besinnung genug, das Netz zu zerreißen und sich „freie Bahn“ zu schaffen. War er doch auch heute so fremd und kalt an sie herangetreten, hatte so artig und eisig mit ihr gesprochen, als sei jene Stunde von Sankt Michael für ihn ausgelöscht und vergessen.

Um so lebhafter stand sie in Hertha’s Erinnerung. Der Zorn wallte noch immer heiß in ihr auf, wenn sie daran dachte, daß jener Mann es gewagt hatte, ihr ins Gesicht zu sagen, daß er sie für eine Kokette halte, daß er die Liebe zu ihr als etwas Unwürdiges aus seinem Herzen reißen werde. Aber mitten in der Empörung darüber erhob sich eine Stimme, die ihr zuflüsterte, daß er Recht gehabt! Ja, sie hatte ein rücksichtsloses Spiel mit ihm getrieben. Es war der Uebermuth einer vom Glück verwöhnten, von einer schwachen Mutter zur schrankenlosen Willkür erzogenen Natur, die es nur zu früh gelernt hatte, die Huldigungen der Männerwelt zu verachten oder mit ihnen zu spielen. Freilich, damals war sie noch frei gewesen! Das stolze, eigenwillige Mädchen erkannte jenen Familienbeschluß, der über ihre Hand verfügte, nicht als eine Fessel an; es stand ja bei ihr, Nein zu sagen, wenn die Entscheidung an sie herantrat. Statt dessen hatte sie Raoul ihr Jawort gegeben, freiwillig, ohne Zwang, allerdings auch ohne Liebe! Aber gab es denn überhaupt eine Liebe? Hatte sie es nicht selbst gesehen, daß eine große, glühende Leidenschaft, welche die ganze Seele eines Mannes auszufüllen schien, sterben und vergehen konnte in wenig Monaten?

Das Oeffnen der Thür des Nebenzimmers und nahende Schritte weckten Hertha aus ihrer Träumerei und mahnten sie, daß es Zeit sei, zu der Gesellschaft zurückzukehren. Sie wollte sich erheben, als eine Stimme, die nebenan ertönte, sie an ihren Platz fesselte.

„Hier sind wir ungestört! Ich werde Sie nur wenige Minuten in Anspruch nehmen, Graf Steinrück.“

„Sie wünschten mich allein zu sprechen, Hauptmann Rodenberg, ich stehe Ihnen zu Diensten,“ ließ sich jetzt auch Raoul’s Stimme vernehmen.

Hertha konnte die Eingetretenen nicht sehen und auch von ihnen nicht gesehen werden, aber sie lauschte betroffen. Was sie hörte, klang seltsam schroff und feindselig.

Jm Nebenzimmer standen sich in der That die beiden jungen Männer gegenüber mit einer Feindseligkeit, die keiner mehr zu verbergen sich bemühte, aber Raoul war erregt und gereizt, Michael kalt und ruhig, und das gab ihm von vorn herein eine Überlegenheit.

„Es handelt sich nur um eine Frage,“ nahm er wieder das Wort. „War es Zufall oder Absicht, daß Sie mich vorhin, als Sie mit meinem Freunde sprachen, so vollständig – übersahen?“

Um die Lippen des jungen Grafen spielte ein sehr verletzendes Lächeln, und noch verletzender war sein Ton, als er fragte: „Legen Sie so großen Werth darauf, von mir bemerkt zu werden?“

„Nicht den mindesten! Ich geize überhaupt nicht nach der Ehre, mit Ihnen bekannt zu sein. Da wir uns aber nun doch einmal kennen, so fordere ich, daß Sie mir gegenüber die Formen der guten Gesellschaft beobachten, die Ihnen allerdings nicht geläufig zu sein scheinen.“

„Herr Hauptmann Rodenberg!“ fuhr Raoul drohend auf.

„Herr Graf Steinrück?“ klang es eisig zurück.

„Sie scheinen mich zwingen zu wollen, von Beziehungen Notiz zu nehmen, die nun einmal für mich nicht vorhanden sind. Auf diese Weise werden Sie nichts erreichen.“

Michael zuckte verächtlich die Achseln.

„Ich glaube hinreichend gezeigt zu haben, welchen Werth ich auf die Beziehungen zu der gräflich Steinrück’schen Familie lege. Fragen Sie den General danach: er wird es Ihnen bestätigen. Aber ich bin nicht gesonnen, noch länger ein Benehmen zu dulden, das von Anfang an darauf berechnet war, mich zu beleidigen. Werden Sie dies Benehmen in Zukunft ändern? Ja oder Nein?“

[719] Die Frage klang so gebieterisch, daß Raoul ihn halb empört, halb verwundert anschaute.

„Das muß man gestehen, Herr Hauptmann, im Hochmuth leisten Sie das Aeußerste.“

„Es giebt Persönlichkeiten, die man nur mit ihren eigenen Waffen schlagen kann. Darf ich jetzt um Antwort bitten?“

„Ich bin es nicht gewohnt, auf einen solchen Ton Rede zu stehen,“ sagte der junge Graf stolz. „Am wenigsten dem Sohne eines Abenteurers und einer Mutter, die –“

Er kam nicht weiter, denn Michael stand bereits an seiner Seite, todtenbleich, aber mit flammenden Augen.

„Schweigen Sie, Graf Steinrück!“ herrschte er ihm zu. „Ein Wort gegen meine Mutter, ein einziges, und ich vergesse mich und schlage Sie zu Boden!“

„Mit den Fäusten?“ fragte Raoul höhnisch. „Ich bin an ritterliche Waffen gewöhnt.“

Die Mahnung fruchtete, Rodenberg trat langsam einen Schritt zurück und zwang sich gewaltsam zur Ruhe.

„Und doch sind Sie unritterlich genug, den Gegner mit Beleidigungen zu reizen, die kein Mann erträgt!“ sagte er bitter. „Ich habe diesen Ton nicht angeschlagen, aber ich sehe, daß wir die Unterredung für jetzt endigen müssen. Sie werden morgen Weiteres von mir hören.“

„Ich warte darauf,“ versetzte Raoul, und mit einem kurzen, hochmüthigen Gruße wandte er sich um und verließ das Zimmer.

Michael blieb zurück, er wollte nicht zugleich mit dem Grafen den Saal betreten. Finster, mit verschränkten Armen ging er einige Male auf und nieder und warf sich dann in einen Sessel.

Hertha war inzwischen regungslos auf ihrem Platze geblieben, aber ihr anfängliches Befremden hatte sich zur Besorgniß und endlich zum Schrecken gesteigert, als sie den Ausgang des Gespräches vernahm. Jetzt erhob sie sich und trat bleich, aber mit voller Entschlossenheit auf die Schwelle.

„Herr Hauptmann Rodenberg!“ sagte sie leise.

Er sprang auf, überrascht, erschrocken, denn in dem Moment, wo er sie erblickte, fiel es ihm auch ein, daß die Thür des Nebenzimmers offen geblieben war und daß man dort jedes Wort hören konnte – weder er noch Raoul hatten daran gedacht.

„Sie hier, Gräfin Steinrück?“ fragte er hastig. „Ich glaubte Sie doch soeben noch im Saale gesehen zu haben.“

„Nein, ich verweilte dort,“ sie deutete auf das Nebengemach, „und bin dadurch unfreiwillig Zeugin einer Unterredung geworden, die wohl nicht für fremde Ohren bestimmt war.“

Michael biß sich auf die Lippen. Also doch! Indessen er faßte sich und entgegnete in möglichst leichtem Tone:

„Wir glaubten allerdings allein zu sein, aber die Sache ist ja von keiner Bedeutung. Ich hatte eine kleine Differenz mit dem Grafen Steinrück, die in etwas erregter Weise zwischen uns erörtert wurde, aber zweifellos ausgeglichen wird.“

„Ist das wirklich so zweifellos? Das Ende des Gespräches schien eher das Gegentheil anzudeuten.“

Rodenberg vermied es, ihrem Blick zu begegnen, aber er erwiderte gelassen: „Unsere Unterredung war in der That auf dem Punkte, sehr gereizt zu werden, deßhalb brachen wir sie ab. Wir werden die Sache morgen ruhiger verhandeln.“

„Mit den Waffen in der Hand – ich weiß es!“

„Sie hegen ganz unnöthige Besorgnisse, davon ist gar keine Rede.“

„Halten Sie mich für so unerfahren, daß ich die Bedeutung Ihrer letzten Worte nicht verstehe?“ fragte Hertha gepreßt, indem sie dicht vor ihn hintrat. „Es war eine Herausforderung und die Annahme derselben.“

Michael schwieg, er sah, daß hier jedes Leugnen nutzlos war.

„Es war ein sehr unglücklicher Zufall, der gerade Sie zur Zeugin unseres Gespräches machte,“ sagte er endlich. „Dem Grafen wird das sicher ebenso peinlich sein wie mir, aber es ist nun einmal nicht zu ändern, so wenig wie die Sache selbst, und ich darf Sie daher wohl in unser Beider Namen um Schweigen ersuchen. Vergessen Sie, was nicht für Ihre Kenntniß bestimmt war!“

„Vergessen! Wenn ich weiß, daß Sie Beide sich morgen vielleicht schon auf Tod und Leben gegenüberstehen!“ brach Hertha mit vollster Heftigkeit aus.

Rodenberg sah sie befremdet, fragend an.

„Wir Beide? Für Sie kann doch nur die Gefahr Ihres Verlobten in Frage kommen. Es ist natürlich, daß Sie für ihn zittern; mein Tod wird die Gräfin Steinrück sehr gleichgültig lassen, sie muß ihn hier sogar wünschen, denn er bedeutet das Leben für meinen Gegner.“

Hertha antwortete nicht, sie hob nur langsam das Auge zu ihm empor. Es war ein seltsamer Blick, es lag etwas darin wie Vorwurf, und mehr noch: eine bebende Angst. Aber Michael verstand es nicht mehr, in diesen Augen zu lesen, oder wollte es nicht verstehen. Sollte das alte Spiel von Neuem beginnen? Er richtete sich plötzlich auf, und seine Haltung wurde so starr und unzugänglich, als stehe er bereits vor seinem Gegner.

Die junge Gräfin las vielleicht jenen Gedanken von seiner Stirn, denn eine dunkle Röthe überfluthete ihr Gesicht; sie trat hastig einige Schritte seitwärts, als wolle sie auch äußerlich einen Raum zwischen sich und ihn legen, und auch ihre Haltung wurde kalt und gemessen.

„Ist denn kein Ausgleich möglich?“ fragte sie, das Beben ihrer Stimme beherrschend.

„Nein!“

„Auch nicht, wenn ich mit meinem Verlobten spreche, wenn ich ihn bitte –“

„Sie werden nichts erreichen. Der Graf wird sich schwerlich bestimmen lassen, seine Worte zurückzunehmen, und darauf müßte ich unter allen Umständen bestehen. Ich bitte Sie überhaupt den Gedanken aufzugeben, solche Dinge vertragen nun einmal nicht die Einmischung einer Frau.“

„Aber eine Frau war doch die Veranlassung dazu, und jetzt will man ihr nicht einmal den Versuch zur Versöhnung gestatten?“ sagte Hertha mit Bitterkeit. „Sehen Sie mich nicht so verwundert, so fragend an; ich weiß es, weßhälb Sie den Streit gesucht haben, wie auch der Vorwand dazu lauten mag. Sie vergessen nie eine Beleidigung, Herr Hauptmann Rodenberg! Nie – das habe ich erfahren, und Sie rächen sich jetzt auf solche Weise dafür.“

Michael’s Gesicht verfinsterte sich, und seine Antwort klang in voller Schärfe: „Halten Sie mich in der That einer so niedrigen, gemeinen Rache fähig? Das glaube ich doch nicht verdient zu haben!“

„Und doch hassen Sie Raoul? Ich kenne den Grund nur zu gut –“

„Sie kennen ihn nicht!“ fiel er mit vollem Nachdrucke ein. „Sie täuschen sich vollständig darüber. Ich habe überhaupt den Streit nicht gesucht; wenn ich mich veranlaßt sah, den Grafen zur Rede zu stellen, so hat mich sein Benehmen dazu gezwungen. Von ihm ging die Feindseligkeit aus, die ich allerdings theile, aber sie wurzelt in Verhältnissen, von denen Sie keine Ahnung haben, und hat nichts zu thun mit jener Stunde in Sankt Michael!“

Es war das erste Mal, daß er diesen Punkt wieder berührte, aber der herbe Ton, die schroffe Haltung milderten sich nicht, als er jenen Namen aussprach – sie schienen nur noch härter zu werden. Nur seine Augen hafteten auf der jungen Gräfin, die heute in der That den Namen rechtfertigte, den Hans ihr gegeben: eine Märchenfee vom Märchenglanze umflossen!

Sie stand im vollen Lichtkreise der Lampe, die das Zimmer erhellte, und in diesem Lichte schimmert das halb mittelalterliche, halb phantastische Prachtgewand, ein kostbares Gemisch von schwerem Goldbrokat, leuchtendem Sammet und zarten, duftigen Schleiergeweben, in dem es überall funkelte und blitzte von Steinen und Geschmeide. Aber von dem Haupte, das ein sternartiges Diadem schmückte, floß noch ein anderer Schleier nieder und gleißte mit rothgoldigem Schimmer: das gelöste Haar, das heute frei und fessellos über die Schultern wogte, in seiner ganzen natürlichen Pracht, es wob sich wie ein Glorienschein um das schöne Antlitz.

Michael stand außerhalb des Lichtkreises, des Bannkreises, aber sein Blick flog doch hinüber. So hatte er sie vorhin im lebenden Bilde gesehen, auf steilem, unzugänglichem Felsen, und so stand sie jetzt vor ihm, die berückende Zaubergestalt der Sage. Auch ihm war ja einst das süße, verlockende Lied erklungen, und was ihn schreckte, das war nicht der Fels und nicht die Gefahr des Sturzes, das war der Preis selbst gewesen! Er wollte nicht [720] Leben und Heil wagen, um endlich vielleicht – einen Dämon zu umarmen. Mit der ganzen Kraft seines Willens hatte er sich losgerissen. Und doch ergriff ihn auch in diesem Augenblicke wieder jenes Gefühl, das schon damals aufgewacht war, als sei der eine selige Augenblick es werth, Leben und Heil und Zukunft dafür hinzuwerfen, als gelte der zerschmetternde Sturz ihm nicht, wenn er nur ein einziges Mal ein grenzenloses Glück in die Arme schließen und es sein nennen dürfe!

Aber während es so in seinem Innern wühlte und stürmte, stand er wie festgewurzelt, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Hertha sah nur die kalte, unbewegte Miene, hörte nur die herben Worte, und so klang ihre Antwort in dem gleichen Tone: „Seit jener Stunde sind wir Feinde geworden! Leugnen Sie es nicht, Herr Hauptmann Rodenberg! Wir brauchen uns die Wahrheit nicht zu verhehlen. Von Allem, was Sie mir damals so maßlos entgegenschleuderten, ist nur der Haß geblieben, das hätte ich bedenken sollen, als ich Ihre Versöhnlichkeit anrief – auf die Großmuth eines erbitterten Feindes darf man nicht rechnen.“

Michael ließ den Vorwurf schweigend über sich ergehen, ohne sich mit einer Silbe dagegen zu vertheidigen; nur seine Hand krampfte sich zusammen, und auf seinem Gesicht lag wieder die Blässe, die bei ihm stets das Zeichen der äußersten Erregung war.

„Und gegen wen sollte ich denn Großmuth üben?“ fragte er endlich. „Soll ich vielleicht den Grafen im Kampfe schonen, während ich weiß, daß ich von ihm die vollste Schonungslosigkeit zu erwarten habe? Zum Märtyrer bin ich nicht geschaffen! Aber noch einmal, Gräfin Steinrück, Sie thun mir Unrecht, wenn Sie mich einer kleinlichen, niedrigen Rachsucht zeihen. Geben Sie mir die Möglichkeit eines Ausgleiches, der sich mit meiner Ehre verträgt, und ich werde ihn annehmen. Aber ich glaube nicht an diese Möglichkeit, und wie der Ausgang der Sache auch schließlich sein mag: uns würde sie zu Feinden machen, wenn wir es nicht schon wären – und vielleicht ist es am besten so!“

Er warf noch einen Blick auf den hellen Lichtkreis, auf das schöne, schleierumwobene Haupt, dann verneigte er sich und ging. –

Das Fest hatte inzwischen seinen Fortgang genommen, aber Einzelne der Gäste brachen schon auf, und unter diesen die gräflich Steinrück’sche Familie, die stets spät zu kommen und früh zu gehen pflegte. Die Damen verabschiedeten sich bereits von Frau von Reval, als Michael, der eben allein durch den Saal schritt, plötzlich aufgehalten wurde.

„Hauptmann Rodenberg – auf ein Wort!“

Der junge Qfficier wandte sich überrascht um; es war das erste Mal, daß General Steinrück ihn heute einer Anrede würdigte.

„Ich stehe zu Befehl, Excellenz!“

Der Graf gab ihm einen Wink und trat mit ihm seitwärts.

„Ich wünsche Sie zu sprechen,“ sagte er kurz. „Morgen früh um neun Uhr in meiner Wohnung!“

Michael stutzte; er wußte nicht, wie er diese Worte nehmen sollte.

„Ist das ein dienstlicher Befehl, Excellenz?“

„Sehen Sie es als solchen an. Jedenfalls lasse ich keine Verhinderung gelten, welcher Art sie auch sei, und rechne unbedingt auf Ihr Erscheinen.“

Rodenberg verneigte sich schweigend. Der General trat noch näher an ihn heran und senkte die Stimme, während er fortfuhr: „Und wenn Sie zufällig in der Lage sein sollten, einen Entschluß fassen zu müssen, so ersuche ich Sie, das bis nach unserer Unterredung aufzuschieben. Ich werde sorgen, daß das Gleiche auch von – anderer Seite geschieht.“

„Mein Entschluß ist bereits gefaßt,“ sagte Michael kalt, „aber ich werde gehorchen.“

„Gut! Auf morgen denn!“

Steinrück wandte sich ab, und der Hauptmaun sah, daß er zu der Gräfin Hertha trat, die ihm rasch entgegen kam. Sie hatte also gesprochen, sie hatte, als ihre Einmischung versagte, eine andere Autorität angerufen, die man nun allerdings nicht so ohne Weiteres zurückweisen durfte; aber der Ausdruck in Michael's Gesicht, als ihm der Zusammenhang klar wurde, verrieth, daß er nicht gesonnen sei, sich dieser Autorität zu beugen.

Der General hatte inzwischen den Arm der jungen Dame genommen und führte sie zu ihrer Mutter; sie sprach keine Frage aus, aber ihre Augen fragten um so angstvoller.

„Sei ruhig, mein Kind!“ sagte er halblaut. „Ich habe die Sache in die Hand genommen. Du brauchst Dich nicht mehr zu ängstigen. Aber bedenke, daß sie ein Geheimniß bleiben muß; ich fordere Dein unverbrüchliches Schweigen.“

Hertha athmete tief auf und zwang sich zu einem Lächeln.

„Ich danke Dir, Onkel Michael! Ich vertraue Dir unbedingt – Du wirst es nicht zu einem Unglück kommen lassen!“

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Titel: Sankt Michael
aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 41, S. 734–736
Novelle – 17. Fortsetzung

[734] Es war in den Morgenstunden des nächsten Tages. Gräfin Hortense hatte sich soeben erst erhoben und saß beim Frühstück, als der Marquis von Montigny eintrat.

„Ich bin heute ein früher Gast, aber ich mußte gerade an Deinem Hause vorüber,“ sagte er, die Schwester begrüßend. „Du bist allein? Ich glaubte, das Frühstück würde hier gemeinschaftlich eingenommen.“

Hortense zuckte die Achseln.

„Davon kann keine Rede sein; mein Schwiegervater pflegt mit Tagesanbruch aufzustehen und hat gewöhnlich schon drei Arbeitsstunden hinter sich, wenn ich mich erhebe. Es ist etwas Entsetzliches um solche eiserne, rastlose Naturen, die niemals das Bedürfniß nach Ruhe empfinden.“

„Ich halte das eher für beneidenswerth, zumal im Alter des Generals,“ warf Montigny ein.

„Für ihn vielleicht, aber er glaubt das auch von Anderen verlangen zu können. Unser Hauswesen ist ja wie ein Kasernendienst geregelt, Alles geht nach militärischem Kommando und wehe dem Diener, der sich eine Unpünktlichkeit zu Schulden kommen läßt. Hat es doch einen förmlichen Kampf gekostet, mir wenigstens meine persönliche Freiheit zu wahren; ich habe das endlich durchgesetzt, aber der arme Raoul wird mit vollster Strenge gezwungen, sich diesen pedantischen Vorschriften zu fügen.“

„Ich fürchte, daß die Strenge bisweilen nothwendig ist; Raoul ist schwer zu bändigen,“ sagte Montigny trocken. „Du als Frau und Mutter weißt freilich nicht viel von Dingen, die ich schon während meines kurzen Aufenthaltes erfahren habe und die dem General jedenfalls bekannt sind. Es ist Zeit, daß Dein Sohn vermählt wird, Hortense!“

„Nun ja, er mag seinem Jugendübermuth die Zügel schießen lassen,“ lenkte die Gräfin ein. „Er ist nun einmal eine feurige, überschäumende Natur, die sich gegen Schranken und Regeln aufbäumt. Die Ehe wird all diesen Tollheiten ein Ende machen, und Hertha ist schön genug, ihn auf die Dauer zu fesseln. Du bewunderst sie ja auch, sie hat gestern wieder einen grenzenlosen Triumph gefeiert.“

„Und mit vollem Rechte! Beiläufig, Hortense, die Clermonts waren ja gestern auch in der Gesellschaft. Haben sie Beziehungen zu Herrn von Reval?“

„So viel ich weiß, hat Raoul sie dort eingeführt. Es gehört ja zum guten Ton, Zutritt im Reval’schen Hause zu haben.“

„So! – Raoul ist wohl sehr befreundet mit dem jungen Clermont?“

„Gewiß, und ich würde ihn und seine Schwester gern bei uns sehen, aber – da hast Du wieder einen Beweis von der unglaublichen Tyrannei meines Schwiegervaters – er verbietet es mir geradezu! Ich habe schon einmal eine Einladung, die ich auf Raoul’s Bitte erließ, unter dem nichtigsten Vorwande zurücknehmen müssen; er besteht mit unbegreiflicher Hartnäckigkeit darauf, die Clermonts aus unserem Kreise auszuschließen.“

Der Marquis war auf einmal aufmerksam geworden.

„Das ist seltsam! Welche Gründe hat Dir der General angegeben?“

„Gründe? Dazu läßt man sich mir gegenüber nicht herab. Man befiehlt oder verbietet einfach, und ich muß mich fügen.“

„Ich glaube, Du thust in diesem Falle gut, Dich zu fügen,“ sagte Montigny in einem so bedeutungsvollen Tone, daß die Schwester ihn überrascht und fragend ansah.

„Weßhalb? Hast Du auch irgend etwas gegen die Clermonts? Sie scheinen allerdings nicht in glänzenden Vermögensumständen zu sein; aber sie kamen mit den besten Empfehlungen hierher und gehören einer altadeligen Familie Frankreichs an.“

„Gewiß, das ist zweifellos.“

„Nun also – ich begreife Dich nicht, Leon!“

Der Marquis rückte seinen Sessel um einige Schritte näher und legte seine Hand auf den Arm der Gräfin.

„Hortense, ich bin gezwungen, Dir die Augen zu öffnen, denn Du scheinst in diesem Punkte völlig blind zu sein. – Du wünschest doch die Verbindung Raoul’s mit Hertha?“

„Ob ich sie wünsche? Ich setze ja meine ganzen Hoffnungen darauf! Diese Heirath bedeutet für Raoul Glanz und Reichthum und für mich die langersehnte Freiheit. Wie kannst Du nur so fragen!“

„Nun, dann rathe ich Dir, den Verkehr Deines Sohnes mit den Clermonts nicht zu begünstigen. Wie ich erfahren habe, ist er täglich dort, und – Frau von Nérac ist Wittwe.“

Hortensc stutzte, dann aber flog ein ungläubiges Lächeln über ihre Züge.

„Heloise von Nérac? Sie ist ja nicht einmal schön.“

„Aber gefährlich!“

„Doch nicht für Hertha! Eine Braut wie sie kann jeden Mann festhalten.“

„Wenn sie es will, gewiß, sie scheint aber nicht zu wollen. Die junge Gräfin hat ein ganz eigenthümliches Wesen ihrem Verlobten gegenüber; sie ist sehr abweisend – Frau von Nérac wird um so entgegenkommender sein.“

„Unmöglich!“ rief Hortense aus, in der jetzt auch die Besorgniß erwachte. „Raoul’s Vermählung steht ja in Kurzem bevor, er wird doch nicht die Tollheit, den Wahnsinn begehen, seine ganze Zukunft zu opfern, um dieser Heloise willen!“

„Er wäre nicht der Erste, den die Leidenschaft unzurechnungsfähig macht. Doch ich habe Dich nur warnen, nicht schrecken wollen. Ich hege vorläufig nur eine Vermuthung und an Dir ist es, Dir Gewißheit zu verschaffen. Aber sei vorsichtig, ein falscher Schritt könnte Alles verderben.“

Die Gräfin war bleich geworden, die angedeutete Möglichkeit war für sie allerdings schreckhaft, denn sie bedeutete das Scheitern all ihrer Pläne.

„Du hast Recht, das könnte ein Unheil geben,“ sagte sie hastig. „Ich danke Dir für den Wink, er soll befolgt werden.“

Montigny erhob sich, durchaus befriedigt von dem Erfolg der Unterredung. Der Diplomat hatte seinen Zweck erreicht, ohne irgend etwas von dem preiszugeben, was er nicht preisgeben durfte. Er wußte, Hortense würde jetzt ihre ganze mütterliche Autorität dransetzen, ihren Sohn jenem Umgange zu entreißen, und er glaubte hinreichend dafür gesorgt zu haben, daß Clermont sich in diese Nothwendigkeit fügte. Ob die ausgesprochene Vermuthung gegründet war oder nicht, kümmerte den Marquis sehr wenig; ihm kam es nur darauf an, seinen Neffen aus Beziehungen zu lösen, deren Verderblichkeit er am besten kannte. Er empfahl seiner Schwester noch einmal Vorsicht in der Behandlung der Angelegenheit und verabschiedete sich dann. – Inzwischen fand drüben im Arbeitszimmer des Generals eine andere Unterredung statt, deren Verlauf aber stürmischer war. Steinrück hatte sich gestern Abend darauf beschränkt, seinem Enkel vorläufig jeden weiteren Schritt zu verbieten. Erst heute Morgen hatte er ihn rufen lassen, und nun ergoß sich die volle Schale seines Zornes über den jungen Grafen.

„Hast Du denn jede Ueberlegnng, jede Besinnung verloren, daß Du gerade mit Michael Rodenberg Streit suchen mußtest?“ zürnte er. „Wenn es noch eine in der Aufregung, in der Uebereilung gefallene Beleidigung wäre, so ließe es sich begreifen; aber nach Allem, was ich von Hertha hörte, scheint Dein Benehmen ein planmäßiges und absichtliches gewesen zu sein.“

„Es war der unglücklichste Zufall von der Welt, daß Hertha im Nebenzimmer war!“ sagte Raoul, der finster und trotzig vor seinem Großvater stand, „und daß sie nun vollends auf den Einfall kam, es Dir mitzutheilen –“

„War das Vernünftigste und Klügste, was sie überhaupt thun konnte,“ unterbrach ihn der Graf. „Eine Andere hätte Dich mit Thränen und Bitten bestürmt, ohne irgend etwas zu erreichen, denn nachdem die Sache einmal so weit gediehen ist, kannst Du allein nicht mehr zurücktreten. Deine Braut wandte sich an mich, in der ganz richtigen Voraussetzung, daß ich allein hier eingreifen könne, und das wird auch geschehen. Das Duell darf unter keinen Umständen stattfinden.“

„Es ist eine Ehrensache, das lasse ich mir nicht verbieten!“ rief Raoul heftig, „und überdies ist es meine persönliche Angelegenheit.“

[735] „Das ist sie leider nicht, sonst würde ich ihr den Lauf lassen, denn Du bist kein Knabe mehr und mußt für Deine Handlungen einstehen. Dieser Streit aber berührt unsere Familieninteressen in der peinlichsten Weise. Hast Du denn nicht daran gedacht, daß dadurch Beziehungen aufgedeckt werden, die wir um jeden Preis geheim halten wollen?“

Der junge Graf sah betroffen seinen Großvater an. Daran hatte er allerdings nicht gedacht, und etwas kleinlaut erwiderte er:

„Ich glaube nicht, daß das die nothwendige Folge ist.“

„Es ist aber die sehr wahrscheinliche Folge! Das Duell, wie es auch ausfallen mag, richtet die allgemeine Aufmerksamkeit auf Euch Beide; man wird fragen und forschen, was denn der Grund gewesen ist, und da wird der Name Rodenberg die nöthige Erklärung liefern. Bis jetzt galt er für bedeutungslos, weil er mehrfach in der Armee vorkommt, und weil der Hauptmann uns als ein völlig Fremder gegenüberstand; jetzt wird man bald herausfinden, daß er das nicht ist, und sobald von Seiten seiner Kameraden oder Vorgesetzten eine ernste Frage an ihn ergeht, muß er die Wahrheit zugestehen. Du warst damals außer Dir bei der bloßen Möglichkeit einer solchen Entdeckung, und nun bist Du es, der sie muthwillig hervorruft.“

Die Wahrheit dieser Vorwürfe war so einleuchtend, daß selbst Raoul sich ihr nicht verschließen konnte.

„Ich habe vielleicht die ganze Tragweite nicht ermessen,“ sagte er unmuthig. „Man ist nicht immer Herr seiner Stimmung, und mich reizte der Hochmuth dieses Rodenberg. Thut er doch, als wäre er völlig meines Gleichen.“

„Ich fürchte, der Hochmuth war auf Deiner Seite,“ sagte Steinrück streng. „Ich habe schon einmal eine Probe davon erhalten, als Du hier mit Michael zusammentrafest; er mußte Dich damals geradezu zwingen, ihm die einfachste Höflichkeit zu erweisen, und das wird sich wohl bei Euren späteren Begegnungen wiederholt haben. Hast Du die Herausforderung provocirt oder nicht? Antworte!“

Raoul umging die Antwort, er erwiderte nur in wegwerfendem Tone:

„Konnte ich denn wissen, daß der Sohn des Abenteurers so empfindlich war im Punkte der Ehre? Er hat auch gerade Ursache dazu!“

„Hauptmann Rodenberg ist einer meiner Officiere, und an seiner Ehre haftet kein Makel; dessen wirst Du Dich gefälligst erinnern!“ Die Stimme des Generals hatte schneidende Schärfe. „Ich bitte mir aus, daß keine neue Beleidigung fällt, die den Ausgleich vollends unmöglich macht. Es ist gleich neun Uhr, Dein Gegner kann jede Minute kommen.“

„Hierher? Du erwartest ihn?“

„Gewiß, die Sache kann nur persönlich zwischen uns verhandelt werden. Er nahm widerwillig genug meinen Befehl an, aber er wird kommen und Dir ist es jetzt hoffentlich klar geworden, daß und warum dies Duell vermieden werden muß. Du warst der Beleidiger, Du wirst Dich zur Nachgiebigkeit bequemen müssen.“

„Das thue ich nie!“ fuhr Raoul auf. „Eher mag das Aeußerste geschehen.“

„Ich will aber dies Aeußerste nicht,“ sagte Steinrück kalt. „Ist Hauptmann Rodenberg da? Er soll eintreten.“

Die letzten Worte waren an den Diener gerichtet, der soeben Rodenberg melden wollte, und wenige Minuten später stand Michael im Zimmer.

Er grüßte den General, schien aber die Anwesenheit des jungen Grafen nicht zu bemerken, der seitwärts getreten war und ihm einen feindseligen Blick zuwarf.

„Ich habe Sie hergerufen, um die Angelegenheit zwischen Ihnen und meinem Enkel zu ordnen,“ nahm der General das Wort. „Dazu ist aber vor allen Dingen nothwendig, daß Sie wenigstens Notiz von einander nehmen. Ich bitte darum!“

Die Bitte klang wie ein Befehl, der auch befolgt wurde; die beiden jungen Männer grüßten sich, freilich in sehr gezwungener Weise, und dann erst fuhr der General fort:

„Hauptmann Rodenberg, ich habe erfahren – durch wen, thut hier nichts zur Sache – daß Sie sich von dem Grafen Steinrück für beleidigt erachten und dafür Genugthuung zu fordern beabsichtigen. Ist dem so?“

„Ja, Excellenz,“ lautete die ruhige Antwort.

„Der Graf ist selbstverständlich jeden Augenblick bereit, Ihnen diese Genugthuung zu geben, aber ich kann und werde das nicht zulassen. In jeder anderen Ehrensache würde ich die Regelung den Betheiligten selbst überlassen; bei dem eigenthümlichen Verhältniß aber, in dem Sie zu unserer Familie stehen, darf ein solcher Ausgang nicht stattfinden; Sie müssen das selbst einsehen.“

„Das sehe ich keineswegs ein. Wir haben dieses Verhältniß bisher so vollständig ignorirt, daß wir auch jetzt nicht verpflichtet sind, ihm Rechnung zu tragen, und Fremde sind überhaupt nicht davon unterrichtet.“

„Es wird aber kein Geheimniß bleiben, wenn es zu einer blutigen Entscheidung kommt. Das Publikum und die Presse pflegen alsdann die persönlichen Verhältnisse der Betreffenden einer sehr eingehenden Kritik zu unterziehen und werden die wahren Beziehungen bald genug heraus finden.“

Michael zuckte die Achseln.

„Das hätte Graf Steinrück bedenken sollen, als er eine solche Entscheidung provocirte. Jetzt ist es zu spät für derartige Rücksichten.“

„Das ist es nicht! Es soll und muß ein Ausgleich gefunden werden. Ich wiederhole Ihnen, was ich soeben meinem Enkel erklärt habe: das Duell darf unter keiner Bedingung stattfinden.“

Er sprach diese Worte mit vollster Entschiedenheit; sie brachten aber gar keine Wirkung hervor, denn die Antwort Rodenberg’s war noch entschiedener:

„Im Punkte der Ehre lasse ich mir keine Vorschriften machen, Excellenz. Wenn der Graf einen derartigen Befehl annimmt – ich thue es nicht!“

Raoul blickte ihn halb empört, halb erstaunt an. Er, der Sohn und Erbe des Hauses, hätte es nie gewagt, seinem Großvater so gegenüber zu treten, und dieser hätte auch niemals eine solche offene Verweigerung des Gehorsams geduldet; von Rodenberg nahm er sie hin. Wohl zog sich seine Stirn drohend zusammen, aber er ließ sich trotzdem zu einer Art von Erklärung herab.

„Ich bin Soldat wie Sie und werde Ihnen nichts zumuthen, was sich nicht mit Ihrer Ehre verträgt. – Sie glauben Ihrerseits keine Veranlassung zu dem Streite gegeben zu haben?“

„Nein.“

Steinrück wandte sichh zu seinem Enkel.

„Raoul, ich wünsche jetzt Deine Erklärung zu hören, ob das, was der Hauptmann als Beleidigung auffaßt, zufällig oder absichtlich geschah. Im ersteren Falle ist die Sache erledigt.“

Raoul kannte diesen Ton hinreichend, aber er dachte trotzdem nicht daran, den Ausweg zu benutzen, den man ihm ließ. Er hatte allerdings beleidigen wollen, und nur die Furcht vor dem Großvater hielt ihn ab, das offen auszusprechen; so hüllte er sich denn in ein trotziges Schweigen.

„Es war also Absicht!“ sagte der General langsam, aber mit schwerer Betonung. „Nun wohl, so wirst Du diese Beleidigung, diese muthwillige Beleidigung hier in meiner Gegenwart zurücknehmen.“

„Nimmermehr!“ brach Raoul aus. „Großvater, treibe mich nicht zum Aeußersten! Ich gehe, schon bis an die weiteste Grenze des Gehorsams, wenn ich mir vor meinem Gegner dergleichen sagen lasse; eine Demüthigung lasse ich mir nicht auferlegen. Hauptmann Rodenberg, ich stehe zu Ihrer Verfügung, bestimmen Sie Zeit und Ort!“

„Das wird noch heute geschehen,“ erklärte Michael. „Ich darf mich jetzt wohl entfernen, Excellenz?“

„Nein, Du bleibst!“ rief Steinrück, indem er plötzlich den fremden Ton fallen ließ und zwischen die jungen Männer, trat. „Ich muß Euch Beide wohl an etwas erinnern, was Ihr vergessen zu haben scheint. Ihr seid Blutsverwandte, und diese Blutsverwandtschaft will ich respektirt wissen. Fremde mögen in solchem Falle zur Pistole greifen; die Söhne meiner beiden Kinder haben ihren Streit auf andere Weise zu schlichten.“

„Großvater! – Excellenz!“ klang es mit dem gleichen Trotz von den Lippen Raoul’s und Michael’s, aber der General herrschte ihnen gebieterisch zu:

„Schweigt, sage ich, und hört mich an! Es ist eine Familiensache, die nicht vor die Oeffentlichkeit gehört, sondern einzig vor den Chef des Hauses. Ich bin Eure höchste Instanz, ich allein habe zu entscheiden, und ich verbiete Euch die Entscheidung mit den Waffen. Es ist mein Blut, das in Euch Beiden fließt, das [736] Ihr jetzt vergießen wollt, und das wird nicht geschehen. Ich fordere als Haupt der Familie, als Großvater unbedingten Gehorsam von meinen Enkelsöhnen!“

Sein Ton und seine Haltung hatten etwas so Gebietendes, daß jeder Widerstand unmöglich schien; das alte Familienhaupt der Steinrück wußte sich Gehorsam zu schaffen. In der That widersprach auch keiner der beiden jungen Männer. Raoul stand starr und gänzlich fassungslos, vor dem, was er hörte. „Meine beiden Enkelsöhne!“ und „mein Blut, das in Euch Beiden fließt!“ – das war ja eine Anerkennung in aller Form!

Auch Michael fühlte das, denn es blitzte auf in seinem Auge, aber es war kein freudiger Strahl, der daraus hervorbrach, und seine Haltung wurde nur noch unbeugsamer, doch er schwieg.

„Raoul ist der Schuldige, er gesteht, es selbst zu,“ nahm Steinrück wieder das Wort. „In seinem Namen erkläre ich Dir, Michael, daß er jede etwa gefallene Beleidigung zurücknimmt; dagegen wirst Du die schroffe Haltung aufgeben, die auch eine Art von Herausforderung ist. Genügt Dir das?“

„Wenn Graf Raoul es mir bestätigt – ja.“

„Das wird er thun – Raoul!“

Der junge Graf antwortete nicht. Er stand da, mit zusammengebissenen Zähnen, die Hand geballt, und schleuderte einen Blick des tiefsten Hasses auf seinen Gegner. Er war augenscheinlich entschlossen, dem Großvater Trotz zu bieten.

„Nun?“ fragte dieser nach einer Pause. „Ich warte.“

„Nein – ich will nicht!“ sagte Raoul aufbrausend, aber jetzt trat der General dicht vor ihn hin, das Auge fest auf ihn geheftet.

„Du mußt wollen, denn Du bist im Unrecht! Wäre Michael der Beleidiger gewesen, so würde ich das Gleiche von ihm verlangen, und er würde gehorchen; da Du es warst, so ist es an Dir, nachzugeben. Ich verlange nur ein einfaches Ja, nichts weiter. Wirst Du meine Worte bestätigen oder nicht?“

Raoul machte noch einen letzten Versuch, seinen Trotz zu behaupten, aber jene flammenden Augen schienen ihn förmlich zu bannen. Es war das Einzige, womit ihn der Großvater überhaupt zwingen konnte, aber er zwang ihn in der That damit. Noch einige Sekunden vergingen, dann preßte der junge Graf das verlangte Ja heraus, halb erstickt und fast unverständlich, aber es war gesprochen.

Michael neigte das Haupt.

„Ich ziehe meine Forderung zurück – die Sache ist erledigt.“

Steinrück athmete tief auf. Er war doch nicht ganz so eisern, als er sich zeigte. Dies Aufathmen verrieth, was er ausgestanden hatte bei dem Gedanken, seine beiden Enkel könnten sich wirklich auf Tod und Leben gegenüberstehen.

„Und nun reicht Euch die Hände,“ fuhr er in milderem Tone fort, „und erinnert Euch künftig daran, daß Ihr eines Stammes seid, wenn das auch nach wie vor der Welt ein Geheimniß bleiben muß.“

Jetzt aber war Raoul’s Gehorsam zu Ende; mit einem Ausdruck offener Feindseligkeit wandte er sich ab, doch auch Michael trat zurück.

„Ich bitte um Verzeihung, Excellenz, aber in diesem Punkte werden Sie uns wohl volle Freiheit lassen müssen,“ sagte er kalt. „Der Graf ist nicht zur Versöhnung geneigt, wie ich sehe, ich bin es auch nicht. Ich gebe ihm mein Wort darauf, daß ich keinen Anlaß zu einer Erneuerung des Streites geben werde – die verwandtschaftlichen Beziehungen lehnen wir wohl Beide mit der gleichen Entschiedenheit ab.“

„Weßhalb? Ist Dir meine Anerkennung noch nicht genug?“ fuhr Steinrück gereizt auf.

„Eine Anerkennung, die nur der Nothfall, die Furcht vor einem öffentlichen Skandal erzwang, die geheim bleiben soll, weil man sich ihrer vor der Welt schämt – nein, diese genügt mir nicht! Graf Raoul hat sein Lebelang die Liebe des Großvaters genossen; er kann sich auch seinem Befehle beugen; ich war von jeher der Ausgestoßene, Verleugnete; in jeder Stunde meines Lebens habe ich es fühlen müssen, daß die Steinrück mich als unebenbürtig betrachten und mich aus ihrem Kreise bannen, wie sie das noch heute thun. Hier an dieser Stelle haben Sie es mir erklärt, daß unsere Blutsverwandtschaft für Sie nicht vorhanden ist, und ich gebe Ihnen jetzt das Wort zurück. Ich will nicht heimlich als eine Gnade empfangen, was mein Recht ist vor aller Welt, und wenn Sie mich als Ihren Enkel anerkennen, ich werde Sie nie Großvater nennen – nie! – Und jetzt bitte ich den General Graf Steinrück, mich zu entlassen.“

Er sprach das mit voller Selbstbeherrschung; aber seine Stimme hatte einen Klang, daß Raoul überrascht und betroffen aufblickte, denn er glaubte seinen Großvater zu hören. Die Aehnlichkeit war in der That noch nie so deutlich hervorgetreten wie jetzt, wo die Beiden sich hochaufgerichtet gegenüberstanden. Der Blick, die Haltung, Alles zeugte von der eben verleugneten Blutsverwandtschaft, und auch die unbeugsame Härte zeugte davon, die der Enkel von seinem Großvater geerbt hatte. Er war dessen verjüngtes Ebenbild.

„So geh’!“ sagte der General herb und stolz. „Du willst nur den Vorgesetzten in mir sehen – Du sollst ihn künftig finden.“

Rodenberg grüßte ihn ünd grüßte auch seinen Vetter, dann ging er. Im Zimmer herrschte noch einige Minuten lang ein drückendes Schweigen, endlich trat Raoul näher.

„Großvater!“

„Was willst Du?“ fragte Steinrück, dessen Auge noch immer auf der Thür haftete, die sich längst hinter Michael geschlossen hatte.

„Ich glaube, Du hast jetzt eine hinreichende Probe von dem Hochmuthe Deines ‚Enkels‘ erhalten,“ der junge Graf sprach das Wort mit dem bittersten Hohne aus. „Es war wirklich großartig, wie er die Anerkennung zurückstieß, die Du ihm botest, und uns die Blutsverwandtschaft förmlich vor die Füße warf. Und vor dem Manne hast Du mich zu einer Demüthigung gezwungen!“

„Ja, dieser Michael ist wie von Eisen!“ murmelte Steinrück zwischen den Zähnen. „Der ist nicht zu zwingen, weder mit Güte noch mit Gewalt.“

„Und dabei gleicht er Dir zum Sprechen,“ fuhr Raoul fort, der in seiner Erbitterung und Gereiztheit gegen den Großvater die Gelegenheit nicht Vorbeigehen lassen wollte, ihn nun auch zu kränken. „Ich habe es früher nie bemerkt, aber vorhin, als er Dir gegenüberstand, war die Aehnlichkeit fast erschreckend.“

Der General wandte langsam das Auge von der Thür ab und richtete es auf seinen Enkel, aber es war ein räthselhafter Ausdruck darin.

„Hast Du das auch gefunden? – Ich wußte es längst!“

Raoul wußte sich diese Ruhe nicht zu deuten, er hatte eine zornige Abwehr, ein entschiedenes Verleugnen jener Aehnlichkeit erwartet. Der Graf bemerkte seinen erstaunten Blick, und rasch abbrechend sagte er in der alten, befehlenden Weise:

„Gleichviel! Der Streit zwischen Euch ist nunmehr ausgeglichen, und ich denke, auch Du wirst keine Lust haben, ihn wieder zu erneuern. Vermeidet Euch künftig, das wird Euch nicht schwer werden, und nun laß mich allein!“

Raoul ging, aber mit kochendem Grimm im Herzen. Wenn er bisher gegen Michael nur hochmüthige Abneigung empfunden hatte, so haßte er ihn jetzt mit der ganzen Gewalt seiner leidenschaftlichen Natur. Vielleicht hätte General Steinrück doch besser gethan, ihm jene Demüthigung nicht aufzuerlegen. Er hatte, damit das Tischtuch zwischen den beiden Vettern zerschnitten; das konnte nicht vergessen werden.

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Titel: Sankt Michael
aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 42, S. 750–752
Novelle – 18. Fortsetzung

[750] Hertha stand allein am Fenster ihres Zimmers und blickte unverwandt hinaus, aber sie sah nichts von dem fluthenden Leben und Treiben der großen Hauptstraße. Ihr Blick war mit angstvoller Beharrlichkeit nur nach der einen Richtung gewandt, wo die Wohnung des Generals lag. Dieser hatte versprochen, ihr noch im Laufe des Vormittags Nachricht zu geben. War es ihm wirklich gelungen, das Duell zu verhindern und einen Ausgleich herbeizuführen, so hätte sein Bote schon hier sein können; aber noch immer wollte die Steinrück’sche Livrée nicht auftauchen, und mit jeder Minute des Wartens stieg die qualvolle Unruhe der jungen Gräfin.

Da auf einmal fuhr sie auf und beugte sich dann weit vor. Sie hatte den General erkannt, der soeben um die Ecke bog. Er kam selbst, und, sie am Fenster gewahrend, winkte er ihr einen Gruß zu. Gott sei Dank, er lächelte! Das konnte keinen schlimmen Ausgang bedeuten!

Hertha trat vom Fenster zurück. Sie wagte es nicht, dem Grafen entgegenzueilen. Es durfte ja Niemand ahnen, daß irgend etwas Ungewöhnliches vorging. Erst als sie seinen Schritt im Nebenzimmer hörte, öffnete sie rasch die Thür und flog auf ihn zu.

„Du kommst selbst – Du bringst mir gute Nachricht?“

Die Frage klang athemlos gepreßt, wie in Todesangst, aber Steinrück sagte beruhigend: „Gewiß, mein Kind! Du brauchst Dich nicht mehr zu ängstigen. Die Sache ist beigelegt.“

Ein tiefer Athemzug der Erleichterung rang sich aus der Brust der jungen Gräfin empor.

„Gott sei Dank! Ich wagte es kaum zu hoffen!“

Der General warf einen prüfenden Blick auf ihr bleiches, überwachtes Antlitz; dann nahm er ihren Arm und führte sie in das Zimmer zurück, dessen Thür er schloß.

„Ich habe allerdings einen harten Stand gehabt mit den beiden Trotzköpfen,“ begann er wieder. „Keiner wollte nachgeben, Keiner dem Anderen auch nur einen Schritt entgegenkommen. Ich mußte schließlich meine ganze Autorität brauchen, um sie zur Vernunft zu bringen. Trotz alledem war die Sache nicht so ernst, wie Du sie genommen hast; ein paar unbedachte Worte Raoul’s, eine gereizte Erwiderung Rodenberg’s – das ist genug für zwei junge Hitzköpfe, um zu den Waffen zu greifen. Sie hätten am liebsten sofort auf einander losgeschlagen. Glücklicherweise erfuhr ich noch rechtzeitig genug davon, um Unheil zu verhüten.“

Er sprach in halb scherzendem Tone, aber Hertha sah und fühlte es, daß sein Lächeln wie seine Heiterkeit erzwungen waren. Sie täuschte er nicht damit; sie kannte den Ernst des Vorfalles, den er so leicht zu nehmen schien.

„Und Dir haben sie auch eine schlaflose Nacht damit bereitet, man sieht es Dir an,“ fuhr er fort. „Jetzt bereut es unsere spröde kleine Braut doch wohl, daß sie den armen Raoul gestern so unverzeihlich behandelt hat? Laß Dir das zur Warnung dienen, Hertha! Dergleichen erträgt kein Mann, auch von der geliebtesten Frau nicht.“

„Von ihr vielleicht am wenigsten! Aber glaubst Du denn, daß Raoul mich liebt?“

Der General stutzte bei dem bitteren Tone der Frage.

„Nun, ich dächte doch, er hätte um Dich geworben.“

„Nach dem Beschluß der Familie, nach Deinem ausdrücklichen Willen. Ich weiß, wie hoch ich diese Liebe ,auf Befehl‘ zu schätzen habe.“

„Und ist Dir denn das etwas Neues?“ sagte Steinrück ernst. „Hast Du es nicht von Anfang an gewußt? Ihr folgtet Beide einer Bestimmung, wie sie in unseren Kreisen üblich ist. Eine überflüssige Romantik haftet allerdings nicht an solchen Verbindungen; aber Du hast sie meines Wissens auch nie vermißt. Warum denn nun auf einmal diese Bitterkeit, dieser Vorwnrf gegen Raoul, den er Dir mit dem gleichen Rechte zurückgeben könnte?“

Die junge Gräfin schwieg; sie hatte keine Antwort auf dies forschende: Warum?

„Da regt sich wieder der alte böse Geist, der gebannt und gezwungen sein will,“ sagte der General mit einem flüchtigen Lächeln. „Ich habe das schon einmal thun müssen, in den ersten Wochen meiner Vormundschaft. Damals war ich genöthigt, mit voller Strenge aufzutreten, gegen ein verwöhntes, vergöttertes Kind, das nie einen anderen Willen gekannt hatte, als den seinigen. Du trotztest mit vollster Leidenschaftlichkeit, und Deine Mutter zerfloß in Thränen, weil ich hart blieb und auch sie verhinderte, Dir nachzugeben. Es war eine schlimme Scene. Aber als das Kind ausgetrotzt hatte, da kam es aus freien Stücken zu mir und legte die kleinen Arme um meinen Hals und sagte – weißt Du es noch, Hertha?“

Sie lächelte gleichfalls, und das Haupt an seine Schultern lehnend ergänzte sie:

„Ich habe Dich lieb, Onkel Michael! So sehr lieb!“

[751] Er beugte sich nieder und drückte einen Kuß auf ihre Stirn.

„Weil ich Dich zu zwingen verstand! Seitdem war ich Deiner Liebe sicher, und das versteht Raoul nicht. Ich glaube beinahe, der Ritter, den sich dies stolze eigensinnige Fräulein als Ideal träumt, müßte etwas vom Drachentödter an sich haben; sonst imponirt er seiner Dame nicht.“

„Er müßte Dir gleichen!“ rief Hertha aufflammend. „Dir, Onkel Michael, mit Deiner eisernen Kraft, Deinem unbeugsamen Willen, Deiner Härte sogar. Dich hätte ich lieben können, wenn ich Dich in Deiner Jugend gekannt hätte.“

Steinrück schüttelte lächelnd den Kopf.

„Willst Du einem Greise noch Schmeicheleien sagen? Freilich, Du bist eine von den Naturen, die erst erobert, erkämpft sein wollen; im Sturme willst Du gewonnen werden. Aber, mein Kind, das Schicksal läßt uns nur selten die Wahl in solchen Dingen: es zwingt uns seinen Willen auf. Du wirst das auch noch erfahren. Glaube mir, Raoul gilt hundert anderen Frauen als das Ideal von Ritterlichkeit und Liebenswürdigkeit; daß er nicht ganz das Ideal Deiner Träume ist, beunruhigt mich nicht mehr, seit ich weiß, daß Du ihn trotzdem liebst. Und – offen gestanden, Hertha – ich weiß das erst seit gestern Abend. Bis dahin zweifelte ich ernstlich an Deiner Neigung. Erst die Todesangst, mit der Du mich gestern zur Hilfe aufriefest, mit der Du heute meiner Nachricht entgegenharrtest, verrieth mir, wie Du um Raoul gezittert hast.“

In dem Antlitz der jungen Gräfin begann langsam eine tiefe Röthe aufzusteigen, und sie senkte das Haupt, ohne eine einzige Silbe zu erwidern.

„Mußte erst die Gefahr Deines Bräutigams Dir dies Zugeständniß entreißen?“ fuhr der General vorwurfsvoll fort. „Du hast bisher förmlich etwas darin gesucht, die spröde, kalte Braut zu spielen, und hast Dir Raoul dadurch immer mehr entfremdet. Zeige ihm nur einmal diese bebende Angst um sein Leben, wie Du sie mir jetzt zeigtest, und Du kannst von ihm Alles fordern, Alles erreichen; dafür bürge ich Dir.“

Die Röthe in dem Gesichte Hertha’s war zur dunklen Gluth geworden, und hastig, als wolle sie um jeden Preis dies Gespräch abbrechen, fragte sie: „Glaubst Du denn wirklich, daß diese Gefahr dauernd beseitigt ist?“

„Ja, die Beleidigung wie die Forderung sind in aller Form zurückgezogen, der Streit ist zu Ende.“

„Aber die Feindschaft ist es nicht! Ich konnte Dir gestern nur flüchtig das Vorgefallene mittheilen: Du weißt nicht, was für Worte gefallen sind, zumal von Seiten Raoul’s; sie galten allerdings nicht dem Hauptmann selbst, sondern seinen Eltern.“

„Ah, das war es also!“ murmelte Steinrück.

„Weißt Du irgend etwas Näheres darüber?“ fragte die Gräfin rasch.

„Ich weiß nur, daß an der persönlichen Ehre Rodenberg’s kein Makel haftet, und das ist mir genug. Wie nahm er die Aeußerung auf?“

„Wie ein gereizter Löwe! Er war geradezu furchtbar in dem Augenblick. Hätte Raoul noch ein einziges Wort gesprochen, ich glaube, er hätte ihn zu Boden geschmettert.“

Der General wurde aufmerksam bei dem leidenschaftlich erregten Tone, und ein befremdeter, fragender Blick streifte Hertha, die das nicht bemerkte; denn sie sprach mit flammenden Augen und glühenden Wangen weiter: „Rodenberg schien aufs Aeußerste gebracht zu sein. Er gebot Raoul Schweigen, mit einem Blick und Ton, wie ich sie nur einmal im Leben gesehen und gehört habe – bei Dir, Onkel Michael, als Dir damals in Berkheim der Wilddieb vorgeführt wurde, der unseren Förster erschossen hatte – ich glaubte Dich zu sehen!“

Steinrück hatte sich aufgerichtet; er erwiderte nichts auf die letzte Bemerkung, aber seine Augen hefteten sich starr mit einem seltsamen Ausdruck auf die junge Gräfin, als suche er irgend etwas in ihren Zügen zu enträthseln.

„Vielleicht hatte Raoul nicht Unrecht mit seinem Vorwurf,“ sagte er endlich langsam. „Wer weiß, was ihm von der Herkunft Rodenberg’s bekannt sein mag.“

„Um so unverzeihlicher war es, daß er diesen Punkt berührte,“ fuhr Hertha auf, mit einer Leidenschaftlichkeit, von der sie wohl selbst keine Ahnung hatte. „Du sagst es ja selbst, daß an der persönlichen Ehre des Hauptmanns kein Flecken haftet, und Raoul weiß das sicher eben so gut wie Du; deßhalb griff er ihn in seinen Eltern an. Das ist feig und heimtückisch, das ist eine Unwürdigkeit, das ist –“

„Hertha, Du sprichst von Deinem Verlobten!“ unterbrach sie der General rauh.

Hertha zuckte zusammen; die flammende Gluth erlosch, als ob ein Eishauch sie berührt hätte. Jetzt aber legte sich Steinrück’s Hand schwer auf die ihrige, und halblaut, aber dumpf und drohend fragte er:

„Für wen hast Du gezittert? Wem galt vorhin Deine Angst?“

Sie schwieg, obgleich sie es nur zu gut wußte; die Todesangst, die schlaflosen Stunden der letzten Nacht hatten ihr die Wahrheit zum Bewußtsein gebracht, aber kein Laut kam über ihre Lippen. Der Graf sah sie unverwandt an.

„Hertha, ich fordere Antwort! Willst Du oder kannst Du sie mir nicht geben? Ich denke doch, die Braut des Grafen Steinrück weiß, was sie sich und ihm schuldig ist.“

„Ja, sie weiß es!“ sagte Hertha tonlos, aber fest. „Fürchte nichts, ich stehe bei meinem Worte.“

„Das will ich hoffen!“ Er preßte ihre Hand so heftig in der seinigen, als wolle er sie zerbrechen; dann ließ er sie plötzlich fallen und erhob sich.

„Auf welche Zeit ist Eure Abreise festgesetzt?“ fragte er nach einer Pause.

„Auf den Anfang der nächsten Woche.“

„Gut. Ich wollte anfangs Deine Mutter bestimmen, noch hier zu bleiben; jetzt halte ich es für besser, daß Ihr sobald als möglich abreist. Dir thut – Luftveränderung noth. Und noch Eins, Hertha! Hätte Raoul es gesehen und gehört, wie Du vorhin von seinem Gegner sprachest, er wäre nicht von dem Duell zurückgetreten, und ich hätte ihm keinen Vorwurf daraus gemacht. Leb’ wohl!“

Er hatte kalt und finster gesprochen, und jetzt ging er, hochaufgerichtet wie immer; aber draußen im Vorzimmer blieb er doch stehen und legte einen Moment lang die Hand über die Augen. Wankte denn Alles, was er so stolz gebaut hatte, so fest gegründet glaubte?

„Er müßte Dir gleichen, in Deiner eisernen Kraft, Deinem unbeugsamen Willen, Deiner Härte sogar!“ Das Wort hatte den Grafen auf die Spur geleitet. Ja, es gab Einen, der ihm darin glich, Zug für Zug, und der verstand es vielleicht auch, das schöne trotzige Kind zu zwingen, wenn man ihm freies Spiel ließ. Das mußte verhindert werden, um jeden Preis! Hertha mußte fort aus dieser gefährlichen Nähe. Ihre Laune – denn etwas Anderes konnte und durfte es nicht sein – erlosch von selbst, sobald man ihr den Gegenstand entrückte. Sie war in keinem Falle ernst zu nehmen. Aber es traf den General doch schwer, daß die Gefahr gerade von dieser Seite kam, daß dieser Mann es war, der sein Werk bedrohte. Das hatte er nie für möglich gehalten. –

Zu derselben Vormittagsstunde saß Professor Wehlau in seinem Studirzimmer vor dem Schreibtische; aber er arbeitete heute ausnahmsweise nicht, sondern hatte sich in eine Zeitung vertieft, die etwas ihm sehr Mißfälliges zu enthalten schien; denn er saß wieder mitten in der „Donnerwolke“.

Das Blatt, das erste und angesehenste der Hauptstadt, brachte in der That einen längeren Artikel über „Sankt Michael“, das erste größere Werk eines jungen Künstlers, eines Schülers des Professor Walter, das in den nächsten Tagen öffentlich ausgestellt werden sollte. Der Kritiker, der es bereits im Atelier gesehen hatte, sprach sich mit einer wahren Begeisterung darüber aus und verfehlte nicht, dem Publikum mitzutheilen, daß das Gemälde bereits verkauft sei. Es sei für die Wallfahrtskirche von Sankt Michael bestimmt, wo es am Michaelsfeste mit aller Feierlichkeit installirt werden solle. Die letzte Bemerkung schlug nun vollends dem Fasse den Boden aus; der Professor zerknitterte wüthend die Zeitung.

„Das wird ja immer besser!“ grollte er. „Wenn sie jetzt schon anfangen, dem Jungen in solcher Weise den Kopf zu verdrehen, dann ist vollends nicht mehr mit ihm auszukommen. Großartiger mächtiger Entwurf – glänzende Durchführung – ein hochbedeutendes Talent, das zu den weitestgehenden Hoffnungen [752] berechtigt und – wahrhaftig, da steht es wieder! Der geniale Sohn eines berühmten Vaters – hol’ der Kuckuck all die Bewunderer und den Hans und den Michael dazu!“

Er warf das Blatt bei Seite und begann heftig im Zimmer auf und nieder zu gehen. Wehlau gehörte zu den Menschen, die es nun einmal nicht ertragen können, Unrecht zu haben. Er hätte eher behauptet, daß Weiß Schwarz sei, als zugegeben, daß sein Scharfblick, der sich in der Wissenschaft so untrüglich erwies, ihn mit Bezug auf den eigenen Sohn so gründlich getäuscht hatte. Hans sollte und mußte ein Windbeutel sein, der, da er nicht zum Schüler und Nachfolger des Vaters taugte, überhaupt für keinen ernsten Beruf tauglich war. Er hatte sich förmlich verrannt in diese Ansicht und hielt sie mit der ganzen Hartnäckigkeit seines Charakters fest. Hätte man in jenem Artikel seinen Sohn einen Stümper genannt, er würde trinmphirt haben. Daß man ihn ein Genie nannte, nahm er als eine Beleidigung auf, da es ihm selber Unrecht gab.

„Will mir der Mann da etwa weismachen, daß wirklich etwas in dem Jungen steckt?“ fuhr er noch grimmiger fort. „Es ist nicht wahr, sage ich! Ein Sausewind ist er, ein Hans Narr, der mit seinem Gesicht und seiner Liebenswürdigkeit den Kritiker bestochen hat, wie er alle Welt besticht. Der und Bedeutendes leisten! Mir soll er nicht damit kommen; ich setze keinen Fuß in sein Atelier, sehe kein einziges seiner Bilder an, und wenn zehn Kritiker sie loben und zwanzig Gräfinnen sie kaufen!“

Er hob wie zum feierlichen Schwur die Hand empor; da wurde die Thür geöffnet und der alte Gärtner, den Hans zugleich als Diener für sein Atelier benutzte, natürlich auch ohne den Vater um Erlaubniß zu fragen, erschien auf der Schwelle.

„Was giebt es?“ fuhr ihn der Professor in der übelsten Laune an. „Sie wissen doch, Anton, daß ich in meinen Arbeitsstunden nicht gestört sein will. Was wollen Sie?“

„Verzeihen der Herr Professor,“ versetzte der alte Mann mit angstvoller, verstörter Miene. „Ich komme aus dem Atelier, von dem jungen Herrn.“

„Das ist keine Entschuldigung. Künftig unterbleiben derartige Störungen – verstanden?“

„Aber, Herr Professor, es geht dem jungen Herrn ja so schlimm, so sehr schlimm – ich glaubte, er würde mir unter den Händen sterben!“

„Was?“ fuhr Wehlau erschrocken auf. „Was fehlt denn meinem Sohne?“

„Ich weiß nicht. Ich arbeitete im Garten, da öffnete er das Fenster und rief mich, und als ich hereinkam, lag er da wie ein Halbtodter. Es war ihm plötzlich übel geworden, sterbensübel. Er hatte kaum noch so viel Kraft, zu sagen: ‚Rufen Sie meinen Vater!‘ Da lief ich, Hals über Kopf, um Sie zu holen.“

„Um des Himmels willen, der Junge ist ja bisher gesund gewesen wie der Fisch im Wasser!“ rief Wehlau, der schon zur Thür hinaus geeilt war. Vergessen war Groll und Aerger, vergessen der eben geleistete Schwur, das Atelier nicht zu betreten. Er eilte spornstreichs durch den Garten und Anton ihm nach.

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Titel: Sankt Michael
aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 43, S. 765–768
Novelle – 19. Fortsetzung

[765] Als Professor Wehlau und der Gärtner die Thür des Pavillons öffneten, bot sich ihnen ein sehr bedenklicher Anblick. Der junge Künstler lag im Armstuhl, das Haupt matt zurückgesunken, die Augen geschlossen; er hatte die Hand auf die Brust gepreßt, die schwer und mühsam zu athmen schien. Von seinem Gesichte konnte man nicht viel sehen, da der schwere Fenstervorhang völlig herabgelassen war und eine Art Halbdunkel in jenem Theile des Raumes herrschte.

Der Professor trat mit wenigen Schritten auf seinen Sohn zu und beugte sich zu ihm nieder.

„Hans, was ist Dir? Du wirst doch nicht etwa krank werden? Das ist die einzige Dummheit, mit der Du Dich bisher noch nicht abgegeben hast, und das verbitte ich mir! So rede doch wenigstens.“

Hans öffnete matt die Augen und sagte mit halbgebrochener Stimme:

„Bist Du da, Papa? Verzeih, daß ich Dich rufen ließ, ich glaubte –“

„Aber was fehlt Dir denn eigentlich?“ Der Professor wollte angstvoll nach dem Puls seines Sohnes greifen; aber dieser zog zufällig in demselben Augenblick den Arm zurück und legte ihn unter den Kopf.

„Ich weiß nicht – ich bekam auf einmal heftigen Schwindel – und dann Beängstigungen, und dann vergingen mir die Sinne – es war ein furchtbarer Zustand.“

„Das kommt von dem verwünschten Malen, von der verdammten Farbenkleckserei!“ rief Wehlau in heller Verzweiflung. „Anton, öffnen Sie die Fenster, lassen Sie frische Luft herein! Holen Sie Wasser – schnell!“

Damit griff er nach dem linken Arm des Kranken, der wieder dasselbe Manöver ausführen wollte. Aber diesmal war der Vater schneller als Hans, erwischte das Handgelenk und hielt es fest.

„Was ist denn das? Dein Puls geht ja ganz normal?“ fragte er argwöhnisch und riß zugleich mit einem raschen Griffe den Fenstervorhang herab. Das Tageslicht strömte blendend herein und beleuchtete das Antlitz des jungen Mannes, das eben so frisch und blühend aussah wie gewöhnlich; die leidende Miene täuschte den erfahrenen Arzt auch nicht einen Augenblick.

„Junge, das ist wieder eine von Deinen Teufeleien!“ brach er los. „Gnade Dir Gott, wenn Du mir eine Komödie vorgespielt hast, nur um mich in Dein Atelier zu bringen!“

„Du bist aber doch nun einmal drinnen, Papa!“ rief Hans, der einsah, daß er die Patientenrolle nicht länger fortführen konnte, und nun rasch aufsprang. „Und Du wirst sicher nicht wieder gehen, ohne wenigstens einen Blick auf meinen ‚Sankt Michael‘ zu werfen. Da steht er, drüben an der Wand, Du brauchst Dich nur umzuwenden.“

Die Bitte klang sehr inständig, aber Wehlau wendete sich nicht um, sondern schritt gradewegs auf die Thür los.

„Denkst Du mich auf solche Weise zu zwingen? Ueber Deinen heimtückischen Streich reden wir noch später. Jetzt gieb die Thür frei!“

Hans schlug, anstatt zu gehorchen, dem alten Anton, der soeben mit Wasser zurückkehrte und ein höchst verblüfftes Gesicht machte, die Thür vor der Nase zu und drehte den Schlüssel um.

„Das hilft Dir alles nichts, Papa, hinaus kommst Du nicht! Hier ist mein Reich; ich habe Dich in aller Form gefangen genommen und gebe Dich nicht wieder los – sieh Dir das Bild an!“

Das war dem Professor denn doch zu stark. Das Ungewitter, das sich schon während der letzten Minuten angesammelt hatte, brach jetzt los mit Blitz und Toben, aber Hans blieb ganz ungerührt dabei und entwickelte zugleich ein strategisches Talent, das seinem Freunde Michael Ehre gemacht hätte. Unter fortwährendem Parlamentiren drängte er seinen wüthenden Papa immer weiter von der Thür zurück und immer mehr nach der Hauptwand des Ateliers, wo das Gemälde aufgestellt war, bis er ihn glücklich in dessen unmittelbare Nähe gebracht hatte; dann faßte er ihn urplötzlich an den Schultern und drehte ihn herum.

„Hans, ich sage Dir, wenn Du Dich noch einmal unterstehst –“

Wehlau verstummte plötzlich mitten in der Rede, denn er hatte unwillkürlich doch einen Blick auf das Bild geworfen. Er sah zum zweiten Male hinüber, stutzte dann und trat langsam näher.

In den Augen des jungen Künstlers blitzte es triumphirend auf. Jetzt war er seiner Sache sicher, aber er stellte sich doch wie ein Wachposten hinter dem Vater auf, um diesem einen etwaigen Rückzug abzuschneiden; doch der Professor dachte nicht mehr daran. Er stand wie gebannt vor der Leinwand und blickte unverwandt darauf hin.

„Es ist mein erstes größeres Werk, Papa,“ hob Hans jetzt in seinem sanftesten, einschmeichelndsten Tone an. „Ich konnte es doch unmöglich in die Welt hinausschicken, ohne es Dir zu zeigen. Du darfst mir nicht böse sein wegen der Kriegslist, mit der ich Dich hierher lockte: es war die einzige Möglichkeit, Dich in mein Atelier zu bringen –“

„Schweig’ still und störe mich nicht, damit ich das Ding in Ruhe anschauen kann!“ schnaubte ihn Wehlau zornig an und suchte den besten Standpunkt für die Betrachtung zu gewinnen.

So vergingen einige Minuten; dann ließ der Professor ein Brummen hören, das halb grimmig und halb zustimmend klang. Endlich sah er sich nach seinem Sohne um und fragte halblaut:

„Und Du willst mir wirklich einreden, daß Du das Zeug da ganz allein zu Stande gebracht hast?“

„Gewiß, Papa.“

„Das glaube ich nicht!“ sagte Wehlau kurz und bündig.

„Aber Du wirst mir doch mein eigenes Werk nicht abstreiten wollen. Wie gefällt es Dir?“

Der Professor ließ wieder sein Brummen hören, aber diesmal klang es schon verheißungsvoller.

„Hm, das Ding ist gar nicht so übel – hat wenigstens Kraft und Leben – wo hast Du denn den Entwurf her?“

„Aus meinem Kopfe, Papa.“

Wehlau sah erst das Bild, dann seinen Sohn an, in dessen Kopfe, seiner Ansicht nach, nur Narrenspossen steckten und der [766] eben wieder diese „schändliche“ Komödie ausgeheckt hatte. Die Sache schien ihm völlig unbegreiflich.

„Das Hauptverdienst bei der ganzen Geschichte hat eigentlich Michael,“ fuhr der junge Künstler lachend fort. „Er ist mir ein unschätzbares Modell gewesen. Allerdings habe ich Mühe und Noth gehabt, ihn in die rechte Stimmung zu bringen; aber einmal gelang es mir doch, ihn so gründlich zu ärgern, daß er losbrach in voller Wuth; da packte ich den Ausdruck und hielt ihn fest. Aber ich warte noch immer auf Dein Urtheil über die Farbenkleckserei.“

In dem Gesichte des Professors zuckte es merkwürdig; er hatte augenscheinlich die größte Lust, wieder zu seinem Grolle und seiner Erbitterung zurückzukehren, aber es ging nicht, und so sagte er denn endlich in halb versöhnlichem Tone: „Aber in Zukunft malst Du keine Altarbilder mehr, das verbitte ich mir!“

„Nein, Papa, zunächst male ich die Naturwissenschaft in Lebensgröße in der Person unseres berühmten Forschers. Wann willst Du mir zu einem Portrait sitzen?“

„Laß mich in Ruhe!“ brummte Wehlau.

„Das ist nur eine halbe Zusage, ich verlange eine ganze. Wollen wir morgen mit den Sitzungen beginnen?“

„In des Kuckucks Namen, ja – wenn es durchaus nicht anders geht.“

„Viktoria!“ rief Hans und umarmte stürmisch den Vater; aber der Professor sträubte sich gar nicht dagegen, im Gegentheil, er hielt ihn fest, und in die hellen, sonnigen Augen seines Sohnes blickend, sagte er mit aufbrechender Herzlichkeit:

„Junge, zum Gelehrten taugst Du nicht, das habe ich nun nachgerade eingesehen; aber vielleicht wird doch noch etwas Vernünftiges aus Dir, trotz alledem!“


In Sankt Michael wurden die Vorbereitungen zu dem morgen stattfindenden Michaelsfeste getroffen, welches diesmal durch die Einweihung des neuen Altarbildes noch einen besonderen Glanz erhalten sollte. Die Wallfahrtskirche prangte schon im vollen Festschmucke, und in dem kleinen, sonst so stillen Alpendorfe herrschte gleichfalls ein freudiges, festliches Leben. Es galt ja, die Tausende von Wallfahrern zu empfangen, die morgen aus allen Theilen des Gebirges herbeiströmen würden, um in dem alten Heiligthume des Erzengels ihre Andacht zu verrichten; man war am Vorabende des Festes noch nicht mit all den Zurüstungen fertig geworden.

Dieser Vorabend hatte auch dem Pfarrer eine ebenso unerwartete wie freudige Ueberraschuug gebracht. Sein einstiger Schüler, Hauptmann Rodenberg, war ganz plötzlich, ohne vorherige Anmeldung eingetroffen, und die Freude des Greises darüber hatte etwas Rührendes.

„Das war eine Ueberraschung!“ sagte er, die Hand des Ankömmlings noch immer in der seinigen haltend. „Ich hätte mir eher alles Andere träumen lassen, als Dich um diese Zeit hier zu sehen.“

„Ich habe auch nur einen einzigen Tag zur Verfügung,“ versetzte Michael. „Ich muß übermorgen wieder in M. sein, wohin ich meinen Vorgesetzten, den Oberst Fernau, in einer dienstlichen Angelegenheit begleitet habe. Es gelang mir, noch drei Tage Urlaub zu erhalten, und da machte ich schleunigst den kleinen Umweg, um Sie wenigstens zu sehen, Hochwürden.“

Valentin schüttelte lächelnd den Kopf.

„Das nennst Du einen kleinen Umweg? Es ist fast noch eine Tagereise von M. bis hierher. Du mußt allein fünf Stunden durch das Gebirge fahren. Aber es freut mich doch, daß Dein alter Lehrer Dir noch so viel gilt. So habe ich wenigstens Dich am Michaelsfeste; denn meine leise Hoffnung, daß Hans kommen würde, hat sich nicht bestätigt.“

„Er wäre gern gekommen, aber er glaubte sein Fortbleiben dem Vater schuldig zu sein, der es schon schwer genug empfindet, daß der Name Hans Wehlau in eine so enge Verbindung mit einem Kirchenfeste gebracht wird. Sie wissen ja –“

„Ja, ich kenne die Stellung meines Bruders der Kirche gegenüber hinreichend,“ sagte Valentin mit einem halbunterdrückten Seufzer. „Dem Hans aber habe ich eine ernste Abbitte geleistet, als sein ,Sankt Michael’ hier eintraf. Ich hätte unserem Leichtfuß, unserem Uebermuth nie die Kraft und Tiefe für ein derartiges Werk zugetraut; ich erkannte ihn gar nicht wieder darin.“

„Sie haben ihm Alle Unrecht gethan, und am meisten der eigene Vater!“ fiel Michael mit voller Wärme ein. „Nur ich, der das Bild von der Skizze an entstehen und wachsen sah, wußte, was es versprach. Uebrigens hat es dem Hans Triumphe genug bereitet in den vier Wochen, wo es öffentlich ausgestellt war. Es wurde sofort zu einem Hauptanziehungspunkte für das Publikum und rief einen förmlichen Sturm der Bewunderung hervor; die Kritik lobte es mit einer seltenen Einmüthigkeit, und man hat das Möglichste gethan, seinen Schöpfer mit Schmeicheleien zu verwöhnen. Zum Glück ist er eine von den unverdorbenen Naturen, denen das nicht schadet und wohl auch in Zukunft nicht schaden wird. Das Gemälde ist bereits an Ort und Stelle?“

„Schon seit vorgestern. Es ist ein schöner und kostbarer Schmuck, den die Gräfin unserem Gotteshause zugewandt hat. Sie beabsichtigte, selbst der Einweihung beizuwohnen, und ist deßhalb eigens von Berkheim nach Schloß Steinrück gekommen.“

„Dann kommt sie also morgen hierher?“ fragte Michael mit einem plötzlichen Aufzucken.

„Nein, sie ist leider erkrankt. Das rauhe, stürmische Wetter des Reisetages scheint ihr eine Erkältung zugezogen zu habeu, jedenfalls ein ernsteres Unwohlsein, sie sandte mir deßhalb –“

Sie wurden unterbrochen, denn jetzt erschien der Meßner, äußerst eilfertig, äußerst geschäftig und mit einer Menge von Mittheilungen und Anfragen in Bezug auf das Fest. Hochwürden sollten überall selbst entscheiden, besichtigen, anordnen; es gab noch unendlich viel zu thun.

„Ich glaube, ich darf Sie jetzt nicht länger in Anspruch nehmen,“ sagte Rodenberg. „Der Herr Pfarrer scheint überall nothwendig und unentbehrlich zu sein. Ich gehe inzwischen nach der Kirche, um zu sehen, wie Sankt Michael sich in seiner jetzigen Umgebung ausnimmt. Hoffentlich haben wir am Abend einige ruhige Stunden für uns.“

„Ich fürchte, das wird kaum der Fall sein. Du weißt ja noch gar nicht – ich wollte es Dir schon vorhin sagen, aber –“

Der Pfarrer kam wieder nicht zu Ende mit seiner Mittheilung; denn jetzt trat die alte Kathrin ein, mit einem ganzen Arm voll Guirlanden von Tannenzweigen, und begehrte zu wissen, wo sie angebracht werden sollten; gleichzeitig erschien noch ein junger Bauernbursche mit einer anderen ebenso wichtigen Anfrage, und der Meßner stand wartend da. Valentin wußte nicht mehr, wo ihm der Kopf stand.

Michael verabschiedete sich und schlug den wohlbekannten Weg nach der Wallfahrtskirche ein. Es war im Anfange des Mai, und das Hochgebirge zeigte sich in der ganzen herben Schönheit der ersten Frühlingstage, die hier so spät einzogen.

Die Adlerwand stand noch eisumgürtet da, in blendender, krystallener Pracht; aber schon stürzten die Gletscherbäche, die der Sonnenstrahl dort oben entfesselt hatte, brausend und schäumend in die Thäler nieder, und die dunklen Tannenwälder, die sich tiefer unten an ihre Felsenbrust schmiegten, hatten die Schneelasten bereits abgeschüttelt. Auch von den Alpen und Matten, die Sankt Michael umgaben, war der Schnee hinweggeschmolzen: sie lachten im frischen, sonnigen Grün, und auch hier rieselten und rauschten von allen Höhen die Wasseradern, als sei die ganze Bergwelt lebendig geworden. Aber über Höhen und Thäler, über Matten und Wälder brauste der Frühlingssturm und brachte ihnen seinen wilden, verheißungsvollen Gruß, aus dem es wie Siegesjauchzen hervorklang.

Michael trat in die Kirche, die jetzt zur Abendstunde völlig leer war, aber sie trug schon ihr bescheidenes Festgewand. Hier oben in dieser einsamen Höhe gab es kein Frühlingslaub und keine duftende Blüthenpracht; nur das ernste dunkle Tannengrün umkränzte Pforten und Pfeiler, und kleine Sträußchen von Alpenblumen, den ersten, die sich auf den Matten hervorgewagt hatten, bildeten den einzigen Schmuck der Altäre. Dennoch war es so feierlich, so frühlingsduftig in dem weiten stillen Raume, den nur das goldene Licht der Abendsonne erfüllte. Das Gotteshaus mochte einen festlicheren Anblick bieten, wenn sich die andächtige Menge dort drängte; aber es war so viel schöner in der tiefen [767] weihevollen Ruhe, mit der es seinem Feste entgegenharrte, noch unberührt von all den Wünschen, Bitten und Klagen, die morgen aus seinem Schoße emporsteigen sollten. Kein fremder Laut störte diese Ruhe; selbst das Brausen des Sturmes draußen, der sich in einzelnen langgezogenen Tönen vernehmen ließ, klang wie ferner Orgelton.

Ueber dem Hochaltare thronte Sankt Michael, nicht mehr das alte, dunkle und von der Zeit halb zerstörte Heiligenbild in seiner kindlich naiven Auffassung, das man pietätvoll im Vorraume der Kirche untergebracht hatte, sondern das Werk des jungen Künstlers, der damit so glänzend seine Begabung bewies und sich einen Namen in der Kunstwelt schuf. Michael kannte es von seiner ersten Entstehung an; er hatte es so oft gesehen; aber ihm, wie dem Maler selbst und dem Publikum, war es nur ein Gemälde gewesen: die meisterhafte Darstellung einer stürmischen Kampfscene, die zufällig einen kirchlichen Gegenstand betraf. Er war aufs Höchste überrascht von dem Eindruck, den das Bild in dieser Umgebung machte. Im Halbdunkel der Altarnische, zwischen den gothischen Fenstern, deren Malereien in glühender Farbenpracht leuchteten, gewann es eine ganz andere Gestalt; hier erschien es gleichsam losgelöst von allem Weltlichen, die Verkörperung der uralten, heiligen Legende, die sich in jeder Religion und bei jedem Volke wiederholt – des Sieges, den das Licht über die Finsterniß davonträgt.

Langsam schritt Rodenberg nach dem Hochaltare. Da gewahrte er in einem der vorderen Betstühle eine Frauengestalt, die der Pfeiler vorhin seinem Blick entzogen hatte. Aber das war keine bäuerliche Erscheinung: ein dunkles Seidenkleid floß auf den Boden nieder, und unter dem schwarzen Spitzenschleier, der über das Haupt geworfen war, leuchtete es mit einem seltsamen rothgoldenen Schimmer, den Michael nur zu gut kannte. Er blieb wie angewurzelt stehen. War es ein Spiel seiner Phantasie, die ihm überall nur dies eine Bild erscheinen ließ? Da wandte die Dame, durch das Nahen seiner Schritte aufmerksam gemacht, den Kopf, und ein Ausruf der Ueberraschung oder vielmehr des Schreckens entrang sich ihren Lippen; es waren Hertha’s Augen, die ihn anblickten!

Es mußte wohl ein Verhängniß sein, das die Beiden zum zweiten Male in dem einsamen, öden Alpendorfe zusammen führte, zu einer Stunde, wo sie sich durch weite Fernen getrennt glaubten; wenigstens empfanden sie so die ungeahnte Begegnung, bei welcher Beide ihre Fassung völlig verloren, so daß Keiner die Verwirrung des Anderen bemerkte; es dauerte Minuten, ehe sie ihre Selbstbeherrschung wieder fanden.

„Ich scheine Sie erschreckt zu haben,“ sagte Michael endlich. „Ich glaubte bei meinem Eintritt, die Kirche sei leer, und gewahrte Sie erst in diesem Augenblick.“

Hertha erhob sich langsam von den Knieen und mochte wohl fühlen, daß ihr Ausruf, ihre sichtbare Bestürzung eine Erklärung forderten. Sie war in die Betrachtung des Altarbildes vertieft gewesen; sie wußte nicht mehr, wie lange ihr Blick auf Sankt Michael geweilt, an wen sie dabei gedacht hatte, oder wollte es nicht wissen, und urplötzlich stand der, dessen Züge er trug, vor ihr, wie aus der Erde emporgestiegen. Ihre Stimme bebte noch, als sie entgegnete: „Ich war in der That – überrascht. Der Herr Pfarrer hat mir nicht mitgetheilt, daß Sie gleichfalls sein Gast sind.“

„Ich bin erst vor einer halben Stunde eingetroffen und kam gänzlich unerwartet und unangemeldet. Auch ich erfuhr noch nichts von Ihrem Hiersein. Ich hörte nur, daß Sie und die Frau Gräfin in Schloß Steinrück seien.“

„Wir wollten ursprünglich Beide nach Sankt Michael kommen,“ sagte Hertha, die jetzt völlig ihre Fassung wiedergewonnen hatte. „Aber meine Mutter ist erkrankt, nicht ernstlich, wie es scheint; dennoch bin ich mit einiger Besorgniß gegangen. Es war ihr ausdrücklicher Wunsch, daß wenigstens ein Glied unserer Familie dem Feste und der Uebergabe ihres Geschenkes beiwohnen möge, und ich mußte mich fügen.“

Michael sprach einige Worte des Bedauerns und der Theilnahme, bloße Phrasen, die wie mechanisch von seinen Lippen kamen und kaum gehört wurden. Er sah Hertha dabei nicht an, so wenig wie sie ihn, Ihre Blicke vermieden es instinktmäßig, sich zu begegnen; sie weilten auf dem Altargemälde, das eben voll von der Abendsonne beleuchtet wurde. Sie fluthete durch die Seitenfenster in das Schiff der Kirche herein und warf einen breiten goldigen Streif auf den Hochaltar.

Das Bild hatte nichts von dem alten traditionellen Beiwerk seines Vorgängers; keine Glorie von Engelköpfen blickte von oben herab, keine Flammen züngelten aus dem Abgrunde empor; nur die beiden lebensgroßen Gestalten hoben sich aus dem Rahmen, jede mächtig und wirkungsvoll in ihrer Art. Ueber ihnen nur die klare leuchtende Himmelstiefe, wie durchfluthet von goldigem Sonnenlicht, unter ihnen ein düsterer Felsenschlund, aus dem es herausgähnte wie ewige Nacht und ewige Finsterniß.

Aus der Höhe herab gestürzt, in seinem Falle schon den Rand der Kluft berührend, bäumte sich der Satan noch einmal empor, mit dem letzten ohnmächtigen Zucken des Besiegten. Aber es war nicht das gehörnte, schlangenartige Ungethüm der Sage, sondern eine menschenähnliche Gestalt, von unheimlicher, dämonischer Schönheit, mit dunklen Fittigen wie die eines Nachtvogels. Wohl sprachen aus dem Antlitz die Qual, die Wuth und zugleich das Grauen vor der Macht, die ihn niedergeworfen; aber in dem Auge, das nach oben gewandt war, lag etwas wie hoffnungslose Verzweiflung, wie ein Sehnen nach dem Lichte, das auch ihn einst umstrahlt und das ihm nun verloren war da unten in der ewigen Nacht. Es war Lucifer, der gefallene Engel, den noch in seinem Sturze ein Abglanz dessen umleuchtete, was er einst gewesen.

Ueber ihm, in jener klaren Himmelstiefe schwebte Sankt Michael, in strahlender Erzrüstung, getragen von zwei mächtigen Flügeln, die ihn wie Adlerschwingen umrauschten, und wie ein Adler stieß er auch aus der Höhe nieder auf den Feind. Die Rechte zückte das leuchtende Flammenschwert mit dem Kreuzesgriff, und Flammenblitze zuckten auch aus den großen blauen Augen, während die Locken, wie gelöst von dem stürmischen Fluge, um die Stirn wehten. Der Blick, das Antlitz, die Haltung: Alles zeugte noch vom Sturm des Kampfes, Alles sprühte Vernichtung, und doch war die ganze Gestalt des Erzengels wie getaucht in einen Glorienschein, der den machtvollen, siegreichen Kämpfer des Lichtes umstrahlte.

„Das Bild wirkt ganz anders in dieser Umgebung,“ sagte Hertha, den Blick noch immer darauf gerichtet. „Viel ernster, aber auch viel mächtiger! Dieser Erzengel hat etwas Furchtbares; man glaubt den Flammenathem der Vernichtung zu spüren, der von ihm ausgeht. Ich fürchte nur, das Gebirgsvolk wird diese Auffassung nicht begreifen; es sehnt sich vielleicht nach der feierlichen Gleichgültigkeit des alten Heiligenbildes zurück.“

„Da kennen Sie unsere Aelpler nicht,“ widersprach Rodenberg. „Grade dies Bild verstehen sie, wie kein anderes, denn das ist ihr Sankt Michael, der im Gewittersturm über ihre Berge und Thäler dahinbraust, dessen Blitze zucken und vernichten. Es ist nicht der Erzengel der kirchlichen Legende, aber der des Volksglaubens, in seiner ursprünglichen Gestalt. Sie nannten es einmal ketzerisch, als ich darin den altheidnischen Lichtkultus und den altgermanischen Donnergott wiederfinden wollte. Sie sehen, daß auch mein Freund sich meiner Auffassung anschließt; er hat seinem Michael etwas vom Wotan gegeben.“

„Und Professor Wehlau hat Ihnen Beiden diese Auffassung eingeimpft,“ fiel Hertha vorwurfsvoll ein. „Er kann es nun einmal nicht ertragen, daß sein Sohn ein wirkliches Heiligenbild gemalt haben soll; es muß um jeden Preis etwas Heidnisches und Germanisches hineingebracht werden. Als ob das Volk in Sankt Michael nur den Rächer sähe! Morgen, am Feste seiner Erscheinung, da steigt er ihm nur als Segenspender von der Adlerwand herab, da furcht sein Flammenschwert nur den Boden, und die Lichtfunken, die ihm entströmen, geben der Erde die Frühlingskraft und das Frühlingsleben. Ich habe erst heute wieder die schöne Legende gehört.“

„Nun, diesmal scheint er im Sturme niederzusteigen,“ sagte Michael. „Es braust schon jetzt um alle Höhen, und aller Wahrscheinlichkeit nach schickt uns die Adlerwand in der Nacht einen jener Frühlingsstürme herab, die in der ganzen Umgegend gefürchtet sind. Ich kenne die Anzeichen.“

Wie zur Bestätigung seiner Worte erhob sich draußen der Wind lauter und heftiger. Es klang nicht mehr wie Orgelton, sondern wie fernes dumpfes Meeresbrausen, das bald anschwoll, bald wieder erstarb. Dazu sank die Sonne, nur von einem leichten, schleierartigen Gewölk umgeben, in flammender Gluth, [768] deren Abglanz die ganze Kirche erfüllte. Die alten verblaßten Bilder an den Wänden, die Statuen der Heiligen an den Säulen und Pfeilern, die Kreuze und Kirchenbanner. das Alles gewann ein seltsames, geisterhaftes Leben in dem rothen Lichte. Die Engelgestalten an den Stufen des Hochaltars schienen leise die Flügel zu regen, und der breite Goldstreif, der das Altarbild überfluthete, wurde zum Purpurlichte, das langsam immer höher emporstieg. Der Felsenschlund und Lucifer sanken allmählich in Schatten und Dunkel, während Sankt Michael’s mächtige Gestalt mit den Adlerflügeln noch wie von einer Flammenglorie umgeben war.

Es war ein längeres Schweigen eingetreten. Hertha brach es zuerst, aber ihre Stimme hatte etwas Unsicheres, Zögerndes, als sie wieder das Wort nahm.

„Herr Hauptmann Rodenberg – ich habe eine Bitte an Sie.“

Er sah rasch auf. „Sie befehlen?“

„Ich möchte in Bezug auf einen gewissen Vorfall die Wahrheit wissen, die volle rückhaltlose Wahrheit. Werde ich sie von Ihnen erfahren?“

„Wenn es in meiner Macht steht –“

„Gewiß, Sie brauchen nur zu wollen.“

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Titel: Sankt Michael
aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 44, S. 783–786
Novelle – 20. Fortsetzung

[783] Mein Onkel Steinrück,“ sprach Hertha zögernd zu Michael, „hat mir mitgetheilt, daß die Angelegenheit, bei der ich ihn zum Einschreiten veranlaßte, völlig ausgeglichen sei, und ich zweifle selbstverständlich nicht an seinen Worten, aber ich fürchte –“ sie hielt inne.

„Sie fürchten?“ forschte er.

„Daß die Aussöhnung nur eine augenblickliche, scheinbare gewesen ist. Sie konnten vielleicht Ihrem General die Nachgiebigkeit nicht verweigern, die er forderte, so wenig wie Raoul sie dem Großvater verweigern konnte, und bei dem nächsten Zusammentreffen wird der Streit erneuert werden.“

„Von meiner Seite nicht,“ sagte Michael kalt. „Da Graf Steinrück in Gegenwart des Generals seine Beleidigungen zurückgenommen hat, so habe ich Genugthuung erhalten.“

„Raoul? Er hätte das wirklich gethan?“ rief Hertha halb ungläubig, halb empört.

„Unter einer anderen Bedingung wäre der Ausgleich wohl nicht möglich gewesen. Der Graf wich allerdings der Autorität seines Großvaters, der diese Zurücknahme auf das Bestimmteste von ihm verlangte.“

„Und Raoul hätte sich einem derartigen Befehl gefügt? Unmöglich!“

„Zweifeln Sie an der Wahrheit meiner Worte?“ sagte Michael scharf.

„Nein, Hauptmann Rodenberg, nein, aber ich sehe immer mehr, daß hier irgend etwas Besonderes zu Grunde liegt, wenn es mir auch abgeleugnet wird. Schon damals, bei der Scene im Reval’schen Hause, fielen seltsame, mir unverständliche Andeutungen. Sie sind doch unserer Familie fremd, so viel ich weiß.“

„Ja!“ antwortete Michael mit eisiger Entschiedenheit.

„Und dennoch war von Beziehungen die Rede, die Sie ebenso wie Raoul abzulehnen schienen. Was sind das für Beziehungen?“

„Sollte Ihnen der General oder Graf Raoul Steinrück die Antwort nicht besser geben können, als ich es vermag?“

Hertha schüttelte verneinend das Haupt.

„Sie können oder wollen mir nichts sagen. Ich habe es bereits versucht. Von Ihnen hoffe ich endlich die Wahrheit zu hören.“

„Und auch ich muß Sie bitten, mir das zu erlassen. Eine derartige Erörterung würde nur peinlich sein, und wie weit sie führen kann, davon sind Sie ja Zeuge gewesen.“

„Ich hörte nur den Anfang des Gespräches,“ sagte die junge Gräfin, welche errieth, daß hier ein Punkt berührt wurde, der besser unerörtert blieb. „Es war allerdings genug, um mich einen ernsten Ausgang fürchten zu lassen; das Weitere aber habe ich in der That nicht –“

„Geben Sie sich keine Mühe, mich zu schonen,“ fiel Rodenberg mit der tiefsten Bitterkeit ein. „Ich weiß, daß Sie die ganze Unterredung mit angehört haben, und da wird Ihnen wohl auch das eine Wort nicht entgangen sein, mit dem Graf Steinrück das Andenken meines Vaters – beschimpfte.“

Hertha schwieg einige Sekunden, dann sagte sie leise:

„Ja, ich habe es gehört, aber ich wußte, daß es ein Irrthum war. Auch Raoul ist jedenfalls davon überzeugt worden und hat deßhalb das Wort zurückgenommen, nicht wahr?“

Michael’s Lippen zuckten; er sah es: die junge Gräfin hatte nicht die leiseste Ahnung von seinen Beziehungen zu ihrer Familie, von der Tragödie, die einst dort gespielt hatte, und er wollte ihr die Aufklärung wahrlich nicht geben; aber er wollte auch nicht länger diesen Ton angstvoller, inniger Theilnahme hören, der ihn gefährlicher umspann als einst das alte lockende Sirenenlied. Er wußte freilich, daß schon sein nächstes Wort eine Kluft zwischen ihnen aufriß, die nicht mehr zu überbrücken war. Um so besser! Es war unvermeidlich, wenn er den Rest seiner Selbstbeherrschung bewahren wollte, und mit der ganzen Schroffheit, die ihm zu Gebote stand, entgegnete er:

„Nein!“

„Nein?“ wiederholte Hertha, entsetzt zurückweichend.

„Das erschreckt Sie, Gräfin Steinrück, nicht wahr? Aber einmal muß es doch ausgesprochen werden. Ich kann meine eigene Ehre vertreten und schützen gegen Jeden, der es wagen sollte, sie anzugreifen. Gegen Angriffe auf meinen Vater bin ich wehrlos. Ich kann den Beleidiger zu Boden schlagen – der Lüge zeihen kann ich ihn nicht.“

Seine Stimme war anscheinend ruhig, wenn auch völlig klanglos; aber Hertha sah und fühlte es, wie das ganze Innere des sonst so eisernen Mannes zuckte unter der Wunde, die er so schonungslos vor ihren Augen aufriß. Sie kannte am besten seinen Stolz, der sich nicht einmal da beugen wollte, wo er liebte, und konnte ermessen, was ihn dies Geständniß kostete, und alles Andere vergessend, nur dem augenblicklichen Impulse folgend, brach sie aus:

„Mein Gott, wie furchtbar müssen Sie darunter gelitten haben!“

Michael zuckte zusammen und sah sie starr und fragend an. Es war das erste Mal, daß er diesen Ton hörte, der so ganz und voll aus dem Herzen kam, in dem eine so leidenschaftliche Theilnahme lag, als empfinde sie in jeder Fiber seine Qual mit. Es blitzte vor ihm auf wie der erste Strahl eines Glückes, von dem er wohl bisweilen geträumt und gegen das er sich doch gewehrt hatte mit dem ganzen Stolze des Mannes, der um keinen Preis zum Spielwerk einer Laune werden will. Das aber, was er jetzt sah und hörte, war kein Spiel; das war ein Ausbruch völliger Selbstvergessenheit, rückhaltloser Wahrheit.

„Können Sie mir das wirklich nachempfinden?“ fragte er mit stockendem Athem. „Sie, die auf den Höhen des Lebens geboren und erzogen sind und nie einen Blick in die dunklen Tiefen des Elends gethan haben? Ja, ich habe furchtbar gelitten und leide noch, wenn ich bei einer Erinnerung, die mir die theuerste und heiligste sein sollte, bei dem Worte ,Vater’ die Augen niederschlagen muß.“

Hertha war dicht an seine Seite getreten, und jetzt schlug ihre Stimme an sein Ohr, so leise und weich, als gelte es die Berührung einer schweren Wunde.

„Wenn Sie den Vater nicht lieben konnten – Sie haben ja doch eine Mutter gehabt, und ihr Andenken ist doch wenigstens rein geblieben?“

[784] Hertha sah es, wie tief er verletzt war. Sie büßte jetzt das Spiel, das sie einst im Uebermuth mit ihm getrieben. Er glaubte nicht an sie. Der alte böse Geist, der alte Argwohn regte sich wieder in ihm und flüsterte ihm zu, sie habe nur den Muth des Wortes, nicht den der That und ziehe es doch schließlich vor, sich die Grafenkrone zu sichern, anstatt dem Sohne des Abenteurers zu folgen. Ein Wort aus ihrem Munde hätte ihn aus seinem Irrthum reißen können, aber vor der jungen Gräfin erhob sich in diesem Augenblick das strenge, finstere Antlitz des alten Generals; sie fühlte seinen eisernen Händedruck, hörte seine drohenden Worte: „Ich denke doch, die Braut des Grafen Steinrück weiß, was sie sich und ihm schuldig ist!“ Die Erinnerung trat gebieterisch ein für die Heiligkeit des gegebenen Wortes. Man zerriß ein freiwillig geknüpftes Band nicht wenige Wochen vor der Vermählung, weil man sich – anders besonnen. Hertha senkte das Haupt und schwieg.

Die Sonne war gesunken, und mit ihr erlosch auch der Schimmer, der die ganze Kirche wie in Gluth und Verklärung getaucht hatte. Kalt und leblos wie sonst standen die Bilder und Statuen da, und graue Dämmerungsschatten schienen leise niederzuschweben; nur die lichte Gestalt des Erzengels war noch erkennbar in dem Dunkel der Altarnische. Aber der Sturm, der draußen um die Mauern brauste, mußte jetzt irgendwo den Eingang gefunden haben; er zog in langen unheimlichen Tönen oben an der Wölbung hin und erstarb dann flüsternd, wie Geisterhauch.

Hertha schauerte unwillkürlich zusammen bei den seltsam klagenden Lauten und wandte sich dann, zu gehen. Michael folgte, aber er blieb einige Schritte hinter ihr zurück. Keiner von Beiden sprach ein Wort. Sie traten eben in die Vorhalle der Kirche.

Da kam ihnen der Pfarrer entgegen, aber mit erregter, bekümmerter Miene.

„Ich suchte sie, Gräfin Hertha,“ sagte er, noch athemlos von dem eiligen Gange. „Da bist Du ja auch, Michael! Es ist ein Bote von Schloß Steinrück herauf gekommen –.“

„Vom Schloß?“ fiel Hertha erschrocken ein. „Es ist doch nicht schlimmer mit meiner Mutter geworden?“

„Die Frau Gräfin scheint allerdings kränker geworden zu sein, und Fräulein von Eberstein wollte Ihnen Nachricht davon geben, hier ist der Brief.“

Hertha erbrach hastig das dargereichte Schreiben und durchflog es. Valentin sah, daß sie erbleichte.

„Ich muß fort! Es ist keine Minute zu verlieren. Bitte, Hochwürden, lassen Sie den Wagen in Bereitschaft setzen.“

„Jetzt wollen Sie fort?“ fragte der Pfarrer bestürzt. „Es dämmert ja bereits; in einer halben Stunde ist es dunkel, und der Sturm wird heftiger. Sie können doch unmöglich in der Nacht die lange Bergfahrt machen.“

„Ich muß! Gerlinde würde nicht in solchen Ausdrücken schreiben, wenn meine Mutter nicht in wirklicher Gefahr schwebte.“

„Aber Sie bringe sich selbst in Gefahr bei einem solchen Wagniß. Michael, was meinst Du dazu?“

„Es wird eine Sturmnacht geben,“ sagte Michael hervortretend. „Müssen Sie fort, Gräfin Steinrück?“

Sie reichte statt aller Antwort ihm und dem Pfarrer den Brief, der nur einige, augenscheinlich in höchster Eile hingeworfene Zeilen enthielt:

„Die Tante ist plötzlich kränker geworden; sie verlangt nach Dir, und ich bin in Todesangst. Der Arzt spricht von einem schweren, vielleicht tödlichen Anfall. Komm sofort zurück! 0Gerlinde.“

[785] „Sie sehen, daß hier keine Wahl ist,“ sagte die junge Gräfin mit bebender Stimme. „Wenn ich sofort aufbreche, kann ich vor Mitternacht im Schlosse sein. Lassen Sie uns gehen, Hochwürden!“

Sie waren schon während der letzten Minuten in das Freie getreten und wandten sich jetzt dem Dorfe zu. Hertha und der Pfarrer hatten Mühe, bei dem Sturme vorwärts zu kommen.

Valentin machte noch einen Versuch, sie zu bestimmen, wenigstens die Nachtfahrt zu unterlassen; der Tag breche ja jetzt so früh an, und sie könne beim ersten Morgengrauen aufbrechen. Es war umsonst.

Im Pfarrhause trat ihnen der Bote, ein Diener aus dem Schlosse entgegen, der zu Pferde gekommen war; aber er wußte auf die angstvollen Fragen seiner jungen Herrin nichts Tröstliches zu berichten. Die Frau Gräfin sei allerdings sehr krank; der Herr Doktor scheine die Sache ernst zu nehmen und habe ihm die größte Eile anbefohlen.

Michael hatte sich der Abmahnung des Pfarrers nicht angeschlossen, jetzt aber trat er hervor und fragte leise: „Darf ich Sie begleiten?“

„Nein!“ war die eben so leise, aber mit voller Entschiedenheit gegebene Antwort. Er trat finster zurück.

Zehn Minuten später saß Hertha bereits in dem kleinen Bergwagen, den ihre Mutter stets benutzte, wenn sie nach Sankt Michael kam, und dessen auch sie sich bedient hatte. Der Kutscher war zuverlässig, und der begleitende Diener wie der Bote, der sich gleichfalls anschloß, ritten tüchtige Bergpferde. Dennoch stand der alte Pfarrer mit bekümmerter Miene am Schlage, aus dem die junge Gräfin ihm zum Abschiede die Hand entgegenstreckte. Dann wandte sich das schöne, jetzt so bleiche Antlitz nach der Thür des Pfarrhauses, wo Michael stand. Ihre Blicke trafen sich noch einmal; es war ein Lebewohl für immer!

„Gott gebe, daß der Sturm während der Nacht nicht heftiger wird,“ sagte Valentin seufzend, als der Wagen abfuhr. „Bei einer wirklichen Gefahr würden die Diener doch den Kopf verlieren. Ich hoffte, Du würdest der Gräfin Deine Begleitung anbieten, Michael.“

„Das habe ich gethan, aber sie wurde in der bestimmtesten Weise zurückgewiesen, und aufdrängen konnte ich mich selbstverständlich nicht.“

Der Pfarrer schüttelte unwillig das greise Haupt.

„Wie kannst Du in einer solchen Stunde empfindlich und gereizt sein! Du sahst ja, in welcher Aufregung Gräfin Hertha war, aber sobald es sich um die Steinrück handelt, schweigt all Dein Gerechtigkeitsgefühl; das weiß ich längst.“

Michael erwiderte nichts auf diesen Vorwurf; sein Blick folgte nur dem Wagen, der jetzt in der Biegung des Weges verschwand, und flog dann zu der Adlerwand hinüber, die weiß und gespenstig in der zunehmenden Dämmerung dastand. Noch war sie klar; aber um ihre Gipfel begann sich jetzt, Gewölk zu sammeln, Sturmgewölk, das sich langsam und drohend zusammen ballte. –

Valentin und sein Gast waren in das Haus zurückgekehrt; sie hatten sich seit dem Herbste nicht gesehen. Es gab unendlich viel zu fragen und zu berichten, und das gewünschte ungestörte Beisammensein wurde ihnen ja nun im vollsten Maße zu Theil. Dennoch wollte das Gespräch nicht in Gang kommen. Michael besonders war ungemein zerstreut und einsilbig; er schien manche Frage gar nicht zu hören, gab falsche Antworten oder fuhr wie aus einem Traum erwachend dabei auf. Der Pfarrer bemerkte mit Befremden, daß er mit seinen Gedanken ganz wo anders war.

Die Dämmerung begann überhand zu nehmen, und die alte Katrin hatte soeben Licht gebracht; da pochte es an die Thür, und gleich darauf trat ein älterer Mann in Jägertracht ein, der gradewegs auf den Pfarrer zuging und den Hut zog.

„Grüß’ Gott, Hochwürden, da bin ich einmal wieder in Sankt Michael! Kennen Sie mich noch? Es mögen an die zehn Jahr sein, daß ich von der Bergförsterei fortgegangen bin.“

„Wolfram, Ihr seid es!“ rief Valentin in höchster Ueberraschuug. „Wo kommt Ihr her?“

„Von Tannberg. Ich hab’ dorthin gemußt, ans Landgericht, einer kleinen Erbschaft wegen, die mir ein alter Vetter hinterlassen hat. Da nun morgen grade Michaelsfest ist, wollt’ ich mich doch einmal umschauen nach der alten Heimath und auch nach Ihnen, Hochwürden. Bin erst vor einer halben Stunde angekommen und beim Rainwirth abgestiegen; wollt’ Ihnen doch aber heut Abend noch ,Grüß’ Gott‘ sagen.“

Der Pfarrer blickte mit einer gewissen Verlegenheit auf Michael. Dies unerwartete Zusammentreffen hatte doch etwas Peinliches für den nunmehrigen Officier; denn wenn Wolfram ihn auch vorläufig noch nicht erkannte, so konnte das doch nicht ausbleiben.

„Das ist brav, daß Ihr Euch noch die Anhänglichkeit an mich und an die alte Heimath bewahrt habt,“ sagte er etwas zögernd. „Ich bin nicht allein, wie Ihr seht, sondern habe einen Gast im Hause –“

„Weiß schon, einen Officier,“ fiel der Förster ein, indem er sich stramm aufrichtete und auch wirklich einen echt militärischen Gruß zu Stande brachte. „Hab’s schon gehört beim Rainwirth. Ein Sohn von dem Herrn Bruder da oben in Berlin!“

Michael hatte auf den ersten Blick seinen ehemaligen Pflegevater wieder erkannt. Es war noch die kraftvolle gedrungene Gestalt mit den harten Zügen, Haar und Bart jetzt allerdings grau geworden, aber noch ebenso verwildert wie einst, die ganze Erscheinung unverändert in ihrer derben Bauernart. In Rodenberg’s Brust wallte eine bittere Empfindung auf, als er den Mann vor sich sah, dessen Rohheiten er Jahre lang hatte aushalten müssen, unter dessen brutaler Gewalt seine Knabenzeit und seine ersten Jünglingsjahre im eigentlichsten Sinne des Wortes verkommen waren. Wohl sagte ihm sein [786] Gerechtigkeitsgefühl, der Förster habe es eben nicht besser verstanden; dennoch gewann er es nicht über sich, ihm mit der alten Vertraulichkeit entgegenzutreten. Es lag etwas Unnahbares in seinem Wesen, trotzdem er sich jetzt erhob und dem Ankömmlinge die Hand hinstreckte.

„Der Officier ist Ihnen doch nicht ganz fremd, Herr Förster,“ sagte er ruhig. „Ich dächte, wir hätten uns schon früher gesehen.“

Wolfram stutzte beim Klange der Stimme und sah den Sprechenden von oben bis unten an, schüttelte dann aber verneinend den Kopf.

„Hab’ nicht die Ehre gehabt, Herr Hauptmann, so viel ich weiß. Nur die Stimme meint’ ich zu kennen und Sie haben auch im Gesicht etwas – ja was ist’s denn nur? Ich glaub’, Hochwürden, der Herr da gleicht dem vertrackten Burschen, dem Michael, der uns davongelaufen ist.“

„Und auf den Ihr nicht gut zu sprechen seid, wie es scheint.“

„Das fehlte noch!“ sagte der Förster in seiner derben Weise. „Ich habe Kreuz und Elend genug gehabt mit dem Unheilsbuben. Bärenstark war er ja, aber auch so dumm, daß keine Menschenseele etwas mit ihm anfangen konnte: nichts begriff er, nichts verstand er, und zuletzt brachte er mich noch in Ungnade bei dem Herrn Grafen. Ich war froh, als er auf und davon ging und ich ihn los war; er wird wohl irgendwo verdorben sein, denn er taugte zu gar nichts in der Welt.“

Michael lächelte flüchtig bei dieser nicht grade schmeichelhaften Charakteristik, der Pfarrer aber sagte ernst: „Da täuscht Ihr Euch, Wolfram, wie Ihr Euch stets in Eurem Pflegesohn getäuscht habt. Seht Euch den Herrn da genau an – es ist Hauptmann Michael Rodenberg.“

Wolfram prallte drei Schritt zurück und starrte dann sprachlos, mit weit aufgerissenen Augen Michael an, als sehe er ein Gespenst vor sich.

„Der Herr Hauptmann – der Michel?“ brachte er endlich mühsam heraus.

„Der doch nicht so ganz verdorben ist!“ ergänzte Michael.

„Sie sehen, er hat es trotz seiner Dummheit doch bis zum Hauptmann gebracht.“

Der Förster stand noch immer da, als habe der Blitz vor ihm eingeschlagen, und bemühte sich vergebens, die unerhörte Thatsache zu begreifen. Er blickte in hilfloser Verlegenheit zu Michael auf, der jetzt, als er herantrat, den ehemaligen Pflegevater fast um Kopfeslänge überragte, und wagte es kaum, die dargebotene Hand zu berühren. Er stotterte einige Worte, die halb Begrüßung und halb Entschuldigung waren, kam aber mit beidem nicht zu Stande; sein Begriffsvermögen schien völlig aufzuhören.

Valentin in seiner gewohnten Güte kam ihm zu Hilfe, indem er nach seinem Ergehen in den letzten zehn Jahren fragte; aber es dauerte eine ganze Weile, ehe Wolfram sich so weit faßte, um überhaupt Rede und Antwort zu geben, und als es endlich geschah, that er es in ganz verwirrter Weise. Zu berichten hatte er freilich nicht viel; seine jetzige Stellung auf den Gütern der jungen Gräfin Steinrück brachte ihm allerdings ein weit höheres Einkommen als die frühere, sonst aber hauste er nach wie vor in seinen Wäldern, gänzlich auf den Verkehr mit seinen Dienstleuten angewiesen, kam nur selten mit anderen Menschen in Berührung und schien das gleiche halbwilde Leben zu führen wie einst auf der Bergförsterei. Den General sah er noch öfter, denn dieser nahm es ernst mit seinen vormundschaftlichen Pflichten und pflegte die Güter seines Mündels persönlich zu inspiciren; die junge Gräfin aber, seine eigentliche Herrin, die niemals nach jenen Besitzungen kam, hatte er heute zum ersten Male nach zehn Jahren wiedergesehen: er war ihr auf dem Wege hierher begegnet, als sie mit ihrer Begleitung in das Schloß zurückkehrte.

Das Alles kam jedoch nur stückweise und abgebrochen zum Vorschein. Dabei hielt er noch immer hartnäckig die Augen auf Michael gerichtet, verstummte aber sofort, wenn dieser sich in das Gespräch mischte. Seine Scheu schien eher zu wachsen als sich zu verlieren, sogar seine Derbheit ließ ihn hier vollständig im Stich. Michael zeigte sich übrigens ebenso einsilbig und zerstreut wie vorhin im Gespräch mit dem Pfarrer; selbst dies unerwartete Zusammentreffen vermochte nicht, seine Gedanken abzulenken; sie folgten unaufhörlich dem kleinen Bergwagen, der jetzt wohl schon ein Drittel des Weges zurückgelegt haben mochte, und plötzlich erhob er sich und ging hinaus, um zu sehen, ob der Mond, der soeben aufgegangen war, auch hell genug leuchte für die nächtliche Bergfahrt.

Wolfram sah ihm nach, sah dann den Pfarrer an und sagte in einem seltsam gedrückten Tone:

„Hochwürden, ist es denn wirklich wahr? Ist das wirklich und wahrhaftig der Michel, unser Michel?“

Valentin konnte sich eines leichten Lächelns nicht erwehren, als er entgegnete:

„Ich dächte, das müßtet Ihr doch nun nachgrade sehen.“

„Ja, ich seh’ es schon, aber glauben thu’ ich es nicht,“ erklärte Wolfram. „Das soll der Bub’ sein, der so oft meine Hand gespürt hat wegen seiner Dummheit und Verstocktheit? Der Rainwirth sagt ja, er wäre so furchtbar gescheit, daß sie ihn eigens in den Generalstab geholt hätten, und in den beiden letzten Kriegen wäre er auf den Feind losgegangen und hätte dreingeschlagen, daß Alles nur so krachte. Er ist ja auch jetzt Hauptmann geworden, grade wie mein gnädiger Herr Graf, als ich vor vierzig Jahren bei ihm in Dienst trat, und er kann am Ende auch noch General werden wie Seine Excellenz.“

„Möglich ist das wenigstens; aber hat der Rainwirth denn keinen Namen genannt, der Euch aufklären konnte?“

„Nein, er hat immer nur von dem Hauptmann gesprochen und scheint einen gewaltigen Respekt vor ihm zu haben. Nun, so viel hab’ ich auch schon gemerkt, nah’ kommen darf man dem Herrn Michel nicht mehr. Er ist ja freundlich genug, aber er hat etwas in seiner Art wie: bleib’ mir zehn Schritt vom Leibe! Er nennt mich ja jetzt auch ‚Herr Förster’, da werd’ ich wohl auch ,Herr Hauptmann‘ sagen müssen.“

„Ihr werdet allerdings den veränderten Verhältnissen Rechnung tragen müssen,“ sagte der Pfarrer ernst. „Und noch Eins, Wolfram! Es ist nicht nöthig, daß Ihr dem Rainwirth und den anderen Bekannten erzählt, Hauptmann Rodenberg sei Euer einstiger Pflegesohn. Er ist damals mit den Dorfleuten so wenig in Berührung gekommen und hat sich so vollständig verändert, daß Niemand ihn wiedererkannte, als er nach Jahren als Officier zu mir kam. Ich weiß, Graf Steinrück hatte Euch strenges Schweigen über Euren Pflegling auferlegt, und Ihr habt geschwiegen. Ihr würdet Michael und mich verbinden, wenn Ihr das auch jetzt thun wolltet.“

„Das Schwatzen ist meine Sache nicht, das wissen Sie ja, Hochwürden,“ entgegnete Wolfram kurz. „Viel Ehr’ kann ich auch nicht einlegen mit meinen Prophezeiungen über den Michel; die Leute würden mich nur hänseln damit, und übermorgen geh’ ich ja schon wieder fort – mir ist’s recht, wenn die Geschichte unter uns bleibt.“

Der Wiedereintritt Michael’s machte dem Gespräch ein Ende. Gleich darauf verabschiedete sich der Förster und kehrte zu dem Rainwirth zurück, der die kleine Gastwirthschaft des Dorfes hielt und dessen Gehöft eine ganze Strecke vom Pfarrhause entfernt lag. Die Dunkelheit war inzwischen völlig hereingebrochen, und bald lag ganz Sankt Michael im tiefen Schlafe.

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Titel: Sankt Michael
aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 45, S. 798–802
Novelle – 21. Fortsetzung

[798] Die Anzeichen, die dem geübten Auge schon den ganzen Abend hindurch sichtbar gewesen waren, hatten nicht getäuscht. Gegen Mitternacht brach der Sturm in der That los, mit einer Heftigkeit und Wildheit, die selbst in diesen Bergen zu den Seltenheiten gehört. Das kleine Alpendorf war hinreichend vertraut mit den Herbst- und Frühlingsstürmen, und die Bewohner schliefen meist ruhig und sorglos, wenn es über die niedrigen, steinbeschwerten Häuser hinbrauste und an Thüren und Fenstern rüttelte. Diesmal aber war das Heulen und Toben so arg, daß es sie aus ihrer Ruhe aufschreckte. Sie schlugen ein Kreuz und blieben wach für alle Fälle. Schien es doch, als sollte das ganze Sankt Michael vom Boden weggefegt werden.

Auch im Pfarrhause schimmerte Licht. Der Pfarrer hatte sich gleichfalls erhoben und stand völlig angekleidet am Fenster, als er Michael’s Schritt auf der Treppe hörte.

„Ich sah Licht in Ihrem Zimmer, deßhalb kam ich herunter,“ sagte dieser eintretend. „Der Sturm hat Sie auch aus dem Bette gejagt; ich dachte es mir.“

„Und Du bist wohl überhaupt gar nicht zu Bett gewesen?“ fragte Valentin. „Ich habe wenigstens fortwährend Deinen Schritt im Giebelzimmer gehört. Du scheinst stundenlang auf- und niedergegangen zu sein.“

„Ich konnte nicht schlafen und dachte wirklich nicht daran, daß ich Sie stören würde.“

„Nicht doch, ich schlief ohnehin unruhig, weil ich fortwährend an Gräfin Hertha und ihre Bergfahrt denken mußte. Gott sei Dank, daß der Sturm erst gegen Mitternacht ausbrach! Sie muß schon um elf Uhr im Schlosse gewesen sein.“

„Nehmen Sie das mit solcher Bestimmtheit an?“ fragte Michael hastig und gepreßt.

„Gewiß, die Niederfahrt ist selbst bei aller Vorsicht in drei Stunden zu machen: so lange war der Himmel noch ziemlich klar, und überdies haben wir Vollmond. Was ich fürchtete, war ein zu frühes Ausbrechen des Sturmes, der die Gräfin auf dem Wege hätte überfallen können. Wenn sie erst im Thal angelangt ist, giebt es überhaupt keine Gefahr mehr.“

„Wenn sie angelangt ist – wer sich darüber Gewißheit verschaffen könnte!“ murmelte Michael. Er mußte dem Pfarrer Recht geben: aller Wahrscheinlichkeit nach war Hertha längst schon in Sicherheit. Aber die verzehrende Unruhe, die ihm den Schlaf geraubt und ihn rastlos umhergetrieben hatte, wollte nicht weichen, Es lag auf ihm wie eine unbestimmte Angst, wie die Ahnung irgend eines Unheils.

Er war gleichfalls an das Fenster getreten, und Beide blickten eine Weile schweigend hinaus in die Sturmnacht, die ein ungewisser [799] Dämmerschein erfüllte. Der Mond leuchtete selbst durch den Wolkenschleier hell genug, um auf einige Entfernung hin die Gegenstände zu unterscheiden; plötzlich tauchte die dunkle Gestalt eines Mannes auf, der vom Eingange des Dorfes zu kommen schien und, kraftvoll gegen den Sturm ankämpfend, gradewegs auf das Pfarrhaus zuschritt. Michael’s scharfes Auge entdeckte ihn zuerst; er machte den Pfarrer darauf aufmerksam, der verwundert den Kopf schüttelte.

„In solchem Wetter? Da kann es sich nur um einen Kranken handeln, der das Sakrament verlangt; aber ich weiß augenblicklich von keinem einzigen Krankheitsfall im Dorfe. Der Mann kommt wirklich hierher; da werde ich ihm wohl öffnen müssen.“

Er ging in der That hinaus, um selbst zu öffnen, und gleich darauf hörte man draußen Wolfram’s Stimme.

„Ich bin’s, Hochwürden! Ich komm’ wie ein Gespenst um Mitternacht, aber es hilft nichts. Wenn Sie nicht wach gewesen wären, so hätte ich Sie herauspochen müssen.“

„Was giebt es denn? Was bringt Ihr?“ fragte Valentin besorgt, indem er mit dem späten Gast wieder in das Zimmer trat.

„Nichts Gutes, Hochwürden! Lassen Sie mich nur erst zu Athem kommen – der verwünschte Sturm – er hat mich fast umgerissen auf dem Wege! Ich komm’ wegen der jungen Gräfin –“

„Gräfin Steinrück? Wo ist sie?“ fiel Michael ihm heftig in das Wort.

„Ja, das weiß der Himmel! In das Pfarrhaus ist sie doch nicht zurückgekommen?“

„Um Gotteswillen, nein!“ rief Valentin erschrocken. -„Die Gräfin wollte ja nach dem Schlosse.“

„Ja, aber sie hat umkehren müssen. Dies verdammte Pferd scheute vor einem Wildwasser! Ich möchte der Kreatur, die das ganze Unglück angerichtet hat, den Hals dafür umdrehen. Und der Kutscher, anstatt die Zügel festzuhalten, fliegt vom Bock; nun liegt er da, mit einem zolltiefen Loch im Kopfe. Der Diener hat ihn mit Mühe und Noth zum Wirthshaus geschleppt, und die junge Gräfin ist verloren gegangen auf dem Rückwege. Kein Mensch weiß, wo sie ist – und das gerade in dieser Nacht, wo alle Teufel los sind!“

Er hielt inne, um Athem zu schöpfen; Michael war leichenblaß geworden. So unklar und verworren der Bericht auch klang: er sah doch, daß seine Unheilsahnung ihn nicht getäuscht hatte.

„Ist die Gräfin unverletzt geblieben? Wo hat der Unfall stattgefunden? Zu welcher Stunde? So antworten Sie doch!“

Er stürmte mit all diesen Fragen so leidenschaftlich auf den Förster ein, daß Valentin ihn trotz seiner Angst befremdet anblickte. Wolfram bemühte sich augenscheinlich, mehr im Zusammenhange zu erzählen, und es gelang ihm auch einigermaßen, aber sein Bericht lautete darum nicht tröstlicher.

„Zu Anfang ist es ganz gut gegangen,“ berichtete er. „Die Straße war im Mondlicht hell wie am Tage und sie kamen ziemlich schnell vorwärts. Da scheut die Bestie, das Pferd, vor einem Wildbach, der inzwischen losgebrochen ist und vom Felsen tobt; es setzt in blinder Angst seitwärts hinein in das Steingeröll, kommt dabei zu Fall und reißt im Sturze den ganzen Wagen mit sich.“

„Und die Gräfin ist wirklich nicht verletzt worden?“ Die Frage klang ebenso stürmisch wie die vorhergehenden.

„Nein, sie stand gleich wieder auf den Füßen, aber der Kutscher lag da und blutete und am Wagen war ein Rad gebrochen. Die Diener haben natürlich den Kopf verloren; solches Volk macht ja nur Dummheiten, wenn es einmal anders hergeht, als in seinem Schlosse. Die junge Gräfin scheint die einzig Vernünftige gewesen zu sein, und sie brachte mit ihren Befehlen denn auch Ordnung in die Geschichte. Mit dem zerbrochenen Wagen konnten sie nicht weiter; also blieb nichts übrig, als umzukehren. Der Kutscher, der nicht von der Stelle konnte, wurde in die Wagenkissen gesetzt und der eine Diener blieb bei ihm, während die Gräfin mit dem anderen sich auf den Rückweg nach Sankt Michael machte und versprach, sofort Hilfe zu schicken – seitdem hat man nichts wieder von ihr gesehen und gehört.“

„Um welche Stunde ist das gewesen?“ unterbrach ihn Michael.

„So etwa gegen neun Uhr.“

„Dann hätte sie um zehn Uhr hier sein müssen – und jetzt ist es eine Stunde nach Mitternacht!“

Er stieß die Worte mit einer solchen Todesangst hervor, daß der Pfarrer ihm wieder jenen halb fragenden, halb bestürzten Blick zusandte. Aber Michael hatte jetzt nur Augen und Ohren für den Bericht des Försters und drängte in bebender Ungeduld:

„Weiter, weiter!“

„Ja, weiter ist nicht viel zu sagen,“ erklärte Wolfram. „Die Beiden auf der Straße warteten zwei Stunden lang; als aber die Hilfe noch immer nicht kam und das Wetter immer drohender wurde, waren sie gescheit genug, auf eigene Hand aufzubrechen. Der Kutscher, der wieder etwas zu sich gekommen war, wurde auf das Pferd gesetzt, das der Andere am Zügel führte, und so langten sie denn endlich beim Rainwirth an, kamen aber nicht weiter, weil der Sturm gerade ausbrach; sie glaubten jedoch steif und fest, die Gräfin sei schon längst im Pfarrhause. Nun kam es freilich heraus, daß sie gar nicht ins Dorf zurückgekehrt war; sie hätte ja beim Wirthshaus vorbei gemußt, aber Niemand hat sie zurückkehren sehen. Der Diener jammert um seine junge Herrschaft und lamentirt wie ein altes Weib; aber er war nicht dazu zu bringen, in dem Sturm auch nur bis zum Pfarrhause zu gehen. Da hab’ ich es übernommen, denn wissen müssen Sie die Geschichte doch, Hochwürden. Was machen wir nun?“

„Da ist ein Unglück geschehen!“ rief der Pfarrer, der mit steigender Angst zugehört hatte. „Ich ahnte es ja, als diese unselige Bergfahrt angetreten wurde. Sie sind unterwegs irgendwo abgestürzt.“

„Ich glaube eher, daß sie sich verirrt haben,“ sagte Michael; aber seine Stimme bebte, trotz seines Bemühens, sich zu beherrschen. „Die beiden Zurückkehrenden haben keine einzige Spur der Vermißten gefunden?“

„Nein, nicht die-geringste,“ versetzte Wolfram mit Bestimmtheit.

„Dann ist auch kein Absturz erfolgt. Zwei Menschen mit zwei Pferden können auf der verhältnißmäßig sicheren Fahrstraße nicht so spurlos verschwinden – sie haben den Weg verfehlt.“

„Aber er ist ja gar nicht zu verfehlen,“ wandte der Pfarrer ein.

„Doch, Hochwürden, beim Almenbach, wo es aufwärts nach der Bergkapelle geht. Die Wege gleichen sich nur zu sehr; das Mondlicht täuscht, und wenn die Gräfin den Irrthum nicht rechtzeitig bemerkt hat, dann ist sie – in die Klüfte der Adlerwand gerathen!“

„Gott steh’ uns bei!“ rief der Pfarrer. „Das wäre ja fast so schlimm wie der Absturz!“

Michael biß die Zähne zusammen; er wußte, daß es keine Uebertreibung war; er kannte die Klüfte und Abgründe der Adlerwand noch von seiner Knabenzeit her.

„Es ist die einzig denkbare Möglichkeit,“ entgegnete er. „Jedenfalls ist keine Minute mehr zu verlieren; es sind schon Stunden darüber hingegangen. Wir müssen sofort hinaus!“

„Jetzt? In dieser Nacht?“ fragte Wolfram, den Hauptmann anstarrend, als glaube er, dieser sei nicht recht bei Sinnen, und der Pfarrer rief erschrocken:

„Michael, was fällt Dir ein? Du willst doch nicht etwa –?“

„Die Gräfin suchen! Gewiß, das ist doch selbstverständlich. Soll ich vielleicht ruhig hier im Hause bleiben, während sie draußen all den Schrecken der Sturmnacht preisgegeben ist?“

„Du sollst nur warten und nicht versuchen, das Unmögliche zu erzwingen; denn für den Augenblick ist das unmöglich. Du kennst ja unsere Berge und mußt es wissen, daß nichts zu unternehmen ist, so lange der Sturm mit solcher Wuth tobt. Sobald er nachläßt, sobald der Morgen graut, werden wir aufbieten, was Menschenkräfte nur vermögen. Jetzt hinauszugehen wäre mehr als Tollkühnheit, das wäre offenbarer Wahnsinn.“

„Wahnsinn oder nicht! Es muß versucht werden!“ brach Michael aus. „Glauben Sie, daß ich mein Leben achte, wenn es das ihrige gilt? Und müßte ich ihr folgen bis auf die Gipfel der Adlerwand und drohte dort zehnfacher Tod – ich entreiße sie der Gefahr oder gehe mit ihr unter!“

Valentin faltete entsetzt die Hände. Der jähe, verzweiflungsvolle Ausbruch verrieth ihm das lang behütete Geheimniß, das er freilich in den letzten Minuten geahnt hatte, und leise sagte er:

„Steht es so? Allmächtiger Gott!“

Michael achtete nicht darauf, er hatte sich wieder zu Wolfram gewandt und sagte hastig:

„Ich brauche Gefährten; wir müssen in verschiedenen Richtungen suchen – werden Sie mich begleiten?“

[800] „Ich?“ rief der Förster zurückweichend. „Jetzt, wo alle Höllengeister los sind da draußen in den Bergen? So hat die wilde Jagd ja nie getobt in all den Jahren, wo ich auf der Bergförsterei war!“

„Verwünschter Aberglaube!“ murmelte Rodenberg, mit dem Fuße stampfend. „So schaffen Sie mir den Rainwirth her; der ist ein tüchtiger Bergsteiger und ein unerschrockener Mann.“

„Mag sein, aber hinausgeht er doch nicht bei solchem Wetter. Er hat es schon vorhin verschworen, als die Red’ davon war, und gesagt, wenn man ihm eine Tonne Goldes bieten wollte, er thät’ es doch nicht probiren, er müßt’ an Weib und Kinder denken.“

„Wohl, so gehe ich allein!“ sagte Michael entschlossen. „Schickt mir Hilfe nach, sobald der Morgen graut. Der Rainwirth mit seinen Leuten soll den Weg nach der Bergkapelle einschlagen, den ich nehme, und ihn nöthigenfalls bis an die Adlerwand verfolgen. Wolfram, Sie durchforschen mit den Anderen die Waldungen der Bergförsterei, Ihr ehemaliges Revier; Hochwürden, lassen Sie die ganze Fahrstraße noch einmal absuchen, bis zu der Stätte des Unfalls, vielleicht findet sich doch noch eine Spur – bieten Sie das ganze Dorf auf! Ich habe keine Zeit mehr zu verlieren.“

Er hatte trotz seiner furchtbaren Erregung in jenem energischen, befehlenden Tone gesprochen, in dem er mit seinen Untergebenen zu verkehren pflegte, und jetzt stürmte er hinaus. Der Förster blickte ihm ganz verdutzt nach, aber der Ton imponirte ihm augenscheinlich.

„Das Kommandiren hat er gelernt. Das sieht man!“ sagte er halblaut. „Er thut ja, als ob das ganze Dorf zu seiner Kompagnie gehörte und Ordre pariren müßte. Merkwürdig! Genau so hat mein gnädiger Herr Graf es gemacht. Der Michel hat wahrhaftig denselben Ton und Blick, als ob er es ihm abgelernt hätte oder als ob es sein Sohn wäre. Hochwürden, das geht doch nicht mit rechten Dingen zu, das ist Hexerei.“

Der Pfarrer antwortete nicht, er war wie betäubt. Hertha’s Gefahr, Michael’s tollkühner Entschluß, ihr zu folgen, die Entdeckung, welche er soeben hinsichtlich der Beiden gemacht hatte: das Alles stürmte mit vollster Heftigkeit auf den Greis ein, der an leidenschaftliche Erregungen nicht mehr gewöhnt und ihnen auch nicht mehr gewachsen war; er fühlte etwas wie Schwindel.

Schon nach wenig Minuten kam Michael zurück, vollständig ausgerüstet für den nächtlichen Gang, im Lodenmantel, mit dem Bergstock und bot seinem alten Lehrer die Hand.

„Leben Sie wohl, Hochwürden, und wenn wir uns nicht wiedersehen sollten – behüt’ Gott!“

Valentin faßte krampfhaft seinen Arm; die Angst, seinen Liebling zu verlieren, überwog bei ihm den Gedanken an Hertha’s Gefahr.

„Michael, so nimm doch Vernunft an. Höre nur, wie es da draußen tobt! Du kommst nicht hundert Schritt weit vorwärts. Warte wenigstens noch eine halbe Stunde!“

Rodenberg machte sich mit einer ungeduldigen Bewegung los.

„Nein, hier kann jede Minute verhängnißvoll werden – leben Sie wohl!“

Er schritt nach der Thür; dort stand Wolfram regungslos, aber es arbeitete seltsam in seinen harten Zügen, und jetzt fragte er zögernd:

„Herr Hauptmann, Sie wollen also wirklich hinaus und noch dazu ganz allein?“

„Ja, da doch Keiner den Muth hat, mit mir zu gehen!“ sagte Michael herb.

„Oho! Feiglinge sind wir auch nicht!“ rief der Förster beleidigt. „Ein Christenmensch, der wie der Rainwirth Weib und Kinder hat, kann es freilich nicht probiren. Ich hab’ nichts dergleichen, und wenn es durchaus nicht anders geht, meinetwegen – ich geh’ mit!“

Valentin athmete auf bei den Worten; ihm war es schon eine Beruhigung, daß Michael nicht allein ging; dieser aber sagte nur kurz:

„So kommen Sie! Zwei sind immerhin besser als Einer.“

„Es kommt drauf an,“ meinte Wolfram trocken. „Vielleicht denkt die wilde Jagd das auch und holt uns alle Beide.“

„Behüt’ Gott, Hochwürden, es kann nicht schaden, wenn Sie indeß recht kräftig beten für uns. Sie sind ein HeiligerMann, und wenn Sie ein gutes Wort einlegen bei Sankt Michael, hat er vielleicht ein Einsehen und bannt den Teufelsspuk da draußen; es thäte noth!“

Michael war bereits in der Thür, er winkte dem Pfarrer noch einen Abschiedsgruß zu; Wolfram folgte ihm, und nach wenigen Minuten waren Beide draußen verschwunden.

*  *  *

Die Adlerwand hatte in der That einen jener Frühlingsstürme herabgesandt, die mit Recht in der ganzen Umgegend gefürchtet waren. Wer abergläubisch war, wie der Förster, konnte immerhin meinen, es sei eine ganze Schar von Höllengeistern losgelassen, die nun verderbenbringend über die Erde hinrase. Es tobte durch die Lüfte, brauste in den Wäldern, und der Mond, halb verschleiert durch das Sturmgewölk, hüllte Erde und Himmel in ein fahles, gespenstiges Dämmerlicht, das noch unheimlicher war als selbst die Dunkelheit. Wolfram schlug verschiedene Male ein Kreuz, wenn das Toben gar zu arg wurde; aber er kämpfte sich trotzdem tapfer vorwärts durch das Unwetter; es gehörte freilich seine kraftvolle, mit der Bergwelt und ihren Schrecken vertraute Natur dazu, um hier überhaupt vorwärts zu kommen.

Den Weg bis zur Bergkapelle hatten die beiden Männer gemeinsam gemacht, ohne irgend eine Spur aufzufinden, und sich dann getrennt.

Michael war trotz alles Abmahnens weiter vorwärts gedrungen, nach der Adlerwand hin, deren Gebiet hier begann, während Wolfram die Richtung seitwärts nahm, in die Waldungen der Bergförsterei, die er als sein ehemaliges Revier genau kannte. Es war verabredet worden, daß, wer zuerst auf die Vermißten stieß, mit ihnen nach der Bergkapelle zurückkehren solle, um dort den Anbruch des Tages abzuwarten. In jedem Falle aber wollten die beiden Männer beim Morgengrauen dort zusammentreffen, um, wenn ihr Suchen erfolglos gewesen war, die Hilfsmannschaften aus Sankt Michael abzuwarten und dann bei Tageslicht die Nachforschungen fortzusetzen. So hatte es Hauptmann Rodenberg angeordnet.

„Wenn er überhaupt zurückkommt!“ brummte Wolfram, der eben mitten im Walde Halt machte, um auf einige Minuten zu rasten. „Es ist ja die bare Tollheit, in solcher Nacht in die Klüfte der Adlerwand zu gehen; aber er geht doch hinauf, wenn er die Gräfin unten nicht findet, darauf verwette ich meinen Kopf! Dreinreden läßt er sich ja nicht, im Gegentheil, er befiehlt, als wäre er mein Herr und Meister. Wenn ich nur wüßte, warum ich mir das eigentlich gefallen lasse und warum ich überhaupt mit ihm gegangen bin! Hochwürden hat Recht: es ist heller Wahnsinn, in solcher Höllennacht in den Bergen herumzusteigen, wo kein Ruf gehört wird, kein Zeichen möglich ist. Wir wissen ja nicht einmal die Richtung; aber das kümmert den Michel alles nicht! Und den habe ich für feig gehalten! Freilich, er wollte ja schon als Bube mitten in die wilde Jagd hinein, um sich den Spuk einmal in der Nähe anzuschauen; nur vor den Menschen lief er davon. Jetzt scheint er nicht mehr vor ihnen davon zu laufen, aber kommandiren thut er sie, daß es nur so eine Art hat. Man parirt auch, es geht eben nicht anders – grade wie bei meinem gnädigen Herrn Grafen!“

Er stieß einen Seufzer aus und wollte seinen Weg fortsetzen. Der Sturm machte grade eine Pause, und der Förster stieß wieder einen lauten, lang gezogenen Ruf aus, wie er das schon unzählige Male umsonst gethan hatte. Diesmal aber stutzte er und horchte auf, denn etwas wie der Laut einer menschlichen Stimme ließ sich vernehmen. Wolfram rief noch einmal mit aller Kraft seiner Lunge, und jetzt kam auch deutlich die Antwort zurück; in nicht allzuweiter Entfernung klang es in kläglichem Tone: „Hier! Hierher!“

„Endlich!“ rief der Förster, indem er sich schleunigst nach jener Richtung wandte. „Die Gräfin ist’s nicht, das hör’ ich an der Stimme, aber wo der Eine ist, wird auch wohl die Andere sein, also vorwärts.“

Er drang, von Neuem rufend, weiter vor. Die Antwort klang jetzt schon näher, und nach etwa zehn Minuten stieß er denn auch in der That auf den Begleiter Hertha’s, der kaum an seiner Seite war, als er sich auch an ihn anklammerte, wie der Ertrinkende an die rettende Planke.

[802] „Nun, reißt mich nur nicht um!“ brummte Wolfram. „Habt Ihr denn mein Rufen nicht früher gehört? Seit zwei Stunden schreien wir nach allen Windrichtungen hin. Wo ist die Gräfin?“

„Ich weiß es nicht – ich habe sie verloren – wohl schon seit einer Stunde.“

Der Förster machte unsanft seinen Arm frei, den Jener noch immer umklammert hielt.

„Was? Verloren? Da schlag’ doch der Donner drein! Ich denk’, endlich die Gräfin zu haben, und nun hab’ ich nur den Bedienten! Unglücksmensch, warum habt Ihr Eure junge Herrin im Stich gelassen? Warum seid Ihr nicht bei ihr geblieben, wie es doch Eure verfluchte Schuldigkeit war?“

„Es war nicht meine Schuld,“ jammerte der Diener. „Der Nebel – der Sturm – und die Pferde sind auch davon!“

„Hier handelt es sich um die Menschen und nicht um die Pferde!“ fuhr ihn Wolfram mit seiner ganzen Derbheit an. „Ich kann überhaupt aus Eurem Gejammer nicht klug werden. Erzählt doch ordentlich, der Reihe nach!“

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Titel: Sankt Michael
aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 46, S. 813–818
Novelle – 22. Fortsetzung

[813] Es dauerte eine ganze Weile, ehe der vor Erschöpfung und Todesangst halb Besinnungslose im Stande war, die Frage des Försters ausführlich zu beantworten. Es war ein alter Diener des gräflichen Hauses, treu und zuverlässig im gewöhnlichen Leben, weßhalb ihn die Gräfin auch eigens zum Begleiter ihrer Tochter bestimmt hatte; in der Gefahr aber war er augenscheinlich ganz rath- und hilflos gewesen und hatte die Lage seiner Herrin nur verschlimmert.

Sie hatten in der That, wie Michael vorausgesetzt, den falschen Weg genommen und bemerkten erst an der Bergkapelle ihren Irrthum. Jetzt wandten sie allerdings die Pferde, aber der Mond, der bis dahin hell geleuchtet, begann sich zu verschleiern und ihre Unkenntniß der Gegend wurde ihnen verhängnißvoll. Vergebens wandten sie sich hierhin und dorthin; sie konnten die Fahrstraße nicht wiederfinden, verloren endlich ganz die Richtung und geriethen vollständig in die Irre. Die Pferde, abgehetzt und unruhig geworden durch das planlose Umherirren, waren schließlich nicht mehr von der Stelle zu bringen; es blieb nichts übrig, als abzusteigen.

Jetzt brach der Sturm los, und von allen Seiten zog das Gewölk heran. Die Gräfin hatte befohlen, die Pferde zurückzuholen, die sie nicht allzuweit an einem Abhange zurückgelassen hatten. Es war ihr letzter Rettungsversuch, sich dem Instinkt der Thiere anzuvertrauen, und der Diener hatte das auch ausführen wollen, aber plötzlich sah er sich von dichtem, eisigem Nebel umgeben, der selbst das Nächste verhüllte. Er fand weder die Pferde, noch fand er sich zu seiner Herrin zurück. Sein angstvolles Rufen verhallte im Toben des Sturmes, und wahrscheinlich entfernte er sich immer weiter von ihr, während er sie suchte. Wie er schließlich hierher gerathen war, wußte er nicht zu sagen.

„Das ist nun noch das Tollste von Allem!“ brach der Förster aus. „Jetzt ist die Gräfin gar allein und möglicherweise ist sie wirklich nach der Adlerwand zu, wie Hauptmann Rodenberg es sich in den Kopf gesetzt hat. Wenn ich nur wüßte, was sie ihn eigentlich angeht, daß er wie toll und blind sein Leben für sie einsetzt! Aber nun vorwärts! Zurück zur Bergkapelle! Auf dem Wege rufen wir noch ununterbrochen, vielleicht hilft es doch!“

Das Unwetter tobt noch immer mit unverminderter Gewalt. Jagendes Sturmgewölk am Himmel, jagendes Sturmgewölk an den Bergen, ein wildes Heer von Nebel- und Schattengestalten! Dazu ein Brausen, Tosen, Heulen, das durch die Lüfte zieht und aus den Klüften emporzusteigen scheint, wie tausend Stimmen der Nacht und des Verderbens.

Am Fuße einer mächtigen Wettertanne, deren Wipfel kahl und abgestorben in die Luft hinausragt, ist eine Frauengestalt zusammengesunken, zu Tode erschöpft von dem stundenlangen Umherirren, erstarrt von dem eisigen Nebel, an jeder Rettung verzweifelnd. Das zarte, verwöhnte Grafenkind, das nur von Glanz und Pracht umgeben, sorgfältig vor jeder Anstrengung, jeder Unbequemlichkeit behütet wurde, hat sich doch tapfer und unerschrocken gezeigt der wirklichen Gefahr gegenüber, hat dem zagenden Begleiter Muth zugesprochen und ihn und sich aufrecht erhalten, so lange sie beisammen waren. Der alte zitternde Diener konnte seine junge Herrin nicht schützen und berathen, aber es war doch wenigstens ein Mensch an ihrer Seite; jetzt ist auch der verschwunden; kein Rufen, kein Suchen bringt ihn zurück, und jetzt ist sie allein, umgeben von allen Schrecken dieser wilden Sturmnacht, ganz allein!

Seitdem ist mehr als eine Stunde verflossen, und Hertha hat nur eine traumartige Erinnerung von dieser Zeit: finstere, brausende Wälder, dunkle Felshäupter, die gespenstig aufragen, Wildwasser, deren schäumender Gischt matt aufblinkt in der Mondesdämmeruug – das Alles ist wie Schatten an ihr vorübergezogen, und sie ist weiter geirrt, immer weiter, immer in der Hoffnung, noch einen Ausweg zu finden. Wie eine Nachtwandlerin ist sie an Klüften und Abgründen vorübergegangen, ohne die Furchtbarkeit ihres Weges zu ahnen, den sie nun und nimmermehr im hellen Tageslicht gemacht hätte. Aber jetzt endet der Pfad, der sie immer weiter aufwärts geführt hat, und sie kann auch nicht mehr, sie bricht zusammen.

Der Sturm scheint auf eine Minute den Athem anzuhalten; der Himmel ist heller geworden, und jetzt tritt der Mond hervor und beleuchtet klar und scharf die Umgebung. Hertha sieht, daß sie auf einen schmalen, felsigen Abhang gerathen ist und daß ihr unmittelbar zur Seite die Tiefe gähnt – rings umher ein wild zerklüftetes Meer von Felsen und Klippen, tiefer unten die nachtschwarzen Wälder und oben, in schwindelnder Höhe aufragend, die Adlerwand, an deren Felsenschroffen die Wolken dahinjagen und deren Gipfel geisterhaft leuchten in ihrem blendenden Schneegewände. Dumpf, aber deutlich vernehmbar dringt das Rauschen der stürzenden Gletscherbäche herüber, doch das Alles dauert nur Minuten. Dann beginnt von Neuem das Toben, das jeden anderen Laut verschlingt; der Mond verschwindet, und wieder verschwimmt Alles in dem fahlen unheimlichen Dämmerschein.

Die alte Tanne schwankt und ächzt und senkt sich immer tiefer; es ist, als wolle der Sturm sie losreißen von ihrem Felsengrunde. Hertha hält mit beiden Armen den Stamm umklammert; sie weint nicht, jammert nicht, aber ihr ganzer Körper bebt in Todesangst, und ein schwerer, eisiger Druck legt sich auf ihre Schläfe. Ihre Augen hängen noch immer an jenen weißleuchtenden Gipfeln, die allein noch deutlich niederschimmern, und die alte Michaelssage steigt wieder in ihrer Erinnerung auf. Von dort fährt ja Sankt Michael nieder, beim Anbruch des nächsten Tages! Kann der mächtige Schutzpatron ihres Geschlechtes, der siegreiche Heerführer des Himmels, zu dem morgen Tausende flehen: kann er nicht auch ein armes Menschenkind erretten, dessen junges warmes Leben zurückschaudert vor der eisigen Umarmung des Todes? Aber sein Reich beginnt ja erst mit dem aufsteigenden Lichte; erst mit dem Morgenstrahle zuckt sein Flammenschwert segnend und heilbringend über die Erde hin, und jetzt herrscht noch die Nacht und das Verderben!

Ein heißes, flehendes Gebet ringt sich empor aus der Brust der Verirrten. Vor ihren Blicken steht ja noch so deutlich das Bild des Erzengels mit den Adlerflügeln und den Flammenaugen, wie er über dem Hochaltare thront, von der Gluth der Abendsonne wie von einem Glorienschein umwoben, und neben ihr an jener Stätte hat ein Anderer gestanden, der die Züge jenes Bildes trägt und der ihr einst zurief: „Stände mir mein Glück auch so hoch und unerreichbar wie die Adlerwand, ich würde hinaufdringen, und brächte mir jeder Schritt Verderben!“

[814] Hertha weiß, daß es keine Phrase ist; Michael würde ihr folgen in jede Gefahr; er würde sie suchen und finden, wenn er ihr Schicksal ahnte, aber er glaubt sie ja längst geborgen in dem heimatlichen Schlosse. Und doch ist es ihr, als müsse das angstvolle, leidenschaftliche Sehnen, in das sich ihr ganzes Denken und Fühlen zusammendrängt, ihn herbeiziehen, als könne und müsse er den Aufschrei hören, der jetzt laut und verzweiflungsvoll von ihren Lippen bricht, halb ein Gebet zu Sankt Michael und halb ein Ruf nach dem Geliebten: „Michael – zu Hilfe!“

Da klingt ein anderer Ruf zu ihr empor, noch fern, halb verweht, aber es ist seine Stimme und die hört sie durch all das Sturmesbrausen, wie er die ihrige gehört hat. „Hertha!“ Und jetzt zum zweiten Male, wie mit einem stürmischen Aufjauchzen: „Hertha!“ Sie rafft sich empor und antwortet; immer näher kommt der rettende Klang, und jetzt muß der Retter sie entdeckt haben, denn dicht unter ihr tönt es:

„Da oben? – Muth! – Ich komme!“

Es vergehen noch einige endlose, qualvolle Minuten. Michael scheint langsam, mühsam emporzusteigen, aber jetzt taucht er auf, setzt den Bergstock ein und schwingt sich auf die Felsplatte; jetzt steht er neben Hertha und legt beide Arme um die Wankende, und sie schmiegt sich an seine Brust, als wollten sie sich nimmer wieder lassen.

Aber der Moment seligen Selbstvergessens ist nur ein kurzer; noch umringt sie die Gefahr, es darf keine Minute versäumt werden.

„Wir müssen hinunter!“ drängt Michael. „Die Tanne wankt und ist schon halb entwurzelt; sie kann jeden Augenblick stürzen; hier in den Klüften ist überhaupt keine Sicherheit. Komm, Hertha!“

Er hat sie nicht losgelassen, und sie lehnt sich an seine Schulter, mit vollem, hingebendem Vertrauen. Michael geht voran und sie führend, oft halb tragend, geleitet er sie niederwärts. Der Mond ist wieder hervorgetreten und leuchtet ihnen auf ihrem Wege; aber er zeigt ihnen auch die ganze Furchtbarkeit dieses Weges, den Hertha halb unbewußt gemacht hat und dessen Gefahren sich bei der Rückkehr verdoppeln. Aber Michael hat nicht umsonst zehn Jahre lang in diesen Bergen gelebt, und der Mann hat nicht vergessen, was der Knabe einst gelernt, dem kein Felsgipfel zu hoch und keine Kluft zu tief war – das zeigt er jetzt. So klimmen sie abwärts, ihnen zur Seite der Abgrund, rings um sie her die wilde, brausende Sturmnacht und in ihren Herzen ein grenzenloses, triumphirendes Glück, das keine Stürme und Abgründe mehr schrecken. So erreichen sie endlich den sicheren Boden. Michael hat Wort gehalten – er holte sich sein Glück von der Adlerwand! – –

Der Sturm hatte gegen Morgen nachgelassen; er tobte nicht mehr mit der alten Wuth, und auch der Himmel begann sich allmählich aufzuhellen: langsam sanken die Wolken in die Thäler nieder und um die Berge wob sich das erste matte Grau der Morgendämmerung.

Michael hatte am Ausgange der Felsenklüfte Halt gemacht. Die Bergkapelle lag noch fast eine Stunde entfernt, und er mußte seiner aufs Aeußerste erschöpften Begleiterin Ruhe gönnen. Die Gefahr war ja auch jetzt überwunden, der Rückweg bot keine Schwierigkeiten mehr, wenn man das Tageslicht abwartete. Er hatte Hertha im Schutze eines Felsens geborgen, wo der Sturm sie nicht erreichte, und ihr auf einem Stein einen Sitz bereitet, während er neben ihr stand. Der Anzug der jungen Gräfin trug noch die Spuren der nächtlichen Wanderung; ihr dunkler Regenmantel war zerfetzt und zerrissen, der Hut verloren, die schweren Flechten hatten sich gelöst und fielen über die Schultern, während das Haupt noch bleich und matt an der Felswand lehnte. Und doch glaubte Michael, sie nie so schön gesehen zu haben wie in diesem Augenblick, seine so schwer erkämpfte, seine im Sturme errungene Braut.

Sie hatten kaum gesprochen auf dem Wege hierher; jeder Schritt ging ja um das Leben; auch jetzt schwiegen sie noch und blickten empor zu der Adlerwand, wo das Dämmerungsgrau einem leichten röthlichen Schein zu weichen begann, der mit jeder Minute heller wurde. Endlich beugte sich Michael nieder und sagte leise, aber mit vollster Innigkeit:

„Hertha!“

Sie sah zu ihm empor und streckte ihm plötzlich beide Hände entgegen.

„Michael, wie konntest Du mich finden in jenen Klüften? Du hattest ja nicht einmal eine Spur meines Weges!“

Er lächelte und zog die Hände an seine Lippen.

„Nein, aber ich hatte eine Ahnung, wo meine Hertha war, wo sie sein mußte, und die leitete mich zu ihr! Du ahntest ja auch meine Nähe, Du riefst nach mir, noch ehe Du meine Stimme hörtest. Und jetzt lasse ich mich nicht mehr schrecken mit dem herben ‚Niemals!‘, das Du mir gestern zuriefest, mit dem Worte, das Du einem ungeliebten Manne gegeben hast. Ich habe Dich der Adlerwand abgekämpft; da werde ich auch wohl Sieger bleiben über Raoul Steinrück.“

„Ich kann auch sein Weib nicht werden!“ brach Hertha aus. „Jetzt weiß ich, daß ich es nun und nimmermehr werden kann! Aber laß den Streit nicht wieder beginnen, Michael, ich flehe Dich an. Wenn es möglich ist –“

„Es ist aber nicht möglich!“ unterbrach sie Michael ernst. „Täusche Dich nicht, Hertha; es gilt einen Kampf, wahrscheinlich einen Bruch mit Deiner ganzen Familie, die es Dir nie verzeiht, wenn Du ein Band zerreißest, das sie so sorgsam geknüpft hat, wenn Du einen Grafen Steinrück opferst, um einem bürgerlichen Officier anzugehören, der nichts besitzt als seinen Degen und seine Zukunft. Und es giebt noch etwas Anderes, mit dem man Dich und mich quälen wird; ich habe es Dir ja gestern in der Kirche enthüllt – den dunklen Punkt meines Lebens.“

„Das Andenken Deines Vaters!“ sagte sie leise.

„Ja. Man wird es Dir immer und immer wieder in das Gedächtniß rufen, daß Du dem Sohne eines Abenteurers folgst, dessen Name nicht rein ist. Ich dachte Dich gestern damit zu schrecken, und Du dachtest nur an mein Leiden dabei; aber wirst Du auch Stand halten, wenn der Schatten in Dein eigenes Leben hineingreift, wenn jener Name der Deinige ist?“

Sein Auge suchte das ihrige, mit einem letzten Aufflammen des alten Argwohns, welcher der einstigen Gräfin Steinrück galt mit ihrem hochmüthigen, übermüthigen Selbstbewußtsein. Aber jetzt war der trügerische Schimmer geschwunden aus den „schönen schlimmen Augen“, die es einst schon dem Knaben angethan hatten; sie leuchteten in der sonnigen Klarheit der Liebe und des Glückes.

„Muß ich es Dir denn wiederholen, was ich Dir schon gestern sagte, als Du von Deiner Mutter sprachest? Auch ich folge dem Manne meiner Liebe, der ganzen Welt zum Trotze, und wäre es selbst in Elend und Schmach, wäre es selbst in das Verderben!“

Er zog sie stürmisch in seine Arme, und sie schmiegte sich an ihn, wie vorhin auf jenem Felsen der Adlerwand, hinter der es jetzt dunkelroth aufglühte. Wie ein leuchtender Flammenbote stieg das Morgenroth empor. Schon begannen sich die Schneegipfel rosig zu färben, und jetzt erglühte auch das Sturmgewölk, das noch immer den Himmel umlagerte, in seltsamer feuriger Pracht.

„Der Tag bricht an!“ sagte Michael, während er wieder und immer wieder seine Lippen auf die Stirn der Geliebten preßte, auf das „rothe Märchengold“, das jetzt an seiner Brust ruhte. „Sobald Du Dich erholt hast, treten wir den Rückweg an; ich bringe Dich noch heute zu Deiner Mutter.“

„Meine Mutter!“ wiederholte Hertha schmerzlich. „O mein Gott, ich habe kaum an sie gedacht in diesen letzten Stunden; ich war ja vielleicht dem Tode näher als sie. Die Mutter würde meinen Bitten nachgeben, das weiß ich; aber sie kennt keinen anderen Willen als den meines Onkels Michael, dem sie sich blind unterwirft, und der Kampf mit ihm wird unendlich schwer werden.“

„Den überlaß mir!“ fiel Michael ein. „Ich werde dem General sofort nach meiner Rückkehr mittheilen, daß Du Dein Wort von Raoul zurückforderst, daß –“

„Nein, nein!“ wehrte sie angstvoll. „Den ersten Sturm muß ich aushalten. Du kennst meinen Vormund nicht.“

„Ich kenne ihn, besser als Du glaubst, und es ist nicht das erste Mal, daß wir Beide mit einander kämpfen. Wenn Einer diesem Kampfe gewachsen ist, so bin ich es – bin ich doch von seinem Blute!“

Hertha sah ihn verwundert, aber verständnißlos an.

[815] „Was sagtest Du? Ich verstand Dich nicht.“

Er ließ sie aus seinen Armen und richtete sich empor.

„Ich habe Dir noch etwas verschwiegen Hertha, absichtlich verschwiegen. Ich wollte erproben, ob Du mir angehören würdest, auch wenn ich Dir nichts Anderes war, als der Sohn eines fremden heimatlosen Abenteurers. Ich bin Dir und den Deinen nicht fremd, und auch mein Vater war es nicht. Hast Du nie von einem zweiten Kinde des Generals, von einer Tochter gehört?“

„Gewiß! Louise Steinrück! Sie war sogar, wie ich glaube, ursprünglich meinem Vater zur Gemahlin bestimmt; aber sie starb ja so jung, kaum achtzehn Jahr alt.“

„Also Du hast von ihr nur als von einer Todten gehört? Ich dachte es mir! Ja, sie starb, für ihren Vater, ihre Familie, die sie verstießen, als sie dem Manne ihrer Wahl folgte – es war meine Mutter!“

Die junge Gräfin fuhr auf in grenzenloser Ueberraschung.

„Ist es möglich? Du ein Steinrück?“

„Ein Rodenberg, Hertha! Vergiß das nicht, ich habe keinen Theil an dem Namen meiner Mutter und an ihrer Familie, will keinen haben.“

„Und Dein Großvater? Weiß er –?“

„Ja, aber er sieht in mir nur den Sohn der verstoßenen, verleugneten Tochter, deren Name noch heute nicht vor ihm genannt werden darf, und wenn ich Dich vollends seinem Erben, seinem Raoul entreiße, wird er das Aeußerste gegen uns aufbieten. Gleichviel, Du hast Dich mir zu eigen gegeben, jetzt werde ich mein Glück zu wahren wissen!“

Er stand in der That da, als sei er bereit, der ganzen Welt Trotz zu bieten. Dann bot er der Geliebten die Hand, um sie zurückzuführen in diese Welt, die so fern lag, da unten in der Tiefe, noch umsponnen von Nebelduft und Dämmerung. Hier oben aber waren die Schneegipfel schon in Purpurgluth getaucht, der ganze östliche Himmel leuchtete und flammte; jetzt blitzte es dort auf, fast wie das Zucken eines Schwertes, und dann stieg langsam, gluthroth die Sonne empor. Im Sturme geboren, grüßte das Licht des neuen Tages die Erde – im flammenden Morgenstrahle stieg Sankt Michael nieder von der Adlerwand!


Die Gräfin Steinrück war allerdings sehr bedenklich erkrankt, so bedenklich, daß man ihr auf den Rath des Arztes vollständig die Gefahr verschwieg, in der ihre Tochter geschwebt hatte. Hertha, die im Laufe des nächsten Tages eingetroffen war, mußte der Mutter erzählen, daß der Ausbruch des Sturmes sie so lange in Sankt Michael zurückgehalten hatte, und so erfuhr die Kranke nicht einmal das Zusammentreffen mit dem Hauptmann Rodenberg.

Es war ungefähr eine Woche später. In einem der Fremdenzimmer von Schloß Steinrück saß der Pfarrer von Sankt Michael bei seinem Bruder, der hier eingetroffen war und ihm seine Ankunft gemeldet hatte. Das Gespräch der Beiden mußte ernster Natur gewesen sein; das sah man an ihren Mienen, und soeben sagte Professor Wehlau:

„Ich kann Dir leider keine Hoffnung geben. Die Wendung, die das langjährige Leiden der Gräfin genommen hat, ist eine tödliche. Ihr Zustand ist ja glücklicherweise schmerzlos, und sie hat keine Ahnung von der Gefahr desselben, aber er ist auch hoffnungslos. Ich gebe ihr nur noch vier bis sechs Wochen; sie wird die Vermählung ihrer Tochter nicht mehr erleben.“

„Ich habe es gefürchtet, als ich die Gräfin wiedersah,“ entgegnete Valentin. „Jedenfalls ist es mir eine Beruhigung, daß Du gekommen bist. Ich weiß, Du hast ein Opfer gebracht mit dieser Reise, Du hast Dich mitten aus Deinen Vorlesungen gerissen und behandelst ja sonst überhaupt keine Krauken mehr.“

Wehlau zuckte die Achseln.

„Was sollte ich denn machen! Erstlich ist mir die Gräfin keine Fremde; meine Beziehungen zu der Steinrück’schen Familie sind ja fast so alt wie die Deinigen, und dann hat mir auch Michael, der die Nachricht von der Erkrankung mitbrachte, keine Ruhe gelassen. Er drängte so lange, bis ich mich zur Reise entschloß. Ich fand das sonderbar; er kennt die Gräfin doch nur in gesellschaftlicher Hinsicht; aber er ließ nicht nach, bis er mein Versprechen hatte.“

Der Pfarrer war aufmerksam geworden bei den letzten Worten, doch er äußerte nichts darauf, sondern fragte nur:

„Du hast Hans mitgebracht? Ich werde ihn doch sehen?“

„Gewiß, er kommt in den nächsten Tagen zu Dir. Selbstverständlich ist er drüben in Tannberg, bei unseren Verwandten, während ich der Gräfin wegen im Schlosse bleibe. Der Junge ist ganz unberechenbar in seinen Launen! Schon im April sprach er davon, daß er wieder in die Berge müsse, um Studien zu machen, bis ich ihm zu Gemüth führte, daß das eine Verrücktheit sei, da die Berge noch im Schnee lagen. Jetzt, als er von meiner Abreise hört, fällt es ihm auf einmal ein, daß er sich in Tannberg ,erholen’ müsse. Wahrscheinlich von der Bewunderung und all dem sonstigen Unsinn, womit man ihm in der letzten Zeit den Kopf verdreht hat, und das wird meine Schwägerin natürlich mit frischen Kräften fortsetzen.“

„Du hast ihn aber trotzdem mitgenommen?“

„Mitgenommen?“ spottete Wehlau. „Als ob ich dabei noch etwas zu sagen hätte! Der Herr Künstler ist ja selbständig geworden, und ich darf bei Leibe dem Genie keine Fesseln mehr anlegen, auch wenn es die allerverrücktesten Einfälle hat. Genug, er ging mit und kommt täglich mit der größten Regelmäßigkeit von Tannberg herüber, um mich zu besuchen und zu sehen, wie es hier steht. Ich werde nicht klug aus dem Jungen, so wenig wie aus dem Michael! Sie kümmern sich um die kranke Gräfin mit einem Eifer, als ob es ihre Mutter wäre. Uebrigens ist sie in guten Händen bei dem hiesigen Arzte und bei ihrer jungen Pflegerin – wie heißt sie doch?“

„Gerlinde von Eberstein.“

„Ganz recht! Ein seltsames kleines Ding, das kaum den Mund öffnet und ganz unglaubliche Knixe macht. Aber als Pflegerin ist sie vorzüglich, mit ihrem sanften, stillen Wesen. Gräfin Hertha ist viel zu erregt und angstvoll am Krankenbett.“

Sie wurden unterbrochen. Der Arzt war gekommen und wünschte seinen berühmten Kollegen zu sprechen. Dieser erhob sich und ging hinaus, aber der Diener brachte noch eine zweite Meldung. Auch der Förster Wolfram war da und bat, mit Hochwürden reden zu dürfen. Valentin ließ ihn eintreten und wandte sich freundlich zu ihm.

„Ihr seid noch hier, Wolfram? Ich glaubte, Ihr wäret schon nach Eurer Försterei zurückgekehrt.“

„Ich geh’ morgen nach Haus,“ versetzte der Förster. „Mein Geschäft in Tannberg ist jetzt erst zu End’ gebracht; da wollt’ ich doch vorher noch einmal anfragen, wie es mit der gnädigen Gräfin steht. Die Diener sagen, es ginge gar nicht gut, aber ich hörte von ihnen, daß Sie im Schloß wären, Hochwürden, und da dacht’ ich –“ er stockte, ganz wider seine Gewohnheit, und schien nach Worten zu suchen.

„Ihr wolltet mir Lebewohl sagen,“ fiel Valentin ein.

„Ja, das auch, aber eigentlich ist’s etwas Anderes. Hochwürden, ich hab’ die Sache nun acht Tage lang mit mir herumgetragen und zu keiner Menschenseel’ davon gesprochen, aber jetzt halt’ ich es nimmer aus – Ihnen muß ich es sagen!“

„Nun, so sprecht, was ist es denn?“ Wolfram warf einen Blick nach der Thür, ob sie auch geschlossen sei; dann trat er näher und dämpfte die Stimme.

„Der Michel – den Hauptmann Rodenberg mein’ ich – ich glaube, der holt sich nächstens die Sonne vom Himmel herunter, wenn es ihm grad’ einfällt. Was er jetzt angestiftet hat, ist nicht viel anders. Das wird einen Lärm geben in der hochgräflichen Familie! Seine Excellenz der General wird mit einem Donnerwetter dreinfahren, daß die Berge zittern, und dann wird der Hauptmann wieder auf ihn losgehen, wie damals; dem traue ich jetzt Alles zu.“

„Ihr sprecht von Michael?“ fragte Valentin befremdet. „Er ist ja aber längst wieder in der Stadt; mein Bruder hat mir soeben einen Gruß von ihm gebracht.“

„Kann schon sein. Ich sprech’ auch nur von der Sturmnacht, in der wir die junge Gräfin suchten. Ich war mit dem Diener, den ich unterwegs aufgegriffen hatte, bei der Bergkapelle angelangt, wo wir uns treffen wollten. Da ließ ich den Mann zurück, damit doch Einer da sei, um Auskunft zu geben, und ich ging noch ein Stück nach der Adlerwand zu, gerade beim Morgengrauen. Ich dacht’ irgend eine Spur zu finden; denn ich glaubte eigentlich nicht, daß der Hauptmann oder die Gräfin lebendig zurückkommen würde. Aber nach einer Weile fand ich sie alle Beide, an einem Felsen, und sie waren sehr lebendig – sie küßten sich!“

[816] „Wie?“ rief der Pfarrer zurückweichend.

„Ja, darüber entsetzen Sie sich, Hochwürden! Ich hab’ es auch gethan, aber ich hab’ es gesehen mit meinen beiden leiblichen Augen. Er, der Michel, hatte die junge Gräfin im Arm und küßte sie – da muß doch die Welt untergehen!“

Valentin hätte wahrscheinlich eine ähnliche Empfindung gehabt, wenn man ihm vor vierundzwanzig Stunden eine derartige Eröffnung gemacht hätte; seit gestern Abend war er einigermaßen darauf vorbereitet und sah mehr bekümmert als überrascht aus, während er leise vor sich hin sagte: „Also ist es doch zu einer Erklärung gekommen; ich habe es gefürchtet! – Und die Gräfin?“

„Nun, der Gräfin schien die Sache ganz pläsirlich zu sein, denn sie sträubte sich nicht im Mindesten. Die Beiden sahen und hörten mich nicht, aber ich hörte es ganz deutlich, wie er sagte: ‚Meine Hertha!’ Als ob sie ihm von Rechts wegen gehörte, und sie ist doch die Braut des jungen Grafen! Jetzt frag’ ich Sie, Hochwürden, was soll aus der Geschicht’ werden?“

„Das weiß der Himmel!“ sagte Valentin mit einem tiefen Seufzer. „Es wird einen schweren Kampf in der Familie geben.“

„Natürlich,“ stimmte der Förster bei. „Ich sag’ es ja, der Bub’ hat immer nur Unheil angerichtet! Jetzt macht er es grad’ so. Der ist nicht mit einem Kuß zufrieden, der ist im Stande und will die Reichsgräfin aus dem erlauchten Geschlecht mit all ihren Ahnen und Millionen heirathen! Und wenn man sie ihm nicht geben will, dann schießt er den jungen Grafen über den Haufen, schlägt sich mit dem General und der ganzen hochgräflichen Familie herum, schlägt Alles kurz und klein, holt sich ,seine Hertha’ aus dem Schlosse, wie er sie sich schon von der Adlerwand geholt hat, und heirathet sie! – Geben Sie Acht, so kommt es!“

Wolfram war augenscheinlich in das andere Extrem gerathen und zu einer schrankenlosen Bewunderung des einst so verhöhnten Pflegesohnes übergegangen, die er allerdings noch hinter einem grollenden Tone verbarg. Er war überzeugt, Michael könne jetzt schlechterdings Alles erreichen, es sogar mit dem General aufnehmen, und das war in seinen Augen die ungeheuerste aller Leistungen.

Den Pfarrer dagegen hatte diese Eröffnung in schwere Sorge gestürzt; was er seit gestern Abend gefürchtet, war nur zu schnell eingetroffen, und doch konnte er für den Augenblick nichts thun als schweigen und auch den Förster dazu veranlassen. Das Letztere bot keine Schwierigkeit. Wolfram schien die Sache als eine Art Beichte zu betrachten und gab bereitwillig das geforderte Versprechen. Aber als er gegangen war, faltete der Greis die Hände und sagte schmerzlich: „Das giebt einen Kampf auf Leben und Tod mit dem General! Und wenn diese beiden gleich eisernen und unbeugsamen Naturen sich erst feindlich gegenüberstehen – mein Gott, was soll daraus werden?“


Es war am Nachmittage desselben Tages. Valentin war bereits wieder auf dem Rückwege nach Sankt Michael, und der Professor befand sich in seinem Zimmer und erledigte einige Briefe, die man ihm nachgesandt hatte, als ihm der Freiherr von Eberstein gemeldet wurde.

Der alte Herr war gekommen, um seine Tochter zu sehen und sich Nachrichten über das Befinden der Gräfin zu holen, und da er von der Ankunft des berühmten Professors aus der Hauptstadt gehört hatte, wollte er die Gelegenheit benutzen und diesen auch über sein eigenes Leiden zu Rathe ziehen. Wehlau ahnte so etwas, als er die hüstelnde gebrechliche Gestalt eintreten sah, und nahm sofort eine ablehnende Haltung an; denn er war keineswegs geneigt, die Ausnahme, die er mit der Gräfin machte, auf Fremde auszudehnen.

„Udo, Freiherr von Eberstein-Ortenau auf Ebersburg!“ sagte der alte Herr, mit steifer, feierlicher Würde den Kopf neigend.

„Ist mir bereits gemeldet,“ versetzte Wehlau trocken, indem er dem Gaste einen Stuhl hinschob. „Womit kann ich dienen?“

Der Freiherr ließ sich nieder, etwas verdutzt über diesen Empfang; sein Name und Titel schienen hier gar keine Wirkung zu üben.

„Ich habe gehört, daß Sie herberufen sind, um die Frau Gräfin Steinrück zu behandeln,“ hob er wieder an, „und wünschte ausführlich mit Ihnen darüber zu sprechen.“

Der Professor ließ einen brummenden Laut hören. Er liebte es überhaupt nicht, mit Laien über Krankheitsfälle zu sprechen, und dachte nicht daran, die Auseinandersetzung, die er allerdings seinem Bruder gegeben hatte, hier zu wiederholen. Eberstein aber, der jenen Laut für Zustimmung nahm, fuhr fort: „Zugleich möchte ich auch Ihren Rath wegen meines eigenen Leidens in Anspruch uehmen, das mich schon jahrelang –“

„Bedaure sehr,“ fiel ihm Wehlau schroff in die Rede. „Ich übe keine ärztliche Praxis mehr aus und bin überhaupt nicht ,herberufen’. Wenn ich an das Krankenbett der Frau Gräfin eilte, so ist das eine Freundschaftssache; die Behandlung Fremder übernehme ich nicht.“

Der Freiherr sah höchst erstaunt und entrüstet den bürgerlichen Professor an, der die ärztliche Behandlung einer Gräfin Steinrück Freundschaftssache nannte und die Behandlung eines Eberstein überhaupt ablehnte. Er hatte in seiner weltfernen Einsamkeit keine Ahnung von der äußeren Lebensstellung des berühmten Forschers; aber er hatte früher einmal gehört, daß die Gelehrten eine ganz eigene Klasse von Menschen seien, lauter Sonderlinge, gänzlich unbekannt mit den Formen der guten Gesellschaft und in Folge dessen sämmtlich grob und rücksichtslos. Er verzieh dem Professor daher großmüthig diese Standeseigenthümlichkeit, und da er seinen Rath und Beistaud doch nun einmal brauchte, beschloß er, ihm vor allen Dingen klar zu machen, wer eigentlich vor ihm sitze.

„Ich bin der gräflichen Familie eng befreundet,“ begann er wieder. „Wir sind wohl die beiden ältesten Geschlechter im Lande; das meinige ist allerdings zweihundert Jahre älter, es stammt aus dem zehnten Jahrhundert.“

„Das ist sehr merkwürdig,“ sagte Wehlau, der durchaus nicht begriff, was das zehnte Jahrhundert hier zu thun hatte.

„Es ist eine Thatsache!“ erklärte Eberstein, „eine historisch beglaubigte Thatsache. Graf Michael, der Ahnherr der Steinrück, taucht erst in den Kreuzzügen aus dem Dunkel der Sage auf, während Udo von Eberstein –“ und damit tauchte er selbst in die Tiefen seiner Hauschronik und begann einen ähnlichen Sermon, wie jener, mit dem Gerlinde auf der Ebersburg den jungen Gast so erschreckt hatte. Es wimmelte darin von Ritternamen und Fehden und von all dem glorreichen Mord und Todtschlag des Mittelalters, so weit das Eberstein’sche Geschlecht daran betheiligt war.

Der Professor schien anfangs zu überlegen, wie er den unbequemen Besuch am schnellsten zur Thür hinausbefördern könne; allmählich aber wurde er aufmerksam; er rückte sogar seinen Stuhl näher und sah dem alten Herrn minutenlang starr und unverwandt in die Augen; plötzlich aber unterbrach er ihn mitten in der Rede und ergriff seine Hand.

„Erlauben Sie – Ihr Zustand interessirt mich – merkwürdig, der Puls geht ganz normal!“

Der Freiherr triumphirte: ja freilich, jetzt wußte dieser unhöfliche Professor, daß er den Sprossen eines alten höchst erlauchten Geschlechtes vor sich hatte, und ließ sich schleunigst zu der erst verweigerten Behandlung herbei!

„Sie finden meinen Puls normal?“ fragte er. „Das freut mich, aber Sie werden mir trotzdem doch einige Verordnungen –“

„Eisumschläge auf den Kopf, mindestens vierundzwanzig Stunden lang,“ sagte Wehlau lakonisch.

„Um des Himmelswillen – bei meiner Gicht!“ rief der alte Herr entsetzt. „Ich kann nur Wärme vertragen, und wenn Sie meinen Zustand eingehend untersuchen, so –“

„Ist gar nicht nöthig! Was Ihnen fehlt, weiß ich schon!“ erklärte der Professor.

Die Achtung des Freiherrn stieg. Das mußte allerdings ein bedeutender Arzt sein, der durch bloßes Anschauen den Zustand des Patienten erkannte, ohne auch nur eine Frage an ihn zu richten.

„Die Gräfin hat mir allerdings Ihren Scharfblick gerühmt,“ entgegnete er, „aber ich möchte noch eine Frage an Sie richten, Herr Professor Wehlau. Ihr Name fällt mir auf. Stehen Sie vielleicht in irgend einer Beziehung zu den Wehlau Wehlenberg auf Forschungstein?“

[817] „Forschungstein?“ Der Professor griff schleunigst wieder nach dem Puls des Freiherrn, was dieser sich auch ruhig gefallen ließ, während er wohlwollend fortfuhr:

„Es wäre ja nicht das erste Mal, daß das Mitglied eines alten Hauses auf die Führung des Adelstitels verzichtet, wenn es durch die Verhältnisse gezwungen wird, eine bürgerliche Profession zu ergreifen.“

„Bürgerliche Profession!“ fuhr Wehlau auf. „Herr, glauben Sie etwa, daß die Naturwissenschaften ein Schusterhandwerk sind?“

„Jedenfalls sind sie kein passender Beruf für den Adel,“ sagte Eberstein hochmüthig. „Was aber den Forschungstein betrifft, so ist es der Stammsitz eines jungen Edelmannes, der im vorigen Herbste nach der Ebersburg kam und während einer Gewitternacht meine Gastfreundschaft in Anspruch nahm. Ein liebenswürdiger junger Mann, dieser Hans Wehlau Wehlenberg –“

„Auf Forschungstein!“ fiel der Professor laut auflachend ein. „Jetzt wird mir die Geschichte klar! Das ist wieder einer der tollen Streiche meines Jungen. Hat er mir doch selbst erzählt, daß er während eines Gewitters in einer alten Burg Unterkunft gesucht und gefunden hat. Es thut mir leid, Herr Baron, aber da hat Ihnen mein gottloser Bube eine fürchterliche Nase gedreht. Der Einfall mit dem Forschungstein ist gar nicht so übel, aber das ist auch der einzige Adel, den er und ich aufzuweisen haben. Im Uebrigen ist er gut bürgerlich Hans Wehlau, grade so wie ich, und wegen seiner Standeserhöhung werde ich ihm noch gründlich den Text lesen.“

Er fing von Neuem an zu lachen. Aber der alte Herr schien die Sache durchaus nicht von der komischen Seite zu nehmen. Er saß anfangs ganz sprachlos da vor Zorn und Entrüstung, und endlich brach er aus:

„Ihr Sohn? Nur Hans Wehlau? Und ich habe ihn als einen Standesgenossen aufgenommen! Ich habe ihn völlig als meines Gleichen behandelt! Einen jungen Menschen, ohne Namen, ohne Familie –“

„Bitte sehr!“ unterbrach ihn der Professor gereizt. „Ich will den tollen Streich nicht entschuldigen. Was aber den Namen und die Familie betrifft, so ist Hans erstens mein Sohn, und ich glaube doch Einiges in der Wissenschaft geleistet zu haben, und zweitens hat er selbst schon Tüchtiges geleistet, auf einem [818] anderen Felde. Der Name Wehlau kann sich getrost neben den der Eberstein stellen, der seine ganze Bedeutung nur einer alten verrotteten Institution verdankt, die heut zu Tage gar keine Berechtigung mehr hat.“

Das traf den Freiherrn an seiner empfindlichsten Seite; er erhob sich in voller Empörung.

„Verrottete Institution? Keine Berechtignng mehr? Herr Wehlau, ich kan von Ihnen kein Verständniß für Dinge verlangen, die einem Bürgerlichen offenbar zu hoch sind, aber ich fordere Ehrfurcht vor –“

„Fällt mir gar nicht ein!“ schrie der Professor, der jetzt auch in Zorn gerieth. „Ich bin ein Mann der Wissenschaft, der Aufklärung und habe nicht die mindeste Ehrfurcht vor dem Staub und Moder des zehnten Jahrhunderts und vor den Udo’s und Kuno’s und Kunrad’s und wie die Kerle alle heißen, die nichts weiter verstanden, als sich zu betrinken und unter einander todtzuschlagen. Die Zeiten sind Gott sei Dank vorbei, und wenn das alte Eulennest, die Ebersburg, erst ganz in Trümmer gefallen ist, weiß kein Mensch mehr etwas davon!“

„Mein Herr –“ schrie Eberstein, zitternd und kirschroth im ganzen Gesichte; weiter kam er nicht, denn die Aufregung zog ihm einen fürchterlichen Hustenanfall zu. Er rang nach Athem und bot einen so jammervollen Anblick, daß sich in Wehlau denn doch der Arzt zu regen begann. Er sprang hinzu, drückte seinen Gegner auf den Stuhl nieder, stützte ihm den Kopf und bemühte sich, ihm Luft zu schaffen, alles in voller Wuth, aber der alte Herr wehrte sich dagegen.

„Lassen Sie mich!“ keuchte er. „Ich will keine Hilfe von einem Umstürzler – einem Gottesleugner – einem –“

Er stand mit einem Aufflammen seiner einstigen Kraft plötzlich wieder auf den Füßen, griff nach seinem Stock und hinkte energisch zur Thür hinaus.

„Eisumschläge auf den Kopf – vierundzwanzig Stunden lang – vergessen Sie das nicht!“ rief ihm der Professor nach und warf sich in einen Stuhl, um seinen Aerger verrauchen zu lassen. Der Freiherr aber wollte im Gegentheil den seinigen erst austoben und hinkte schleunigst nach dem Empfangzimmer, um seiner Tochter die unerhörte Geschichte mitzutheilen. Sie kannte ja auch diesen „jungen Menschen ohne Namen und Familie“, der sich als ritterbürtig auf der Ebersburg eingeschlichen hatte; sie theilte zweifellos die Empörung darüber.

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Titel: Sankt Michael
aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 47, S. 832–835
Novelle – 23. Fortsetzung

[832] Während die beiden Väter sich so in vollster Feindseligkeit gegenüberstanden, saßen ihre Kinder ganz friedlich und freundschaftlich bei einander. Hans Wehlau war von Tannberg herübergekommen, um seinen lieben Papa zu sehen und sich nach dem Befinden der Gräfin zu erkundigen. Das Letztere schien ihm aber das Wichtigere zu sein, denn er that es regelmäßig zuerst, und zwar holte er sich die Nachrichten nicht bei dem Vater, der sie ihm doch am besten hätte geben können, sondern – bei Fräulein von Eberstein, welche die gewünschte Auskunft stets selbst zu geben pflegte. Der Professor ahnte natürlich nichts von diesen Anfragen und Auskünften, sondern war der Meinung, sein Sohn komme direkt zu ihm, und freute sich über diese Anhänglichkeit, die offenbar neueren Datums war.

Auch heute hatte der junge Künstler sich bei dem gnädigen Fräulein melden lassen, und das gnädige Fräulein war schleunigst in das Empfangszimmer gekommen, wo sie nun schon länger als eine halbe Stunde bei einander saßen und wohl auch von anderen Dingen gesprochen hatten, als von der Krankheit der Gräfin; denn Hans sagte soeben:

„Sie haben es also Ihrem Herrn Vater noch nicht mitgetheilt? Er hält mich noch immer für einen Wehlau Wehlenberg?“

„Ich – ich fand noch keine Gelegenheit dazu,“ versetzte Gerlinde stockend. „Schreiben wollte ich es dem Papa nicht, denn ich wußte, es würde ihn kränken; deßhalb habe ich ihm unser Zusammentreffen ganz verschwiegen. Dann gingen wir nach Berkheim und als wir hierher kamen, erkrankte die arme Tante gleich am ersten Tage – da konnte ich vollends nicht von solchen Dingen sprechen.“

Die Worte klangen sehr ängstlich und zaghaft; Hans sah es deutlich, daß ihr nicht die Gelegenheit, sondern der Muth gefehlt hatte.

„Und überdies fürchten Sie den Zorn des Freiherrn gegen mich!“ ergänzte er. „Ich begreife das vollkommen und werde Ihnen selbstverständlich diese peinliche Auseinandersetzung ersparen. Ich fahre in den nächsten Tagen selbst nach der Ebersburg und bekenne dort reuig meine Sünden.“

„Um des Himmelswillen nicht!“ rief Gerlinde erschrocken. „Sie kennen meinen Papa nicht; er hat so strenge Grundsätze in dieser Beziehung und würde es nie zugeben –“

„Daß der bürgerliche Hans Wehlau als Gast in sein Haus kommt und mit seiner Tochter verkehrt – möglich! Die Frage ist nur, ob Sie mir das erlauben, mein Fräulein?“

„Ich?“ fragte das junge Mädchen in äußerster Befangenheit. „Ich habe ja nichts zu verbieten oder zu erlauben.“

„Und doch verlange ich die Antwort von Ihnen allein! Weßhalb glauben Sie denn, daß ich hierher gekommen bin? Doch nicht meiner Verwandten in Tannberg wegen! Ich hielt es nicht mehr aus in der Stadt, trotzdem mir die letzten Monate soviel Glück gegeben hatten. Der erste Erfolg eines Künstlers hat ja etwas Berauschendes, und mir ist er so ganz und voll zu Theil geworden, wie ich es kaum gehofft hatte. Von allen Seiten strömte es mir entgegen, und doch konnte ich eine Erinnerung, ein Sehnen nicht los werden, das immer wieder auftauchte, das mir keine Ruhe ließ und zuletzt so allmächtig wurde, daß es mich gewaltsam fortzog – meiner Sehnsucht nach!“

Gerlinde saß mit tiefgesenkten Wimpern und glühenden Wangen da. So jung und unerfahren sie auch noch war, diese Sprache verstand sie doch; sie wußte, wohin die Sehnsucht ihn gezogen. Er hatte sich erhoben und stand jetzt an ihrer Seite, und während er sich tief zu ihr niederbeugte, gewann seine Stimme wieder jenen weichen, innigen Ton, den man selten von den Lippen des übermüthigen jungen Künstlers hörte.

„Darf ich nach der Ebersburg kommen? Ich möchte sie so gern noch einmal erleben, die sonnige Morgenstunde auf den alten Burgtrümmern, hoch über dem grünen Waldmeer. Dort, an Ihrer Seite ist mir zum ersten Male die Poesie der Vergangenheit, die alte Märchenherrlichkeit aufgegangen. Durfte ich doch dem holden Dornröschen in die dunklen, träumenden Augen schauen. Ich habe diese Augen nicht wieder vergessen; sie sind mir tief in das Herz gedrungen – darf ich kommen, Gerlinde?“

Die Gluth in dem Antlitz des jungen Mädchens wurde tiefer, aber die gesenkten Augen hoben sich nicht, und die Antwort klang fast unhörbar.

„Ich hatte immer gehofft, Sie würden wiederkommen – den ganzen langen Winter hindurch – und immer vergebens.“

„Aber jetzt bin ich da!“ rief Hans aufflammend, „und jetzt gehe ich nicht wieder, ohne mir mein Glück zu sichern. Mein süßes kleines Dornröschen, ich habe es Dir ja schon damals gesagt, daß ein Tag kommen wird, wo der Ritter erscheint, der die Dornenhecke sprengt und die Träumende wach küßt aus ihrem Schlummer, und schon damals habe ich tief im Herzen den Wunsch gehegt, der Ritter möchte – Hans Wehlau heißen.“

Er hatte bei den letzten Worten den Arm um sie gelegt, Gerlinde schrak zusammen, aber sie entzog sich ihm nicht; langsam hob sie die dunklen „träumenden“ Augen zu ihm empor und leise, ganz leise, aber mit der ganzen Innigkeit des Glückes, sagte sie:

„Ich auch!“

Es war dem jungen Manne nicht zu verdenken, wenn er sich auf dies Geständniß hin nun auch genau an die Vorschrift des Märchens hielt und sein Dornröschen küßte, das sich an ihn schmiegte und glückselig zu ihm aufschaute. Aber als er sie nun fester in die Arme zog und sie seine süße kleine Braut nannte, fuhr Gerlinde auf einmal schreckensbleich empor.

„Ach Hans, lieber Hans, das geht ja nicht! Ich hatte es ganz vergessen – wir dürfen uns nimmer heirathen!“

„Weßhalb denn nicht?“ fragte Hans erstaunt.

„Mein Papa – er wird es niemals zugeben – wir stammen ja aus dem zehnten Jahrhundert!“

„Das zehnte Jahrhundert ist für mich durchaus kein Hinderniß, im neunzehnten zu heirathen. Mit dem Freiherrn wird es allerdings einen Sturm geben. Darauf bin ich gefaßt, aber ich bin ziemlich sturm- und wetterfest in solchen Dingen. Ich weiß aus reichlicher Erfahrung, was es heißt, einem wüthenden Papa Stand zu halten und schließlich doch seinen Willen durchzusetzen.“

„Aber wir werden ihn nicht durchsetzen,“ klagte das kleine Burgfräulein trostlos. „Es wird uns gehen wie Gertrudis von Eberstein und Dietrich Fernbacher, die sich auch so sehr liebten. Aber Gertrudis ward vermählt an den Edelherrn von Ringstetten, und Dietrich zog hinaus in den Kampf gegen die Ungläubigen und kam nimmer wieder!“

„Das war sehr unklug von dem Dietrich,“ erwiderte Hans. „Er hatte bei den Ungläubigen gar nichts zu schaffen! Er hätte daheim bleiben und seine Gertrudis heirathen sollen.“

„Aber sie durfte ihn uicht ehelichen, dieweil er nicht ritterlicher Abkunft, sondern der Sohn eines Kaufherrn war!“ rief Gerlinde, der die hellen Thränen in den Augen standen, während sie pflichtschuldigst den Wortlaut der alten Chronik wiederholte.

„Das war im Mittelalter,“ beruhigte sie Hans. „Jetzt ist man viel vernünftiger in solchen Dingen. Ich ziehe nicht gegen die Ungläubigen: ich laufe höchstens Sturm gegen die Ebersburg, und die nehme ich unter allen Umständen.“

„O Gott, mein Papa – das ist sein Schritt!“ rief Gerlinde, indem sie sich losmachte und schleunigst an das Fenster flüchtete.

„Hans, was fangen wir nun an?“

„Wir stellen uns ihm als Brautpaar vor und bitten um seinen Segen!“ erklärte der junge Mann kurz und bündig. „Einmal muß es doch geschehen, also je eher, desto besser.“

Man hörte in der That im Nebenzimmer den schweren, schlürfenden Schritt des Freiherrn und das Aufstoßen seines Stockes. Jetzt öffnete er die Thür, blieb aber wie erstarrt auf der Schwelle stehen. Er sah den „Menschen ohne Namen und Familie“ bei seiner Tochter, allerdings augenblicklich in respektvoller Entfernung von derselben; aber die bloße Thatsache dieses Beisammenseins genügte schon, ihn in Entrüstung zu versetzen; er trat langsam näher.

[834] „Ah – Herr Hans Wehlau!“ sagte er, den Namen scharf und hohnvoll betonend; der junge Mann verbeugte sich.

„Zu dienen, Herr von Eberstein.“

Der alte Herr wollte offenbar eine erhaben zürnende Stellung annehmen, die dieser Gerichtsscene entsprach, aber da spielte ihm seine Gicht einen bösen Streich. Er hatte sich vorhin bereits überanstrengt, jetzt versagten ihm die Füße vollständig den Dienst. Er sank in den ersten besten Sessel und bot dort einen mehr kläglichen als fürchterlichen Anblick dar; trotzdem überwand er seine Schmerzen und fuhr fort:

„Ich komme soeben von einem –“ er verschluckte einen anderen grimmigeren Ausdruck, „einem gewissen Professor Wehlau, der Ihr Vater zu sein behauptet.“

„Der es sogar ist!“ erklärte Hans, der nun wohl einsah, daß sein Bekenntniß nicht mehr nöthig sei.

„Und das geben Sie mir wirklich zu?“ rief der Freiherr empört. „Sie gestehen es also ein, daß Sie mir eine schändliche Komödie vorgespielt, daß Sie sich unter falschem Namen bei mir eingeschlichen, sich einen Adelstitel angemaßt haben –“

„Bitte, Herr Baron, das habe ich nicht gethan,“ fiel Hans ein. „Ich erlaubte mir nur, meinem eigenen Namen, der mir doch unzweifelhaft gehört, einen zweiten beizufügen. Den ‚Baron’ aber haben Sie mir zudiktirt. Uebrigens sind Sie vollkommen in Ihrem Rechte, wenn Sie mir Vorwürfe machen, und ich bitte aufrichtig um Verzeihung wegen des tollen Einfalls, mit dem ich mir eine anfangs versagte Gastfreundschaft erzwang. Ich rufe Fräulein von Eberstein zum Zeugen dafür auf, daß es meine Absicht war, aus freiem Antriebe nach der Ebersburg zu kommen und Ihnen die Wahrheit zu gestehen. Dem flüchtigen Gast, der eines Abends kam und am nächsten Morgen wieder davonzog, konnte man den Uebermuth vielleicht verzeihen, eine fortgesetzte Täuschung wäre Betrug gewesen. Das wurde mir sofort klar, als ich das gnädige Fräulein in der Hauptstadt wiedersah, und ich habe nicht einen Augenblick gezögert, ihr die Wahrheit zu bekennen.“

Eberstein warf seiner Tochter einen erstaunten und entrüsteten Blick zu.

„Wie, Gerlinde, Du hast das gewußt und es mir verschwiegen? Du hast diesem Herrn Hans Wehlau trotzdem erlaubt, in Deine Nähe zu kommen, und vielleicht sogar seine Entschuldigung angenommen über Dinge, die nicht zu entschuldigen sind? Ich finde das sehr unpassend.“

Gerlinde antwortete keine Silbe; sie stand bleich und zitternd am Fenster und blickte angstvoll zu Hans hinüber: eine Heldin war das kleine Dornröschen gerade nicht. Um so unerschrockener zeigte sich der junge Ritter vom Forschungstein. Er sah, daß hier mit dem Parlamentiren nichts zu erreichen war; der Sturm mußte gewagt werden, und so nahm er denn einen Anlauf und setzte tapfer mitten in die Dornenhecke hinein.

„Das gnädige Fräulein hat sogar noch mehr gethan,“ entgegnete er, „sie hat mir auf eine Frage, die ich an sie richtete, eine höchst beglückende Antwort gegeben. Ich gestand ihr soeben meine Liebe und empfing das Geständniß ihrer Gegenliebe. Sie erlauben uns daher wohl, Herr Baron, um Ihren väterlichen Segen zu bitten?“

Der alte Herr nahm wider Erwarten diese Worte ziemlich ruhig auf, weil er sie einfach nicht verstand. Er hielt das für eine neue „schändliche Komödie“; denn daß der Sohn des bürgerlichen Professors im Ernste um ein Fräulein von Eberstein freien könne, fiel ihm gar nicht ein.

„Mein Herr, ich verbitte mir dergleichen taktlose und empörende Scherze!“ sagte er in hohem Tone. „Sie scheinen garnicht zu fühlen, was Sie sich eigentlich damit herausnehmen, und ich sollte meinen, Sie hätten allen Grund, mir gegenüber ernst zu sein.“

Hans trat zu seiner Braut und ergriff ihre Hand.

„So muß ich Dich bitten, Gerlinde, zu sprechen und meine Worte zu bestätigen. Sage Deinem Vater, daß Du mir das Recht gegeben hast, bei ihm um Deine Hand zu werben, daß Du mir angehören willst und keinem Anderen.“

Die Worte klangen in vollster Zärtlichkeit, aber Gerlinde hörte doch die ernste Mahnung darin und fühlte, daß sie jetzt ihre Zaghaftigkeit überwinden müsse und ihrem Hans an Tapferkeit nicht nachstehen dürfe. Ueberdies war er ja an ihrer Seite, bereit, sie zu schützen, und so brach sie denn aus:

„O Papa, ich habe ihn so lieb, so grenzenlos lieb! Und wenn er auch keinen Adel und kein Wappen hat – ich will keinen Anderen, als meinen Hans!“

„Meine Gerlinde!“ rief Hans, sie stürmisch in seine Arme schließend. Und nun geschah das Unglaubliche, Unfaßbare! Vor den Augen des Freiherrn Udo von Eberstein-Ortenau küßte der Mensch ohne Namen und Familie den letzten Sprößling des erlauchten Geschlechtes aus dem zehnten Jahrhundert, und zwar that er dies zweimal hinter einander!

Der alte Herr war in der ersten Minute völlig sprach- und bewegungslos. Er sah starr auf die Gruppe und dann eben so starr nach der Decke hinauf; denn er erwartete nichts Geringeres, als daß die Mauern einstürzen und den Frevler begraben würden.

Schloß Steinrück schien aber der Meinung zu sein, daß diese Sache eigentlich nur die Ebersburg angehe, die in diesem Augenblick zweifellos mit dumpfem Krachen in Trümmer fiel, und blieb stehen. Der Freiherr sah, daß das Weltgericht unbegreiflicher Weise nicht eintrat, daß er dessen Rolle übernehmen müsse, und nun wollte er allerdings aufspringen. Aber sogar die Gicht war mit den Beiden im Bunde: sie hielt ihn erbarmungslos fest. Anstatt wie ein Rache-Engel dazwischen zu treten und sie aus einander zu reißen, brachte er es nur zu einer kläglich zappelnden Bewegung und sank dann wieder kraftlos und hilflos in den Lehnstuhl zurück.

„Gerlinde!“ rief er mit heiserer Stimme. „Entartetes Kind! Komm zu mir – komm augenblicklich an meine Seite!“

Gerlinde machte einen allerdings nicht sehr energischen Versuch, zu gehorchen: als aber Hans sie daran hinderte und sie festhielt, ließ sie sich ganz geduldig festhalten und wiederholte nur schluchzend:

„O Papa, ich habe ihn so lieb!“

„Herr Hans Wehlau,“ schrie Eberstein, der jetzt alle Haltung verlor, gellend. „Lassen Sie meine Tochter los, auf der Stelle! Ich befehle es Ihnen! Entfernen Sie sich augenblicklich!“

„Sogleich, Herr Baron,“ versicherte Hans. „Erlauben Sie mir nur, von meiner Braut Abschied zu nehmen,“ und damit küßte er Gerlinde von Neuem, was ein erneutes krampfhaftes Zappeln des Freiherrn zur Folge hatte.

„Ich rufe um Hilfe! Ich rufe die ganze Dienerschaft herbei! Ich läute Sturm!“ schrie er und bemühte sich vergebens, die Tischglocke zu erreichen, die in einiger Entfernung stand. Da öffnete sich die Thür, und Hertha, die der Lärm herbeigezogen hatte, erschien.

„Gräfin Hertha!“ rief Eberstein, der bei ihrem Anblick neuen Muth schöpfte. „Retten Sie mein Kind, das dieser Mensch da bezaubert, behext hat, weisen Sie ihn aus Ihrem Schlosse!“

Hertha stand ganz entsetzt da. Sie sah Gerlinde in den Armen Hans Wehlau’s, der noch immer mit den Abschiedsfeierlichkeiten beschäftigt war, und den alten Baron jammernd und zappelnd im Lehnstuhl; die Scene war ihr völlig unverständlich.

Hans fand sich nun endlich bewogen, dem Befehle des Freiherrn nachzukommen, aber er führte Gerlinde nicht zu ihm, sondern zu der jungen Gräfin und sagte im Tone der Bitte:

„Ich übergebe meine Braut Ihrem Schntze, Gräfin Steinrück. Der Herr Baron weist vorläufig noch meine Werbung zurück, und ich muß für den Augenblick allerdings weichen, denn ich darf meinem künftigen Schwiegervater –“

„Unverschämter!“ schrie Eberstein, der jetzt einen förmlichen Krampfanfall zu bekommen schien.

„– weder in schroffer Weise entgegentreten, noch kann ich diesen beleidigenden Ton länger ertragen,“ vollendete der junge Mann ruhig. „Nehmen Sie sich meiner Gerlinde an! Ich bitte Sie recht herzlich darum; ich komme wieder, sobald Herr von Eberstein sich etwas beruhigt haben wird.“

Damit küßte er in aller Seelenruhe seine Gerlinde zum vierten Male, küßte der jungen Gräfin die Hand, machte dem Freiherrn eine artig ritterliche Verbeugung und ging zur Thür hinaus. –

Professor Wehlau hatte inzwischen seinen Aerger überwunden und seine Briefschaften erledigt. Was ging ihn auch schließlich dieser verrückte alte Freiherr aus dem zehnten Jahrhundert an! Der Mann war offenbar unzurechnungsfähig, und deßhalb war Wehlau auch geneigt, den tollen Streich seines Sohnes milder zu beurtheilen, als er es sonst gethan hätte. Der Einfall mit [835] dem Forschungstein amüsirte ihn sogar höchlich, aber er beschloß trotzdem seinem übermüthigen Sprößling den Text zu lesen, und fand auch bald Gelegenheit dazu, denn soeben trat Hans bei ihm ein.

„Ich habe wieder einmal schöne Streiche von Dir hören müssen!“ empfing ihn der Vater. „Was hast Du wieder für Tollheiten auf der Ebersburg getrieben? Du – Ritter vom Forschungstein!“

„War das nicht ein guter Einfall, Papa?“ fragte der junge Mann lachend. „Ich habe soeben erfahren, daß die Sache zwischen Dir und dem Freiherrn zur Sprache gekommen ist. Er wollte Dich vermuthlich wegen seines Gichtleidens konsultiren?“

„Möglich, ich habe die Diagnose auf Verrücktheit gestellt!“ sagte Wehlau trocken. „Ich habe ihm Eisumschläge verordnet, es wird zwar nicht viel helfen, die Krankheit ist schon zu weit vorgeschritten, aber es beruhigt doch wenigstens, und das thut noth.“

„Wie so? Seid Ihr etwa an einander gerathen?“

„Gewiß sind wir das! Ich bin nicht dafür, fixe Ideen zu schonen, wie die meisten meiner Kollegen. Ich habe den Grundsatz, die Kranken aufzurütteln aus ihrem Wahne, und als dieser Udo von Eberstein anfing, mir ganze Chronikbücher herunter zu beten, habe ich ihm in der nachdrücklichsten Weise klar gemacht, was ich von diesem mittelalterlichen Unsinn halte.“

„O weh!“ seufzte Hans, „da hast Du ihn an seiner empfindlichsten Stelle getroffen, das verzeiht er Dir und mir niemals.“

„Meinetwegen! Was haben ich und Du denn mit diesem alten Uhu von der Ebersburg zu thun?“

„Sehr viel – da ich mich mit seiner Tochter verlobt habe!“

Der Professor sah seinen Sohn einen Augenblick lang starr an, dann runzelte er die Stirn und sagte ärgerlich:

„Treibst Du schon wieder Narrenspossen? Ich dächte, das wäre nun nachgerade genug!“

„Du irrst, Papa, ich spreche im vollen Ernste. Ich habe mich soeben mit Gerlinde von Eberstein verlobt. Du hast sie ja am Krankenbette der Gräfin kennen gelernt und wirst Dich sicher freuen, wenn ich Dir ein so liebes, holdes Geschöpf als Tochter zuführe.“

„Junge, bist Du toll geworden?“ brach Wehlau aus. „Die Tochter eines notorisch Wahnsinnigen? Das kann ja erblich sein in der Familie! Das Mädchen hat so schon etwas Scheues, Seltsames in seinem Wesen, und der Vater ist bereits vollständig übergeschnappt.“

„Bewahre!“ sagte Hans. „Er stammt nur aus dem zehnten Jahrhundert, und darauf hin mußt Du ihm einige abnorme Gehirnerscheinungen zu Gute halten. Sonst ist mein Schwiegervater ganz vernünftig.“

„Schwiegervater?“ wiederholte der Professor gereizt. „Da habe ich doch auch noch ein Wort mitzureden, sollt’ ich meinen! Wenn Du Dir wirklich diese unsinnige Idee in den Kopf gesetzt hast, so erkläre ich Dir kurz und bündig: daraus wird nichts! Ich verbiete es Dir!“

„Das kannst Du nicht, Papa. Der Freiherr hat es Gerlinde auch verboten; er bekam sogar Krämpfe, als ich meine Werbung vorbrachte, aber das hilft Euch Beiden nichts – wir heirathen uns doch.“

Wehlau, der jetzt endlich merkte, daß die Sache Ernst war, hob verzweiflungsvoll die Hände empor.

„Aber hast Du denn auch schon den Verstand verloren? Der Alte ist verrückt, daran ist gar kein Zweifel, und ich sage Dir als Arzt, daß der Wahnsinnskeim erblich ist. Willst Du Unheil in unsere Familie bringen? Willst Du eine ganze Generation unglücklich machen? So nimm doch Vernunft an!“

Das düstere Zukunftsbild machte leider gar keinen Eindruck auf den jungen Mann, er entgegnete kaltblütig:

„Es ist doch eigentlich merkwürdig, Papa, daß wir uns immer zanken müssen! – Jetzt standen wir gerade so vortrefflich mit einander! Du hast Dich mit meiner ,Farbenkleckserei‘ ausgesöhnt und bist auf dem besten Wege, stolz darauf zu werden; nun ist Dir wieder meine Verlobung nicht recht, und sie müßte Dir doch eigentlich schmeichelhaft sein. Zu Dir kommt die alte Aristokratie nur, wenn sie Rheumatismus hat; ich verbinde mich mit der jungen Aristokratie, indem ich sie eheliche; das ist doch ein offenbarer Fortschritt.“

„Es ist der unsinnigste von all Deinen unsinnigen Streichen!“ rief der Professor wüthend. „Ein für allemal –“

Er wurde unterbrochen, ein Diener erschien, um ihn zu der Gräfin zu rufen, da er befohlen hatte, ihn sofort zu benachrichtigen, wenn die Kranke aus ihrem Schlafe erwacht sei. Wehlau folgte als gewissenhafter Arzt auch jetzt diesem Rufe, befahl aber seinem Sohne zu bleiben, er werde in einer Viertelstunde zurück sein.

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Titel: Sankt Michael
aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 48, S. 846–850
Novelle – 24. Fortsetzung

[846] Professor Wehlau traf in dem vor dem Schlafgemache der Gräfin liegenden Zimmer ganz unerwartet mit Gerlinde zusammen, die es wie eine Erlösnng begrüßt hatte, daß die Gräfin nach ihr verlangte, und schleunigst diesem Wunsche nachgekommen war. Das entzog sie wenigstens vorläufig den Zornausbrüchen ihres Vaters, und Hertha hatte es übernommen, diesen einigermaßen zu beruhigen.

Wehlau erblickte das junge Mädchen kaum, als er wie ein Stoßvogel auf sie zuschoß.

„Fräulein von Eberstein, ich möchte Sie auf eine Minute allein sprechen. Wollen Sie mir einige Fragen erlauben?“

„Gewiß, Herr Professor,“ versetzte Gerlinde, fast bestürzt über diese Anrede. Sie hegte eine unbesiegbare Scheu vor dem Professor, der bisher nie Notiz von ihr genommen hatte, und seine kurze herrische Art, selbst am Krankenbett, war vollends nicht geeignet, ihr Vertrauen einzuflößen. Es überkam sie eine tiefe Bangigkeit bei dem Gedanken, daß gerade dieser Mann der Vater ihres Hans sei, und jetzt rückte er ihr nun vollends dicht auf den Leib und begann allerlei seltsame Fragen an sie zu richten, die sie gar nicht begriff. Dabei fixirte er sie so starr und unaufhörlich, daß sie sich zu fürchten begann. Das arme Kind ahnte ja nicht, daß es auf seinen gesunden Verstand hin geprüft werden sollte, und gab in der Angst und Verwirrung ganz verkehrte Antworten, was Wehlau natürlich nur in seiner vorgefaßten Meinung bestärkte.

Er ging endlich auf die Familientradition der Eberstein über, bei der die fixe Idee des alten Freiherrn zum Vorschein gekommen war. Gerlinde hatte sich während ihres Aufenthaltes in der Stadt und in Berkheim den Chronikstil ziemlich abgewöhnt: die Gräfin und Hertha hatten in dieser Hinsicht einen sehr heilsamen Einfluß ausgeübt; hier aber vergaß sie das vollständig. Jener starre Blick bannte sie förmlich, wie das Auge der Schlange ein zitterndes Vögelchen. Sie war nur bestrebt, den unheimlichen Frager zufrieden zu stellen, und als er sich unglücklicherweise beikommen ließ, zu fragen: „Sie führen ja wohl den Doppelnamen Eberstein-Ortenau?“ da faltete sie wieder die Hände und begann:

„Im Jahre des Heils dreizehnhundertundsiebzig war eine Fehde ausgebrochen zwischen Kunrad von Eberstein und Balduin von Ortenau, dieweil –“ und nun war kein Haltens mehr! Sie erzählte die ganze endlose Geschichte von Kunrad und Hildegard, von Burgverließ und Hochzeit von Anfang bis zu Ende, ohne ein einziges Mal zu stocken oder Athem zu schöpfen, und verfiel dabei wieder rettungslos in den alten Plapperton. Sie bemerkte es nicht einmal, daß die Thür sich öffnete und Hans, von einer unheilvollen Ahnung getrieben, auf der Schwelle erschien. Er kam gerade recht, um noch den Schluß der Geschichte zu hören, die ihm nun allerdings nicht mehr neu war.

„Da haben wir es!“ rief der Professor triumphirend. Er stürzte auf seinen Sohn zu, zog ihn in eine Ecke des Zimmers und raunte ihm dort leise, aber energisch zu:

„Ich sagte es Dir ja! Sie ist auch schon angesteckt, der unselige Keim ist vollständig entwickelt und wird sich weiter vererben. Wenn Du jetzt noch auf Deinem unsinnigen Vorhaben [847] bestehst, so machst Du Dich und Deine Familie und Deine ganze Nachkommenschaft unglücklich. Dagegen’^ protestire ich als Arzt und Vater! Ich lasse Dich unter Kuratel stellen und verbiete es Dir im Namen der Menschheit, der man eine verrückte Generation nicht aufhalsen darf.“

„Papa, ich glaube, Du bist selbst angesteckt!“ rief Hans ärgerlich, indem er sich losmachte und zu Gerlinde eilte, um die er schützend den Arm legte. „Ich leide es nicht, daß meine Braut so gequält wird! Ich sehe es überhaupt nicht ein, was die Geschichte die Väter eigentlich angeht. Das Heirathen ist lediglich unsere Sache, und wir werden das auch allein besorgen!“


Es war Sommer geworden. Man befand sich bereits in den ersten Tagen des Juli, aber das Familienfest, welches man im Steinrück’schen Hause zu feiern gedachte, hatte auf unbestimmte Zeit verschoben werden müssen. Wenn auch Professor Wehlau bei seiner Anwesenheit im Schlosse der Tochter die trostlose Wahrheit verschwieg und ihr noch wochenlang eine trügerische Hoffnung ließ, so wußten der General und die Seinigen doch, daß der Familie ein Trauerfall bevorstand. Hertha, so sagten sie sich, würde durch den Tod der Mutter nur fester an die Familie geknüpft werden, und sobald die Trauerzeit vorüber, sollte sofort die Vermählungsfeier stattfinden.

Graf Steinrück ahnte nicht, daß das Schicksal schon längst das stolze Gebäude seiner Hoffnungen zertrümmert hatte. Er wußte nichts von jener verhängnißvollen Sturmnacht, von der Anwesenheit des Hauptmanns Rodenberg in Sankt Michael, und war hinsichtlich der Nachrichten aus Schloß Steinrück auf Hertha’s Briefe und den Bericht des Arztes angewiesen.

Michael hatte damals die junge Gräfin auf ihren dringenden Wunsch nur bis zu der Stelle geleitet, wo die Bergstraße in das Thal mündete, da auf dem weiteren Wege jede Gefahr ausgeschlossen war. Sie langte mit den Dienern allein im Schlosse an, und dort verbot der bedenkliche Zustand, in dem sie die Mutter fand, jede Erklärung des Geschehenen. Die Aerzte hatten befohlen, von der Kranken jede, auch die geringste Aufregung fern zu halten, und so mußte die Sache denn vorläufig Geheimniß bleiben, bis zur Genesung der Gräfin – wie Hertha noch immer hoffte. Michael kannte durch den Professor Wehlau allerdings die volle Wahrheit; aber er fühlte sich nur um so mehr verpflichtet, die Frau zu schonen, Von der er nur Güte und Freundlichkeit empfangen hatte. Wenn der Kampf beginnen mußte, sn mochte es nach ihrem Tode sein.

Dieser Fall war nun eingetreten. Der Arzt hatte dem General soeben die Nachricht gesandt, daß die Kranke in der letzten Nacht sanft entschlafen sei. Steinrück war, wie die ganze Familie, darauf vorbereitet. Die letzten Nachrichten hatten schon völlig hoffnungslos gelautet. Dennoch ging ihm der Tod der sanften liebenswürdigen Frau, die sich stets unbedingt seiner Leitung gefügt batte, recht nahe, und er konnte ihr nicht einmal den letzten Freundschaftsdienst erweisen und sie zu Grabe geleiten!

Es war eine verhängnißvolle, gewitterschwüle Zeit in diesen Julitagen, und wenn man auch im Publikum noch wenig davon ahnte, so waren die militärischen Kreise um so besser unterrichtet. General Steinrück wußte, daß er sich jetzt nicht entfernen durfte, selbst nicht auf wenige Tage, daß er sich jeden Augenblick zur Verfügung bereit halten mußte. Die Pflichten des Familienhauptes mußten zurückstehen hinter denen des Soldaten. Raoul sollte allerdings sofort abreisen; ihm, dem jungen, leicht entbehrlichen Beamten im Ministeriums konnte man einen kurzen Urlaub nicht versagen, am wenigsten bei dieser Gelegenheit, wo er seinen Großvater zu vertreten hatte.

Steinrück saß mit tiefernster Miene in seinem Arbeitszimmer und las noch einmal das Telegramm, als ihm ein Officier vom Generalstabe gemeldet wurde. Es blieb dem Grafen nicht viel Zeit für seine Familienangelegenheiten; sogar in diesem Augenblick wurde er gestört; die Meldungen, Depeschen und Berichte jagten sich ja jetzt. Er winkte, den Gemeldeten eintreten zu lassen, und gleich darauf stand Hauptmann Rodenberg vor ihm.

Der General war doch peinlich überrascht von dieser Begegnung, obgleich er darauf gefaßt sein mußte. Er hatte Michael seit jener Stunde, wo er zwischen ihn und Raoul getreten war, wohl einige Male bei dienstlichen Veranlassungen gesehen, aber nicht gesprochen; jetzt, zum ersten Male, waren sie gezwungen, wieder mit einander zu verkehren, und der junge Officier mußte es empfinden, es war ihm nicht verziehen worden, daß er das Entgegenkommen von jener Seite zurückgewiesen hatte. Er fand, in der That nur den Vorgesetzten, der kalt, mit völlig unbewegter Miene ihm entgegentrat.

„Sie bringen mir eine Meldung von Seiten Ihres Chefs?“

„Nein, Excellenz, ich komme diesmal in eigener Sache und bitte um ein kurzes Gehör.“

Steinrück sah betroffen auf. In eigener Sache? Das mußte etwas ganz Ungewöhnliches sein. Er winkte mit der Hand und sagte kurz:

„So sprechen Sie!“ .

„Die Gräfin Marianne Steinrück ist im Laufe dieser Nacht gestorben –“

„Das wissen Sie bereits?“ unterbrach ihn der General befremdet. „Woher? Seit wann?“

„Seit zwei Stunden.“

„Wie ist das möglich? Ich habe soeben erst die Depesche erhalten, noch kennt Niemand den Inhalt, nicht einmal mein Enkel. Wie können Sie bereits davon unterrichtet sein?“

„Mein alter Lehrer und Freund, der Pfarrer von Sankt Michael, der auf Wunsch der Gräfin an ihr Sterbebett berufen wurde, sandte mir telegraphisch die Nachricht.“

Die Auskunft schien den Grafen noch mehr zu befremden. Er sagte in scharfem Tone:

„Das ist in der That – seltsam! Welchen Grund hätte denn der Herr Pfarrer, Ihnen eine Nachsicht, die Sie doch unmöglich interessiren konnte, früher zu senden, als selbst der Familie? Die Sache ist mir so unbegreiflich, daß ich Sie schon um Erklärung ersuchen muß.“

„Eben deßhalb kam ich. Das Telegramm wurde im Auftrag der Gräfin Hertha abgesendet.“

„An Sie?“

„An mich!“

Der General erbleichte. Jetzt endlich schien ihm eine Ahnung der Wahrheit aufzusteigen. Er richtete sich drohend empor.

„Was soll das heißen? Wie kommen Sie zu einer solchen Vertraulichkeit mit der Braut des Grafen Steinrück?“

„Ich habe in ihrem Namen das Wort zurückzufordern, das sie dem Grafen gegeben hat,“ erklärte Michael, den drohenden Blick fest erwidernd. „Es wäre dies längst geschehen, wenn die schwere Erkrankung der Mutter es nicht unmöglich gemacht hätte. An ihrem Sterbebette mußte jeder Kampf und jeder persönliche Wunsch schweigen. Ich weiß, daß es herzlos erscheint, solche Dinge zur Sprache zu bringen in einer Stunde, wo Hertha noch an der Leiche ihrer Mutter weint; aber sie selbst fordert es; denn Graf Raoul wird voraussichtlich auf die Todesnachricht hin zu ihr eilen, und sie kann und will ihn nicht mehr als ihren Verlobten empfangen. Das habe ich Euer Excellenz zu melden; alle anderen Erklärungen mögen später stattfinden. Jetzt ist es wohl nicht an der Zeit –“

„Was ist nicht an der Zeit?“ fiel ihm Steinrück heftig in das Wort. „Ich dächte, Sie hätten das Aeußerste schon gesagt. Reden Sie aus!“

„Nun wohl, Hertha hat mir das Recht gegeben, sie ihrer ganzen Familie gegenüber zu vertreten. Ich spreche im Namen meiner Braut!“

Das war deutlich genug und übertraf noch die schlimmsten Befürchtungen des Generals. Er hatte an die Möglichkeit einer Gefahr geglaubt und versucht, die Beiden zu trennen, und nun hatten sie sich bereits gefunden. Sein stolzer Plan lag in Trümmern – der Preis, den er seinem Erben zugedacht hatte, sollte noch in der letzten Stunde einem Andern zufallen! Steinrück hätte doch nun aufflammen müssen in Zorn und Entrüstung über den Verwegenen; statt dessen sah er ihn an, mit einem langen, seltsam düsteren Blicke und schwieg. Erst als Michael, der sich dies Schweigen nicht zu deuten wußte, ihn befremdet anschaute, schien er sich zu besinnen, und nun allerdings hrach er in voller Gereiztheit aus:

„In der That, Sie sagen mir da mit der ruhigsten Miene die unerhörtesten Dinge! Sie scheinen es ganz selbstverständlich zu finden, daß die verlobte Braut meines Enkels die Ihrige wird, nur weil Sie tollkühn genug sind, die Hand nach ihr [848] auszustrecken. Ueber diese Zumuthung wird Raoul mit Ihnen rechten; ich möchte Ihnen nur zu bedenken geben, daß ein solcher Preis denn doch zu hoch steht für einen – Rodenberg!“

„Mir steht nichts zu hoch, was sich überhaupt erringen läßt, und Hertha’s Liebe habe ich errungen,“ sagte Michael kalt. „Sie hat sich einem Familienbeschluß gefügt, der über ihre Hand entschied, als sie noch ein Kind war, und kann das übereilte Jawort nicht mit dem Unglück eines ganzen Lebens büßen. Von dem Grafen Raoul ist schwerlich ein Widerstand zu erwarten! In jedem Falle hat er das Recht verloren, um seine einstige Braut zu kämpfen.“

„Was heißt das? Was meinen Sie damit?“ fuhr der General auf.

„Danach bitte ich den Grafen selbst zu fragen. Da Eure Excellenz, wie ich sehe, noch keine Ahnung von der Sache haben, so widerstrebt es mir, den Angeber zu machen.“

„Ich will aber keine halben Worte und Andeutungen! Ich will wissen, um was es sich handelt. Wovon sprechen Sie?“

„Von dem Verhältuiß des Grafen zu Heloise von Nérac.“

Steinrück zuckte zusammen. Das also war die Gefahr, die er dunkel geahnt hatte, ohne sie zu kennen!

„Heloise von Nérac?“ wiederholte er halblaut.

„Die Schwester des Herrn von Clermont! Ich habe diese Kenntniß nicht gesucht. Mein Ehrenwort darauf! Nur der Zufall hat sie mir gegeben. Hertha fordert von dem Grafen nur ein Wort zurück, das er längst schon gebrochen hat, und ich müßte mich sehr täuschen, wenn ihm die Auflösung seiner Verlobung nicht erwünscht wäre. Es war wohl nur die Furcht vor dem Einspruche des Großvaters, welche ihn abhielt, sie selbst zu lösen.“

Es folgte eine Pause. Der Schlag kam so jäh und unerwartet, daß der General einige Sekunden brauchte, um sich zu fassen. Man sah es doch, wie schwer ihn diese Enthüllung traf.

„Ich werde Raoul zur Rede stellen,“ sagte er endlich. „Giebt er die Thatsache zu, so hat Hertha allerdings das Recht, zurückzutreten; Ihnen aber giebt das keine Hoffnung, denn ich kann und werde es nicht gestatten, daß mein Mündel –“

„Einem Rodenberg folgt!“ ergänzte Michael herb. „Ich weiß das, Excellenz, aber ich muß Sie daran erinnern, daß Ihre vvrmundschaftliche Gewalt in wenig Monaten zu Ende ist.“

Steinrück trat dicht an ihn heran. Jetzt blitzten seine Augen wieder in dem alten Feuer, und seine Stimme klang in dem gewohnten Gebietertone: „Die Gewalt des Vormundes, ja! Aber dann tritt die Gewalt des Familienhauptes in ihre Rechte, und der wirst Du Dich beugen.“

„Nein!“ klang es eisig zurück.

„Michael!“

„Nein, Graf Steinrück! Ich gehöre nicht zu Ihrer Familie, davon haben Sie mir soeben wieder den Beweis gegeben. Raoul mag sich seiner Braut unwürdig zeigen, mag sie verrathen; er bleibt Ihnen doch der Träger der Grafenkrone, wie ich Ihnen der Sohn des Abenteurers bleibe, der seine Augen nicht zu einem Glied Ihrer Familie erheben darf, selbst wenn er geliebt wird. Hertha denkt glücklicherweise anders. Sie weiß Alles und ist dennoch freudig bereit, meinen Namen zu tragen.“

„Und ich sage Dir, Du wirst diesen Namen noch bei ihr büßen müssen! Du kennst das stolze Mädchen nicht, steh’ ab von ihr!“

„So feig bin ich nicht,“ sagte Michael mit einem halb verächtlichen Lächeln. „Ich kenne meine Hertha besser. Wir haben ja mondenlang mit einander gekämpft wie die bittersten Feinde und wußten es doch Beide, daß wir nicht von einander lassen konnten. Ich habe es mir schwer genug erobern müssen, mein schönes stolzes Glück, aber nun ist es auch unwiderruflich mein. Im Sturmestoben, aus den Klüften der Adlerwand habe ich mir meine Braut geholt – versucht es, sie mir wieder zu entreißen!“

Der kalte, ernste Mann war wie verwandelt; das volle leidenschaftliche Glück leuchtete aus seinen Augen, klang aus seinen Worten, und die letzte Herausforderung schleuderte er fast triumphirend dem Grafen entgegen, der ihn wieder ansah mit jenem seltsamen Blick, in welchem mehr Schmerz als Zorn lag.

„Genug!“ sagte er, sich zusammenraffend. „Ich habe zunächst mit Raoul zu rechten. Du wirst noch Weiteres von mir hören – jetzt geh’!“

Michael verneigte sich und ging; der General blickte ihm lange und düster nach. Es war doch seltsam, daß sie nie den fremden Ton festhalten konnten, der doch von beiden Seiten so sehr erstrebt wurde. Im Anfange stand immer der Vorgesetzte dem Untergebenen gegenüber, so fremd, als hätten sie sich nie gesehen, und schließlich sprach doch immer der Großvater zu seinem Enkel, wenn sie sich auch im vollsten Kampfe befanden. Auch heute schieden sie mit einer gegenseitigen Kriegserklärung, und doch murmelte der Graf, als er allein war:

„Was gäbe ich drum, wenn Du Raoul Steinrück hießest!“

Der junge Graf kehrte eine halbe Stunde später von seinem Morgenritt zurück. Bei seinem Eintritt wurde ihm gemeldet, daß der General nach ihm gesandt habe und ihn unverzüglich zu sprechen verlange, und wenige Minuten später trat er in das Arbeitszimmer.

„Du ließest mich rufen, Großpapa?“ fragte Raoul, in das Arbeitszimmer des Generals tretend. „Hast Du Nachrichten aus Steinrück erhalten?“

Der Großvater reichte ihm statt aller Antwort die Depesche.

„Lies selbst!“

Raoul durchflog das Telegramm und legte es dann wieder auf den Tisch.

„Eine traurige, aber leider nicht unerwartete Nachricht. Nach dem letzten Briefe mußten wir stündlich darauf gefaßt sein. Du äußertest gestern, daß Du selbst in diesem Falle die Stadt nicht verlassen könntest; so werde ich also allein abreisen, mit der Mama?“

„Wenn Du kannst, ja!“

„Mein Urlaub macht keine Schwierigkeit,“ sagte Raoul unbefangen. „Der Minister hat ihn mir selbst angeboten, als er hörte, wie es in Steinrück stand. Ich kann ihn jede Stunde in Anspruch nehmen, um –“

„Deine Braut zu trösten!“ ergänzte der General.

„Gewiß, ich habe doch wohl das erste Recht dazu.“

„Hast Du es wirklich noch? Das wird sich zeigen!“

Der junge Graf stutzte bei dem Tone; aber der Großvater ließ ihm nicht Zeit, zu errathen, um was es sich handle, sondern fragte kurz und scharf:

„In welchem Verhältniß stehst Du zu Heloise von Nérac?“

Die Frage kam so unerwartet, daß Raool auf einen Augenblick die Fassung verlor. Im nächsten aber hatte er sie zurückgewonnen und entgegnete:

„Nun, sie ist die Schwester meines Freundes Clermont.“

„Das weiß ich! Es scheint aber, daß sie Dir noch mehr ist. Keine Ausflüchte! Ich verlange volle, rückhaltlose Wahrheit!Kannst Du dies Verhältniß vor Deiner Braut verantworten? Ja oder nein!“

Raoul schwieg. Ein Lügner war er trotz alledem nicht, und er konnte auch nicht lügen diesen drohenden Augen gegenüber, die ihm bis auf den Grund der Seele zu dringen schienen und die Wahrheit zu erzwingen wußten, wie sehr man sie auch verschleierte.

„Also doch!“ sagte Steinrück dumpf. „Ich konnte und wollte es nicht glauben!“

„Großvater –“

„Genug, ich bedarf keiner Antwort mehr! Dein Verstummen sprach zu deutlich. Ist es denn möglich? Eine Braut wie Hertha zu opfern und wem zu opfern! Hast Du die Augen oder den Verstand verloren? Die Sache ist eben so unbegreiflich wie sie schmachvoll ist.“

Raoul stand finster mit fest zusammengepreßten Lippen da. Er ertrug es nicht, in solcher Weise ausgescholten zu werden, und der herrische Ton reizte ihn nun vollends, seine Antwort klang mehr trotzig als beschämt.

„Du häufst alle Vorwürfe auf mich, Großvater, und doch trägt Hertha mit ihrer verletzenden Kälte, ihrer eisigen Zurückhaltung die erste Schuld an unserer Entfremdung. Sie hat mich nie geliebt: sie kann überhaupt nicht lieben.“

„Da irrst Du sehr!“ sagte der General mit tiefer Bitterkeit. „Du hast es allerdings nicht vermocht, ihre Liebe zu gewinnen, aber ein Anderer verstand das besser als Du. Dem gegenüber [850] kennt sie keinen Stolz und keine Kälte, dem opfert sie willig ihre Grafenkrone, der darf es wagen, ihr einen bürgerlichen, einen einst befleckten Namen zu bieten – Michael Rodenberg!“

Der junge Graf stand da, als sei der Blitz vor ihm niedergefahren, und blickte wie betäubt seinen Großvater an. Dann aber schien sich sein ganzes Wesen aufzubäumen. Er hatte sie trotz alledem einst geliebt, die schöne, eisige Braut, und erst ihre unbesiegbare Kälte hatte ihn hineingetrieben in die Leidenschaft für eine Andere. Der Gedanke, daß sie einem Anderen, daß sie dem tiefgehaßten Michael gehören sollte, raubte ihm fast die Besinnung, und mit der wildesten Heftigkeit brach er aus:

„Rodenberg? Er wagt es, um eine Gräfin Steinrück zu werben, sie heimlich zu bethören, während sie mir noch anverlobt ist? Der ehrlose Bube –“

„Schweig’!“ herrschte ihn der General an. „Du hast ehrlos gehandelt, nicht Michael. Er war soeben bei mir, um in Hertha’s Namen ihr Wort von Dir zurückzufordern und mir Alles zu enthüllen. Du schwiegst – und verriethest Deine Braut!“

„Durfte ich denn reden? Du hättest mich zermalmt mit Deinem Zorne, wenn ich Dir meine Liebe zu Heloise gestanden hätte.“

Die Lippen Steinrück’s zuckten verächtlich.

„Also aus Furcht vor mir! Glaubst Du, daß ich einen Gehorsam will, der sich auf Lüge und Verrath gründet? Ich fürchte freilich, auch ohne diesen Treubruch war Hertha Dir verloren, sobald Michael mit Dir in die Schranken trat.“

„Großvater, das geht zu weit!“ Die Stimme Raoul’s erstickte fast vor Grimm. „Willst Du mich, Deinen Erben, den letzten Sprossen Deines Hauses, einem Menschen nachsetzen, der noch an der Schande seines Vaters zu tragen hat?“

„Und der trotzdem emporsteigen wird zu einer Höhe, die Du nie erreichst. Der schreitet zum Ziele, und wenn sich eine Welt von Hindernissen vor ihm aufthürmt, während Du, mit all dem Glanze Deines Namens und Deiner Abkunft, mit all Deiner reichen Begabung, nur einer von den Tausenden sein wirst, die sich in der Menge verlieren. Beide seid Ihr von meinem Stamme, aber nur Einer hat mein Blut geerbt. Du bist das Ebenbild Deiner Mutter; vom Vater hast Du nur die Charakterschwäche. Michael ist mein Sproß, und wenn er zehnmal Rodenberg heißt – ich erkenne ihn als einen Steinrück an!“

Da war sie endlich, die Anerkennung, die der Stolz des alten Grafen so lange seinem Enkel verweigert hatte, die er ihm Auge in Auge nie zugestanden. Jetzt brach sie fast wider seinen Willen hervor.

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Titel: Sankt Michael
aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 49, S. 863–867
Novelle – 25. Fortsetzung

[863] Raoul war bei den letzten Worten Steinrück’s leichenblaß geworden; er wagte keinen Widerspruch, aber wenn irgend etwas seinen Haß gegen Michael noch steigern konnte, so war es diese Erklärung. Steinrück ging einige Male im Zimmer auf und nieder, als wolle er sich zur Ruhe zwingen, und trat endlich vor den jungen Grafen hin.

„Deine Verlobung ist gelöst! Nach dem, was Du mir selbst zugestanden hast, kann ich es Hertha nicht wehren, zurückzutreten. Deine Mutter wird Dir klar machen, was Du auch äußerlich dadurch verlierst. Wir sind in diesem Falle ausnahmsweise einer Meinung, und sie scheint eine Ahnung der Gefahr gehabt zu haben, die Dir von jener Seite drohte; denn sie erklärte mir noch kürzlich mit aller Bestimmtheit, daß Du auf ihr Drängen den Verkehr mit den Clermonts aufgegeben hättest. Du hast also auch sie getäuscht, wie Du mich täuschtest, und das um eines Weibes willen –“

„Das ich liebe!“ rief Raoul aufflammend. „Bis zum Wahnsinn liebe! Beleidige Heloise nicht, Großvater! Ich ertrüge es nicht, wenn ich auch weiß, daß Du sie und Henri hassest, weil sie dem Lande meiner Mutter angehören.“

Steinrück zuckte die Achseln.

„Ich dächte, Dein Oheim Montigny gehörte diesem Lande auch an, und Du weißt, daß er meine volle Achtung und Sympathie besitzt. An diesen Geschwistern aber haftet etwas Abenteuerliches, trotz ihrer Abkunft, die ja hinreichend beglaubigt zu sein scheint. Sie verkehren ohne Zweck und Ziel in der hiesigen Gesellschaft und werden vermuthlich eines Tages eben so spurlos verschwinden, wie sie aufgetaucht sind. Dann wird auch Dein unsinniger Roman zu Ende sein, aber er wird Dich eine glänzende Zukunft gekostet haben.“

„Wer sagt, daß er zu Ende sein wird? Wenn Hertha es wagen darf, Deinem Willen Hohn zu sprechen und alle Traditionen unserer Familie mit Füßen zu treten, so werde ich wohl auch das Recht haben, eine Frau mein zu nennen, deren Name unserem Hause mehr zur Ehre gereicht, als der eines Rodenberg.“

„Du denkst Frau von Nèrac zu heirathen!“ sagte der General mit vernichtender Kälte. „Willst Du vielleicht auf Deinen Posten im Ministerium ein Hauswesen gründen? Meine Stellung zu der Sache brauche ich Dir wohl nicht erst zu erklären. Einmal habe ich es zugelassen, daß dies fremde Element sich mit dem unsrigen einte; zum zweiten Male geschieht es nicht wieder – es hat Unheil genug gestiftet!“

„Großvater – Du sprichst von meiner Mutter!“ brauste Raoul auf.

„Ja, von Deiner Mutter, der ich es danke, daß Du mir und Deinem Vaterlande entfremdet bist, daß Du Dich mit Gleichgültigkeit, ja mit Widerwillen abwendest von dem, was Dir das Heiligste auf Erden sein sollte. Was habe ich nicht versucht, Dich diesem Bannkreise zu entreißen! Ob mit Güte oder mit Gewalt, es ist Alles umsonst gewesen! Der ärmste Bauer hängt mit größerer Liebe an seiner Scholle, als Du an Deiner Heimat, und an der Seite einer Heloise von Nérac wäre Dein Schicksal vollends besiegelt. Wenn Dich die Furcht vor mir nicht mehr in Schranken hält, nachdem ich dereinst die Augen geschlossen, so könnte es geschehen, daß der letzte Steinrück seinem Vaterlande verächtlich den Rücken kehrt und dort drüben ein Franzmann wird an Leib und Seele!“

Es lag bei allem Zorne doch ein so bitterer, qualvoller Schmerz in den Worten, daß die trotzige Erwiderung erstarb, die der junge Graf auf den Lippen hatte. Er sollte der Antwort überhoben werden, denn soeben öffnete sich die Thür, und seine Mutter trat ein.

Sie ahnte noch nichts von dem Vorgefallenen. Der General war nach der Entfernung Michael’s nur auf einige Minuten bei ihr gewesen, um ihr die Trauernachricht zu bringen. Sein Gerechtigkeitsgefühl verbot ihm, eine Anklage gegen Raoul auszusprechen, ehe er ihn selbst gehört hatte.

„Da bist Du ja, Raoul,“ sagte sie. „Ich hörte, daß der Großvater Dich rufen ließ, um Dir die Depesche aus Steinrück mitzutheilen, und komme, um zu erfahren, ob wir zusammen abreisen können oder ob Du mir erst morgen folgen wirst. Ich denke heute Abend den Kurierzug zu benutzen, um möglichst bald bei Hertha zu sein.“

Der General wandte sich anscheinend ruhig zu seiner Schwiegertochter.

„Raoul wird überhaupt nicht nach Steinrück gehen,“ entgegnete er. „Es sind Verhältnisse eingetreten, die ihn zwingen, hier zu bleiben.“

[864] Die Gräfin erschrak, aber sie war weit entfernt, den wahren Zusammenhang zu ahnen; ihre Befürchtungen nahmen eine ganz andere Richtung.

„Versagt man ihm etwa den Urlaub bei solcher Gelegenheit?“ fragte sie hastig. „Und auch Du, Papa, kannst nicht fort, wie Du sagtest? Es ist also wahr, was mir Leon schon gestern andeutete? Der Krieg ist unvermeidlich geworden?“

„Darüber kann ich Dir keine Gewißheit geben,“ erklärte Steinrück, nur die letzte Frage beantwortend. „Daß die Dinge ernst und kriegerisch aussehen, weiß ja alle Welt, und auch Raoul muß sich wie Jeder bereit halten, zu den Fahnen einberufen zu werden.“

„Einberufen?“’wiederholte die Gräfin erstaunt. „Er ist ja nie Soldat gewesen. Seine Zartheit und Kränklichkeit haben ihn stets von der militärischen Laufbahn ausgeschlossen, und auch das übliche Dienstjahr mußte ihm erlassen werden, weil sein Brustleiden noch nicht überwunden war.“

„So hieß es wenigstens! Die Aerzte haben damals eine sehr weitgehende Schonung geübt, mit der ich keineswegs einverstanden war, denn ich hielt Raoul schon damals für gesund; daß er es jetzt ist, wirst auch Du nicht mehr leugnen. Wer seinen Stolz darein setzt, der wildeste, tollkühnste Reiter zu sein; wer alle Strapazen der Hochlandsjagd erträgt, wenn es gilt, den Gemsen nachzustellen, und keine Ermüdung kennt in einem Treiben, von dem ich mehr weiß, als mir lieb ist, der wird auch wohl die Waffen im Kriege führen können.“

„Und Du könntest die Grausamkeit so weit treiben, von ihm zu fordern –“

„Was?“ fragte der General eisig. „Ah so, Du fürchtest, daß er vorläufig noch als Gemeiner eintreten muß? Das ist allerdings nicht zu ändern; aber er wird es nicht lange bleiben, und übrigens werde ich dafür sorgen, daß er in meiner unmittelbaren Nähe bleibt. Da gilt er der ganzen Umgebung für meinen Enkel und hat nur seine Soldatenpflicht zu erfüllen, wie jeder Andere.“

„Aber gegen die Meinen!“ rief Hortense leidenschaftlich. „Wenn es wirklich dazu käme – das überlebte ich nicht!“

„Man überlebt Vieles, Hortense, was noch schwerer zu tragen ist. Ich begreife, daß es Dir Thränen kosten wird, und muthe Dir nicht zu, hier in der Hauptstadt zu bleiben, wenn wirklich der Sturm gegen Frankreich losbricht. Du kannst eben unser Empfinden nicht theilen. Raoul aber ist der Sohn eines Deutschen und wird als solcher seine Schuldigkeit thun. Er war damals dienstunfähig; ich zweifle nicht, daß er jetzt vollkommen kriegstüchtig gefunden wird.“

Die Worte klangen sehr ruhig und sehr eisern. Aber Hortense lernte es nun einmal nicht, ihren Schwiegervater zu verstehen. Sie stürmte immer wieder von Neuem an gegen diesen Felsen, obgleich sie wußte, daß er nicht zu bewegen war.

„Es liegt aber in Deiner Macht, ihn davon zu befreien,“ sagte sie noch heftiger. „Es kostet Dich nur ein einziges Wort an die betreffenden Aerzte, daß Du das Leiden Deines Enkels noch nicht für überwunden hältst. Wenn der General Steinrück das erklärt, so wird es sicher Niemand wagen –“

„Ihn der Lüge zu zeihen? Gewiß nicht, aber man wagt es doch, ihm eine Lüge zuzumuthen, wie ich sehe. Ich will der Erregung, in der Du Dich befindest, Rechnung tragen, Hortense, sonst –“ er vollendete nicht, aber sein Blick ergänzte die Worte.

Raoul hatte bisher seitwärts gestanden, ohne sich an dem Gespräche zu betheiligen, und doch sah man, welchen leidenschaftlichen Antheil er daran nahm; jetzt aber trat er vor.

„Großvater, Du weißt, daß ich kein Feigling bin,“ sagte er gepreßt. „Du hast, mich oft tollkühn genannt und mich gezügelt, wo ich vorwärts wollte; aber Du wirst und mußt es begreifen, daß ich in diesen Kampf nicht gehen kann. – Die Hand erheben gegen das Volk und das Land meiner Mutter – mein ganzes Inneres empört sich dagegen.“

„Ich kann es Dir aber nicht ersparen,“ sagte Steinrück unbewegt. „In solchem Falle heißt es, Selbstüberwindung üben und unentwegt seine Pflicht thun. Wozu all die Worte! Es ist eine unbedingte Nothwendigkeit, der Ihr Euch Beide zu beugen habt – genug davon!“

„Ich will und kann mich aber hier nicht beugen!“ rief der junge Graf in steigender Erregung. „Ich habe niemals den Waffendienst geleistet, und auch jetzt wird man mich nicht rufen, wenn Du nicht darauf bestehst. Aber Du willst mich hineinzwingen in diesen Kampf gegen mein zweites Vaterland. Ich sehe es nur zu deutlich –“

Er brach ab, denn der General richtete sich so hoch und drohend empor, daß er mitten in der Rede verstummte.

„Ich dächte, Du hättest nur ein Vaterland! – Kommt Dir das nicht einmal jetzt zum Bewußtsein? Nun denn ja, Du sollst hinein in den Kampf, sollst ihn ausfechten von Anfang bis zu Ende, damit Du Dich wieder auf Dich selbst besinnst. Im Sturm des Krieges, in der Erhebung Deines ganzen Volkes lernst Du vielleicht begreifen, wo jetzt allein Dein Platz ist; vielleicht bringt Dir das die Werlorene Liebe zur Heimat zurück. Es ist noch meine einzige, meine letzte Hoffnung! Sobald die Entscheidung da ist, wirst Du Dich melden, freiwillig melden.“

Es war wieder einer jener energischen Befehle, denen sich Raoul sonst stets beugte; diesmal aber erhob er sich dagegen wit wild aufflammendem Trotz.

„Großvater, treibe mich nicht zum Aeußersten! Du hast es mir stets vorgeworfen, daß ich das Blut meiner Mutter in den Adern habe, und ich fürchte, daß Du Recht hast. Was ich jemals an Glück, an Freiheit genossen in meiner schönen sonnigen Jugendzeit, das liegt drüben in Frankreich, und nur dort erscheint mir das Leben wirklich lebenswerth. Hier in dem kalten nüchternen Deutschland bin ich nie heimisch geworden; hier wird mir jeder Tropfen der Freude karg zugemessen; hier wird mir immer und ewig das Gespenst der Pflicht entgegengehalten. Stelle mich nicht so eisern und unerbittlich vor die Wahl! Sie könnte anders ausfallen, als Du glaubst! Ich liebe Dein Deutschland nun einmal nicht, habe es nie geliebt und, komme was da will – ich kämpfe nicht gegen mein Frankreich!“

„Mein Raoul – ich wußte es ja!“ rief Hortense triumphirend, indem sie ihm die Arme entgegenstreckte.

Steinrück stand regungslos da und sah auf die Beiden. Das hatte er doch nicht erwartet! Die Furcht vor ihm hatte Raoul bisher immer noch in Schranken gehalten. Er wagte es nie, seinen innersten Empfindungen Worte zu leihen. Jetzt brach diese Schranke, und was sie entfesselte, das erschütterte selbst die eiserne Natur des alten Grafen. Seine Stimme hatte einen fremden Klang, als er endlich wieder sprach.

„Raoul – komm zu mir!“

Der junge Graf rührte sich nicht. Er blieb an der Seite seiner Mutter, die den Arm um ihn gelegt hatte, als wolle sie ihn zurückhalten. So standen sie da, Beide trotzig und feindselig. Aber der General war nicht der Mann, der in seinem Hause einen solchen Widerstand duldete.

„Hast Du meinen Befehl nicht gehört?“ fragte er. „So muß ich ihn wohl wiederholen. Du sollst zu mir kommen!“

Sein Blick und Ton übten wieder die alte Gewalt auf Raoul aus, der fast mechanisch, als weiche er einer unwiderstehlichen Macht, sich von der Mutter losmachte und dem Befehle Folge leistete.

„Du willst nicht kämpfen?“ sagte Steinrück, indem er die Hand des jungen Mannes mit so eisernem Druck umschloß, daß jener kaum einen Schmerzensschrei unterdrücken konnte, „das wird sich zeigen! Ich werde in Deinem Namen die Meldung erstatten, und bist Du erst einberufen, so wird man Dich lehren, was Disciplin heißt. Du weißt doch wohl, was dem Soldaten geschieht, der den Gehorsam verweigert, oder – dem Deserteur!“

„Großvater!“ schrie Raoul auf, der zusammengezuckt war bei dem schmachvollen Worte.

„Ich stelle Dich vor die Wahl, trotz Deiner Drohung! Und damit Du Deinen Sohn nicht zu sehr, bewunderst wegen seines Muthes, Hortense, so magst Du erfahren, was Dir doch kein Geheimniß bleiben kann: Raoul’s Verlobung mit Hertha ist gelöst, durch seine Schuld. Er hat bei Frau von Nérac Wort und Pflicht vergessen, die er seiner Braut schuldet.“

„Raoul!“ rief die Gräfin entsetzt. Es klang anders, als ihr Ruf vorhin. Der General ließ langsam die Hand seines Enkels los und trat zurück.

„Darüber magst Du mit ihm rechten! Das Zweite, Schlimmere, werde ich zu verhüten wissen. Ich will, doch sehen, ob der letzte Steinrück es wagt, seinem Namen solche Schmach anzuthun und seinem Vaterlande die Treue zu brechen, wie er sie seiner Braut gebrochen hat!“

Damit wandte er den Beiden den Rücken und verließ das Gemach.


[866] Das Zerwürfniß in der Steinrück’schen Familie lastete schwer genug auf allen Mitgliedern derselben. Hortense war allerdings abgereist, denn der General bestand darauf, daß wenigstens ein Mitglied seines Hauses die Verwandte zu Grabe geleite. Er selbst konnte in der That nicht fort, und für Raoul’s Nichterscheinen konnte man die politischen Ereignisse wenigstens zum Vorwand nehmen; die Abwesenheit Hortense’s aber hätte das Zerwürfniß sofort der Welt offenbar gemacht, und diese fügte sich um so bereitwilliger dem Verlangen ihres Schwiegervaters, als sie ihre letzte Hoffnung noch auf ein persönliches Eingreifen setzte. In der stürmischen Scene, die vor der Abreise zwischen ihr und Raoul stattgefunden hatte, war der Name Michael’s nicht genannt worden; sie wußte nichts von seinen Beziehungen zu Hertha und zu ihrer Familie überhaupt. Heloise von Nérac galt ihr als der alleinige Grund des Bruches, und deßhalb hoffte sie noch immer, daß es ihr gelingen werde, die beleidigte Braut zu versöhnen und ihrem Sohm trotz alledem das zu sichern, was er in grenzenlosem Leichtsinne mit Hertha’s Hand aufgegeben hatte.

Der General und sein Enkel hatten sich seit gestern nur auf Minuten gesehen; aber schon diese Minuten waren peinlich genug. Augenblicklich befand sich der junge Graf im Hause seines Freundes Clermont, wohin er im vollen Trotze gegangen war, um der Mutter und dem Großvater zu beweisen, daß er kein Knabe mehr sei, der sich in solchen Dingen befehlen oder verbieten lasse. Er war allein mit Heloise und hatte ihr soeben mitgetheilt, was gestern geschehen war, aber in einer so leidenschaftlichen Art, daß man deutlich sah, wie tief es ihn erregte.

„Der Würfel ist gefallen!“ schloß er endlich. „Meine Verlobung mit Hertha ist gelöst. Ich bin frei, wie Du es bist, und zu verbergen giebt es jetzt nichts mehr. Jetzt sage es mir endlich in klaren, deutlichen Worten, Heloise, daß Du die Meine werden, daß Du meinen Namen tragen willst. Noch hast Du das nie gethan.“

Die junge Frau hatte schweigend zugehört, aber zwischen ihren Brauen lag eine Falte. Es schien fast, als ob ihr dieser Ausgang nicht erwünscht sei.

„Nicht so stürmisch, Raoul!“ wehrte sie ab. „Du hast es mir eben selbst bekannt, daß Dein Großvater diese Verbindung niemals zugiebt, und Du hängst gänzlich von ihm ab.“

„Für den Augenblick! Für die Zukunft bin ich der Majoratserbe, und das kann mir kein Testament rauben. Es ist Familiengesetz in unserem Hause. Du weißt es ja!“

Heloise wußte das allerdings sehr genau, aber sie wußte auch, wie gering, ihren Ansprüchen nach, die Einkünfte dieses Majorats waren. Die Sache war ja schon vor Monaten Gegenstand einer eingehenden Erörterung zwischen ihr und dem Bruder gewesen, und das Zukunftsbild, das Henri ihr damals so schonungslos ausmalte, das Leben auf einem einsamen Gute in der Provinz, hatte wenig Verlockendes für eine Frau, die nur athmen konnte in dem glänzenden Treiben der Gesellschaft und für die Glanz und Luxus Lebensbedürfnisse waren.

„So laß uns auf die Zukunft hoffen!“ sagte sie rasch ablenkend. „Die Gegenwart ist uns feindlich genug. Nicht allein der Streit in Deiner Familie, auch die politischen Ereignisse drohen, uns zu trennen.“

„Trennen?“ fuhr Raoul auf. „Weßhalb?“

„Nun, es versteht sich doch von selbst, daß wir nicht hier bleiben, wenn der Krieg wirklich ausbrechen sollte, den auch mein Bruder für unvermeidlich hält. Sobald unsere Gesandtschaft die Stadt verläßt, ist auch unseres Bleibens nicht länger. Henri hat mir bereits mitgetheilt, daß ich mich auf eine schnelle und unerwartete Abreise gefaßt halten muß.“

„So laß Henri gehen, aber Du bleibst! Dich lasse ich nicht fort! Ich weiß, daß ich ein Opfer von Dir fordere, aber bedenke, was ich Dir geopfert habe! Dich jetzt zu verlieren, ertrage ich nicht! Du mußt bleiben!“

„Wozu?“ fragte die junge Frau herb. „Vielleicht, um mit anzusehen, wie der General seinen Willen durchsetzt, wie Du in voller Uniform abmarschirst gegen Frankreich?“

Raoul ballte die Hand.

„Heloise, treibe nicht auch Du mich zur Verzweiflung! Wenn Du wüßtest, was ich Alles habe ertragen müssen, was ich noch ertragen muß! Mein Großvater – er hat seit gestern keine zehn Worte mit mir gesprochen. Aber er hat einen Blick, einen Ton, die mein Blut zum Sieden bringen. Es liegt die vollste Verachtung darin. Meine Mutter, von der ich nie etwas Anderes empfangen habe, als Liebe und Zärtlichkeit, überschüttet mich mit Vorwürfen. Henri will fort. Jetzt sprichst auch Du von Trennung, und ich soll allein bleiben, während es von allen Seiten auf mich einstürmt – das ertrage ich nicht.“

Er warf sich in der That wie ein Verzweifelter in einen Sessel. Heloise blickte mit einem Gemisch von Mitleid und Unwillen auf den jungen Mann, der mit all seiner Ritterlichkeit und Tollkühnheit, mit seiner Verachtung jeder äußeren Gefahr, doch wie ein Rohr im Winde schwankte, sobald es sich um den moralischen Muth handelte.

„Müssen wir uns denn trennen?“ fragte sie leise. „Das steht ja bei Dir, Raoul!“

Er blickte befremdet, fragend auf. „Bei mir?“

„Gewiß. Ich kann nicht bleiben, so wenig wie Henri. Wir wissen es ja aber, daß Du im Herzen unser bist, daß nur der Zwang Dich auf der deutschen Seite festhält. Nun wohl, entreiße Dich diesem Zwange – folge uns nach Frankreich!“

„Bist Du von Sinnen?“ rief Raoul aufspringend. „Jetzt, am Vorabend des Krieges? Das wäre ja Verrath!“

„Es wäre nur ein tapferer, muthiger Entschluß, ein kühnes Bekenntniß der Wahrheit. Wenn Du hier bleibst, belügst Du Dich selbst und alle Anderen. Was giebst Du denn auf? Ein Land, in dem Du fremd geblieben bist und ewig fremd sein wirst, Verhältnisse, die Dir unerträglich geworden sind, einen Großvater, mit dem Du Dich im offenen Kampfe befindest. Die Einzige, nach der Du fragst, Deine Mutter, mag Dir jetzt grollen über das Scheitern ihrer Pläne; bei diesem Schritt grollt sie Dir sicher nicht.“

„Ich heiße Steinrück!“ sagte Raoul finster. „Das hast Du wohl vergessen, Heloise?“

„Ja, so heißest Du, aber Du bist ein Montigny, vom Scheitel bis zur Sohle. Du hast Dich dessen oft vor uns gerühmt, wozu es denn jetzt verleugnen? Soll der Name des Vaters allein Dir Dein Denken und Fühlen vorschreiben? Hat das Blut der Mutter nicht das gleiche Recht? Zu ihrem Lande, zu ihrem Volke zieht es Dich mit ganzer Seele, und man will Dir als ein Verbrechen anrechnen, was doch nur die heiligste Macht der Natur ist; man will Dich zwingen, gegen uns zu kämpfen. Das ist Verrath, und dazu wirst Du Dich nicht brauchen lassen!“

Raoul hatte sich abgewandt, als wolle er die Worte nicht hören, und doch sog er sie begierig ein. Das waren ja seine eigenen Gedanken, die ihn Tag für Tag umschlichen, die er von sich wies und die doch immer wieder kamen. Das Einzige, was ihn hätte davor schützen können, ein Pflichtbewußtsein, besaß der junge Graf nun einmal nicht. Die Pflicht war ihm stets als ein Gespenst, als ein eiserner Zwang erschienen. So stand sie auch jetzt vor ihm, aber sie schreckte ihn wenigstens noch.

„Hör’ auf, Heloise!“ sagte er gepreßt. „Ich kann, ich darf das nicht hören, und,“ er richtete sich plötzlich mit einer energischen Bewegung empor, „ich will es auch nicht hören – laß mich fort!“

Er wandte sich in der That zum Gehen, aber jetzt trat die junge Frau zu ihm und legte ihre Hand auf seinen Arm. Ihre Stimme klang bittend, überredend und wieder traf ihn der weiche verschleierte Blick, den er nur zu gut kannte.

„Komm mit uns, Raoul! Du verzehrst Dich ja in diesem unseligen Kampfe mit Dir selbst. Du gehst zu Grunde daran, und ich – glaubst Du, daß ich die Trennung von Dir leicht ertrage? Daß ich weniger leide als Deine Mutter, wenn ich Dich in den Reihen unserer Feinde weiß? Folge uns nach Frankreich!“

„Heloise – laß mich!“ Der junge Graf machte einen verzweiflungsvollen, aber ohnmächtigen Versuch zu entrinnen; es war vergebens. Immer bestrickender klangen die Worte, denen er nicht entfliehen konnte; immer enger und dämonischer umwand ihn die schillernde Schlange.

„Er wird Dich zu zwingen wissen, der eiserne und unerbittliche Greis! Er hat Dich ja stets gezwungen. Entreiße Dich seiner Gewalt, ehe er seine Drohung wahr macht! Noch ist der Krieg nicht erklärt, noch darfst Du frei handeln. Verschaffe Dir einen Urlaub im Ministerium, gleichviel, auf welche Art und unter welchem Vorwande. Wenn Du fern bist, wenn Dich die Ordre nicht erreichen kann –“

„Nimmermehr!“ rief Raoul. Er fühlte, daß er im Begriff war, zu erliegen. Aber da bäumte sich noch der letzte Rest von Ehrgefühl in ihm empor. Das Bild seines Großvaters tauchte vor ihm auf, des „eisernen, unerbittlichen Greises“ mit der tödlichen Verachtung [867] im Blick; das trug den Sieg davon, selbst über den drohenden Verlust der Geliebten, und entriß ihn noch einmal der Gefahr.

„Nimmermehr!“ wiederholte er, sich losreißend. „Ich könnte nicht leben mit dem Bewußtsein, auch nicht an Deiner Seite – leb’ wohl, Heloise!“

Er eilte nach der Thür und traf dort mit Henri Clermont zusammen, der soeben von einem Ausgange zurückkehrte und ihn aufhalten wollte.

„Wohin denn so stürmisch, Raoul? Hast Du keine Minute für mich übrig?“

„Nein!“ stieß der junge Graf hervor. „Ich muß fort – augenblicklich – leb’ wohl!“

Er stürmte hinaus. Clermont sah ihm verwundert nach und wandte sich dann zu seiner Schwester.

„Was hat Raoul? Was bedeutet dies Fortstürmen?“

„Es ist seine Antwort auf meine Zumuthung, uns nach Frankreich zu folgen,“ entgegnete die junge Frau in tiefgereiztem Tone. „Du hörst es! Er sagt mir Lebewohl.“

Henri zuckte nur die Achseln.

„Für heute! Morgen wird er wiederkommen. Ich dächte, Du kenntest doch jetzt Deine Macht über ihn hinreichend. Er hat eine Hertha Steinrück aufgegeben um Deinetwillen und mit ihr ein fürstliches Vermögen; Dich giebt er niemals auf!“

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Titel: Sankt Michael
aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 50, S. 878–880
Novelle – 26. Fortsetzung

[878] Das drohende Wetter war losgebrochen; die Kriegserklärung war erfolgt, und jetzt überstürzten sich die Ereignisse in so wilder Hast, daß jede persönliche Angelegenheit und jedes persönliche Interesse von ihnen überfluthet wurde.

In der Wohnung des Marquis von Montigny stand Alles gepackt und reisefertig. Er war zurückgeblieben, um in Vertretung des Gesandten das Letzte zu ordnen, wollte nun aber auch in einigen Stunden abreisen. Vorher schien er jedoch noch Jemand zu erwarten, denn er trat von Zeit zu Zeit an das Fenster und spähte ungeduldig hinaus. Endlich meldete der Diener den jungen Grafen Steinrück, und dieser trat ein.

Raoul sah ungewöhnlich bleich aus, und in seinem ganzen Wesen lag etwas seltsam Verstörtes, das seinem Oheim jedoch nicht besonders auffiel; in jetziger Zeit war ja Alles in fieberhafter Erregung. Er reichte ihm flüchtig die Hand.

„Hast Du mein Billett erhalten? Ich stehe im Begriff abzureisen, aber ich mußte Dich unter allen Umständen vorher noch einmal sprechen.“

„Ich hätte Dir jedenfalls Lebewohl gesagt,“ entgegnete Raoul. „Die Mama wird freilich trostlos darüber sein, daß Du nicht einmal Abschied von ihr hast nehmen können.“

„Ich muß sofort nach Paris zurück,“ erklärte Montigny achselzuckend. „Deine Mutter hat mir aber bereits von Steinrück aus geschrieben, und eben dieser Brief zwingt mich, mit Dir zu sprechen.“

Der junge Graf richtete sich mit vollem Trotze auf, denn er wußte, was jetzt folgen würde. Hortense hatte dem Bruder, den sie bei ihrer schnellen Abreise nicht mehr gesehen hatte, brieflich ihr Herz ausgeschüttet, und es galt nun, einen Sturm auch von dieser Seite zu bestehen. In der That hielt sich der Marquis nicht mit einer Einleitung auf, sondern ging sofort zu der Hauptsache über.

„Deine Verlobung mit Hertha ist gelöst, wie ich höre! Auch mir ist es unbegreiflich, wie Du sie aufgeben konntest, und ich fürchte, Du wirst es nur zu bald einsehen, was Du damit aufgegeben hast. Doch das ist schließlich Deine Sache. Meine Schwester schreibt mir aber, daß Du beabsichtigst, die Dame, um derentwillen der Bruch stattfand, Frau von Nérac, zu Deiner Gemahlin zu machen, und ist außer sich darüber. Ich habe ihr freilich zugleich mit meinen Abschiedszeilen die Beruhigung gesandt, daß es nicht so weit kommen wird.“

„Weßhalb nicht?“ fuhr Raoul auf. „Bin ich ein Kind, das sich noch gängeln und bevormunden läßt? Ich bin mündig, auch vor dem Gesetz; das scheint Ihr Alle zu vergessen, und wenn sich Alles dagegen setzt, Heloise wird mein; ich lasse sie mir nicht rauben!“

Es sprach nicht bloß Trotz aus diesen Worten; eine wilde Leidenschaftlichkeit lag in ihnen, und das fieberhaft Erregte und Verstörte des jungen Mannes trat dabei so deutlich hervor, daß auch Montigny es jetzt bemerkte. Er milderte unwillkürlich den Ton, und die Hand seines Neffen ergreifend, zog er ihn neben sich nieder.

„Vor allen Dingen, Raoul, versprich mir, ruhiger zu werden. Wenn Du eine bloße Andeutung schon mit solcher Heftigkeit aufnimmst, wie willst Du dann die volle Wahrheit ertragen? Hätte ich geahnt, wie tief Du verstrickt bist, ich hätte längst gesprochen. Mit der Kriegserklärung fällt allerdings ein Theil jener Rücksichten, die mir Schweigen auferlegten; dennoch fordere ich Dein Ehrenwort, daß das, was ich Dir jetzt mittheile, kein Dritter erfährt, auch Deine Mutter nicht.“

Die ernsten, ruhigen Worte, durch die ein Ton von Mitleid hindurchklang, verfehlten ihre Wirkung nicht; aber Raoul gab keine Antwort, und der Marquis fuhr fort:

„Ich habe Clermont schon vor Monaten gedroht, Dir die Augen zu öffnen, wenn er Dich nicht aus den Händen ließe, und er war vorsichtig genug, Dich zu bestimmen, Eure Beziehungen fortan geheim zu halten. Ich und Hortense, wir ließen uns Beide täuschen; aber ich kann und werde es nicht zulassen, daß der einzige Sohn meiner Schwester solchen Schlingen zum Opfer fällt. Du weißt nicht, wer und was dieser Clermont ist –“

„Onkel Leon,“ unterbrach ihn Raoul heftig, aber mit qualvoll gepreßter Stimme, „sprich nicht weiter, ich bitte Dich. Ich will nichts hören, nichts wissen – verschone mich!“

Montigny sah ihn befremdet und bestürzt an.

„Du willst nicht wissen? Du weißt also doch etwas, wie es scheint? Und hast dennoch –“

„Nein, nein, ich ahne nur, und auch das erst seit gestern. Ein Zufall – frage mich nicht!“

„Kannst Du es nicht ertragen, wenn man Dir die Binde von den Augen reißt?“ fragte Montigny ernst. „Gleichviel, es muß dennoch geschehen. Du kennst Clermont und seine Schwester nur als Privatpersonen, die ein Reiseleben führen, weil ihnen ihr Vermögen nicht erlaubt, ein Haus in Paris zu machen. Der Zweck ihres Aufenthaltes ist weniger harmlos. Sie sind hier in einer jener Missionen, die jede Regierung braucht und brauchen muß, zu denen sich aber kein Ehrenmann hergiebt. Man überläßt sie jenen dunklen Existenzen, denen jedes Mittel recht ist, um sich äußerlich wenigstens in der Gesellschaft zu behaupten. Daß es hier wirklich die Abkömmlinge eines alten edlen Geschlechtes sind, die so tief sanken, ändert nichts an dem ,Geschäfte’ selbst; es wird höchstens noch schmachvoller dadurch. Ich denke, Du hast mich jetzt verstanden.“

Raoul schien in der That verstanden zu haben, aber er machte eine stürmisch abwehrende Bewegung.

„Du sprichst von Henri – Du magst Recht haben; aber Heloise ist schuldlos; sie hat keinen Antheil an dem, was der Bruder that; sie wußte nichts davon. Sprich keine Verleumdung gegen sie aus – ich werde Dir niemals glauben!“

„So wirst Du den Thatsachen glauben müssen. Ich sage Dir und bürge Dir mit meinem Worte dafür, daß bei diesen ,Aufträgen‘ Frau von Nérac die Hauptrolle hatte, weil sie sich als Dame freier und unverdächtiger bewegen konnte. Ich kann Dir die Beweise liefern, die Summen nennen, die gezahlt worden sind –“

„Nein – nein!“ schrie Raoul auf. „Schweig’ um Gotteswillen! Das könnte mich zum Wahnsinn bringen!“

„Sie scheint Dich in der That halb wahnsinnig gemacht zu haben; sonst hättest Du ihr nicht eine Hertha geopfert,“ sagte Montigny bitter. „Und doch warst Du den Beiden nichts weiter als ein Werkzeug, ein Schlüssel, der ihnen verschlossene Thüren öffnen sollte. Durch Dich wollten sie sich bei dem General Eingang verschaffen, vielleicht auch Beziehungen im Ministerium anknüpfen. Darum drängte Dir Clermont seine Freundschaft auf; darum spielte seine Schwester einen Roman mit Dir, den Du leider ernst genommen hast, und Du gingst blind in die Falle. Nun, hoffentlich bist Du jetzt geheilt und denkst nicht mehr daran, sie zu Deiner Gemahlin zu machen, die – bezahlte Spionin!“

Raoul zuckte zusammen bei dem Worte, dann aber sprang er plötzlich auf und eilte nach der Thür. Montigny vertrat ihm den Weg.

„Wo willst Du hin?“

„Ihnen nach!“

„Thorheit!“ sagte der Marquis, ihn festhaltend. „Soll es vielleicht noch in letzter Stunde ein Unglück geben? Solche Dinge straft man mit Verachtung.“

Raoul gab keine Antwort, aber das leichenblasse Antlitz, das er jetzt zu seinem Oheim emporhob, trug einen Ausdruck, daß jener erschreckt zurücktrat.

„Was hast Du? Das ist nicht bloß der Schmerz verrathener Liebe; das ist ja eine förmliche Todesangst, so erkläre mir doch –“

„Ich kann nicht! Halte mich nicht auf!“ rief der junge Graf, sich gewaltsam losringend, und ohne irgend eine Erklärung, ohne ein Lebewohl an den Verwandten, den er doch zum letzten Male sah, stürzte er davon. Montigny blickte ihm mit tiefgefurchter Stirne nach.

[879] „Unbegreiflich! Dahinter verbirgt sich noch irgend etwas Anderes – ich wollte, ich hätte früher gesprochen!“

Im Steinrück’schen Hause traf man gleichfalls die Vorbereitungen zu der Abreise. Der General wollte noch am heutigen Abende zu seinem Korps abgehen, während der junge Graf einstweilen zurückblieb. Er hatte gestern in der That die Ordre erhalten, sich in wenigen Tagen bei der militärischen Behörde zu melden. Der Großvater hatte jetzt wie immer Raoul gegenüber seinen Willen durchgesetzt.

Steinrück war in den letzten Tagen so unaufhörlich in Anspruch genommen, daß er seinen Enkel kaum gesehen hatte. Gestern Abend hatte er noch einer Berathung beigewohnt, die noch einmal vor dem Aufbruch die Führer der Armee versammelte und sich bis tief in die Nacht hinein ausdehnte. Er war erst gegen Morgen nach Hause gekommen, und als er nach wenigen Stunden des Schlafes sein Arbeitszimmer wieder betrat, erwarteten ihn dort schon Ordonanzen und Depeschen, die abgefertigt und erledigt sein wollten, und so ging es den ganzen Vormittag hindurch. Eins löste das Andere ab; dazwischen mußten noch die Anordnungen für die Abreise getroffen werden; es gehörte in der That die eiserne Natur des alten Grafen dazu, um das auszuhalten.

So war es Mittag geworden, als Hauptmann Rodenberg erschien. Er war schon gestern in einer dienstlichen Angelegenheit hier gewesen, die aber nur wenige Minuten in Anspruch nahm und überdies in Gegenwart eines anderen hohen Officiers erledigt wurde. Da war die Begegnung selbstverständlich eine durchaus fremde gewesen. Auch heute stand Michael in streng dienstlicher Haltung vor dem General, aber statt der Meldung, welche dieser erwartete, sagte er:

„Ich komme diesmal ohne jeden Auftrag, aber die Sache, die mich herführt, ist von so großer Wichtigkeit, daß ich Sie um sofortiges Gehör ersuchen muß, Excellenz. Darf ich die Thür abschließen, um uns vor Störung zu sichern?“

Steinrück sah ihn bei dieser seltsamen Einleitung befremdet an, aber er fragte kurz:

„Betrifft die Sache den Dienst?“

„Ja.“

„So schließen Sie die Thür!“

Michael kam der Weisung nach und kehrte dann zurück. Auch in seinem Wesen lag heute etwas Unruhiges, Erregtes, das freilich durch die gewohnte Selbstbeherrschung niedergehalten wurde; aber es verrieth sich doch in seiner Stimme, als er jetzt weiter sprach:

„Ich überbrachte gestern Morgen ein Schriftstück, das von der höchsten Wichtigkeit war. Ich hatte strengen Befehl, es nur persönlich zu übergeben, und nur in die eigenen Hände Euer Excellenz zu legen.“

„Gewiß, ich empfing es von Ihnen. Kannten Sie den Inhalt?“

„Ja, ich habe ihn selbst niedergeschrieben, da ich bei der Abfassung als Sekretär diente. Er betrifft den Vormarsch des Steinrück’schen Korps; eben deßhalb wurde mir bei der Uebergabe die größte Sorgfalt anbefohlen.“

„Nun, ich bestätige Ihnen ja den Empfang; das Papier liegt in meinem Schreibtische.“

„Liegt es wirklich noch dort?“

„Wo will das hinaus?“ fragte der General scharf. „Ich sage Ihnen doch, daß ich es mit eigener Hand hineingelegt habe.“

„Und ich bitte Sie, sich zu überzeugen, ob es noch an Ort und Stelle ist. Die ungeheuere Tragweite der Sache mag meine Kühnheit entschuldigen. Ich will gern den Vorwurf der Voreiligkeit tragen, wenn ich nur über den Verbleib jener Papiere beruhigt werde.“

Steinrück zuckte ungeduldig die Achseln, aber er zog den Schlüssel hervor, den er stets bei sich trug, und ging an den Schreibtisch. Das sehr feste und künstliche Schloß ließ sich selbst von dem damit Vertrauten nur langsam öffnen; heute gab es seltsamerweise dem ersten Druck nach; der Schlüssel drehte sich kaum, als die Thür auch schon aufsprang. Der General erbleichte und trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

„Der Schreibtisch ist erbrochen worden,“ sagte Michael leise, indem er auf das Schloß wies, das allerdings deutlich die Spuren eines gewaltsamen Oeffnens zeigte. „Ich dachte es mir!“

Steinrück erwiderte keine Silbe und hielt sich auch nicht mit einer Prüfung der Papiere auf, die dort lagen und nichts besonders Wichtiges zu enthalten schienen. Er drückte hastig an eine Stelle der Holzwand, die äußerlich nicht die mindeste Vorrichtung zeigte. Das Getäfel wich zur Seite und ließ ein meisterhaft verborgenes, geheimes Fach sichtbar werden, aber es zeigte sich völlig leer; auch nicht das kleinste Blättchen war darin zu entdecken.

„Das ist Verrath!“ rief der Graf heftig. „Niemand außer mir kannte dies Geheimfach. Niemand wußte es zu öffnen. Hauptmann Rodenberg, was wissen Sie von der Sache? Sie haben einen Verdacht, eine Spur – reden Sie!“

Michael war es gewohnt, sich seinen Vorgesetzten gegenüber kurz und knapp zu fassen und mit wenigen Worten nur die Thatsachen hervorzuheben. Heute that er dies nicht, sondern berichtete so ausführlich, als wolle er seinen Zuhörer irgend etwas ahnen, errathen lassen, noch bevor es ausgesprochen wurde.

„Ich hatte gestern Abend noch in später Stunde der Konferenz, der auch Sie beiwohnten, eine soeben eingetroffene Depesche zu überbringen. Auf dem Rückwege mußte ich an Ihrem Hause vorüber, und zwar hatte ich die Gartenseite zu passiren. Ich bog gerade um die Straßenecke – es mochte gegen Mitternacht sein – als ich in der kleinen Mauerpforte, die sich neben dem Gitterthor befindet, eine männliche Gestalt verschwinden sah. Das wäre mir vielleicht nicht besonders aufgefallen; die Dienerschaft konnte ja das Recht haben, diesen Weg zu benutzen; aber beim Schein der Straßenlaterne glaubte ich die Gestalt zu erkennen, die ich freilich nur einen Moment lang sah “

„Und wen glaubten Sie zu erkennen?“ fragte der General, der mit der höchsten Spannung zuhörte.

„Den Bruder der Frau von Nérac – Henri Clermont.“

„Clermont? Ich habe ihn stets für einen Abenteurer gehalten und ihm deßhalb mein Haus verschlossen. Sie haben Recht; sein Erscheinen zu dieser Stunde in meinem Park ist mehr als verdächtig. Sind Sie denn der Spur nicht gefolgt?“

„Das that ich, aber sie endigte an einer Stelle, die über jedem Verdacht stand, oder wenigstens – zu stehen schien.“

Er legte einen schweren, bedeutungsvollen Nachdruck auf die letzten Worte; aber Steinrück achtete nicht darauf, sondern drängte in heftiger Ungeduld:

„Weiter! Weiter!“

„Ich wollte mir anfangs einreden, daß es eine Täuschung gewesen sei, und ging weiter, aber die Sache ließ mir keine Ruhe. Ich kehrte nach einer Weile wieder um und umging noch einmal das Haus von allen Seiten. Da bemerkte ich in dem Arbeitszimmer einen Lichtschein, der nicht von einer Lampe herrühren konnte; es schien fast, als brenne eine einzelne Kerze in der Tiefe des Gemaches. Das konnte ein Zufall sein; aber mein Verdacht war durch das Erscheinen Clermont’s nun einmal geweckt; ich beschloß, mir um jeden Preis Aufklärung zu verschaffen. Ich trat ein, ließ den Diener herbeirufen und theilte ihm mit: ich hätte beim Vorübergehen im Arbeitszimmer einen seltsamen Schein bemerkt, der möglicherweise von einem entstehenden Brande herrühre; er solle schleunigst nachsehen, um ein Unglück zu verhüten. Der Mann erschrak und eilte sogleich fort, aber schon nach wenigen Minuten kam er zurück mit der Nachricht: es sei ein Irrthum; er habe um Entschuldigung bitten müssen, denn im Zimmer brenne nur eine Kerze, und es sei Niemand dort als –“

„Nun? Weßhalb sprechen Sie denn nicht aus? Wer war dort?“

„Graf Raoul Steinrück!“

Aus dem Gesichte des Generals wich jeder Blutstropfen, und mit stockendem Athem wiederholte er:

„Mein Enkel – war hier?“

„Ja.“

„Um Mitternacht?“

„Um Mitternacht!“

Es folgte eine lange, schwere Pause, keiner der beiden Männer sprach. Die Augen des alten Grafen hatten einen seltsam starren Ausdruck angenommen; jenes dunkle, unheilvolle Etwas, das schon einmal vor ihm aufgetaucht war, hob sich wieder drohend empor aus der Nacht, und jetzt schien es Form und Gestalt gewonnen zu haben. Aber das starre Hinbrüten [880] dauerte nur Minuten; dann raffte er sich zusammen und warf den entsetzlichen Gedanken weit von sich.

„So wird Raoul uns am besten Auskunft geben können,“ sagte er mit wiedergewonnener Fassung. „Ich werde ihn rufen lassen.“

„Der Graf ist nicht zu Hause,“ warf Michael ein.

„Dann ist er im Ministerium. Ich sende sofort zu ihm; die Sache muß aufgeklärt werden; es ist keine Minute zu verlieren.“

Er wollte nach der Klingel greifen, hielt aber plötzlich inne; denn er begegnete den Augen Rodenberg’s, und es mußte wohl etwas Furchtbares zu lesen sein in diesem tiefernsten Blick. Langsam ließ der General die ausgestreckte Hand wieder sinken, und mit halb versagender Stimme fragte er:

„Nun, was ist’s? Heraus damit!“

Michael trat dicht an ihn heran.

„Ich habe Ihnen Schweres zu melden, Graf Steinrück, sehr Schweres – machen Sie sich auf das Schlimmste gefaßt!“

Der General fuhr mit der Hand über die Stirn, die von kaltem Schweiß bedeckt war; aber dabei hingen seine Augen wie gebannt an denen des Sprechenden.

„Das Schlimmste? Wo ist Raoul?“

„Abgereist – nach Frankreich!“

Steinrück fuhr nicht empor, schrie nicht auf. Er griff nur krampfhaft nach dem Herzen und brach dann lautlos zusammen. Er wäre zu Boden gefallen, wenn Michael ihn nicht aufgefangen hätte.

So vergingen Minuten. Der junge Officier hatte den halb Besinnungslosen in den Lehnstuhl niedergleiten lassen und stand schweigend an seiner Seite. Er fühlte, daß hier jedes Wort, jede Hilfeleistung umsonst war. Endlich aber beugte er sich über ihn.

„Excellenz!“

Es erfolgte keine Antwort; Steinrück schien nichts von dem zu wissen, was um ihn her vorging.

„Graf Steinrück!“

Wieder dies beängstigende Schweigen. Der General lag regungslos da; seine Augen starrten ausdruckslos ins Leere; nur die schwer athmende Brust verrieth, daß noch Leben in ihm sei.

„Großvater!“

Das Wort kam leise, zögernd von den Lippen, die es nie hatten aussprechen wollen; jetzt konnten sie es sprechen, und dies Wort löste auch endlich die unheimliche Erstarrung. Steinrück zuckte zusammen und schlug plötzlich beide Hände vor das Antlitz.

„Großvater, sieh’ mich an!“ brach Michael jetzt angstvoll aus. „Nicht dieses furchtbare Schweigen – sprich wenigstens ein Wort zu mir!“

Der General ließ, wie mechanisch folgend, die Hände wieder sinken und sah zu ihm auf.

„Das mir!“ stöhnte er. „Michael – Du bist gerächt!“

Es war in der That eine Rache des Schicksals. Hier an derselben Stelle hatte der Sohn, den man mit dem Andenken seines Vaters bis aufs Blut gepeinigt, dem harten erbarmungslosen Großvater zugerufen: „Ihr Wappenschild steht auch nicht so hoch und unerreichbar wie die Sonne am Himmel; es kann ein Tag kommen, wo es einen Flecken trägt, den Sie nicht auslöschen können, und dann werden Sie fühlen, welch ein erbarmungsloser Richter Sie gewesen sind!“ Der Tag war gekommen, und er hatte die alte mächtige Eiche, die allen Stürmen Trotz bot, mit einem einzigen Schlage gefällt.

„Ermanne Dich!“ drängte Michael. „Du darfst jetzt nicht erliegen. Bedenke, was der Unselige in Händen hat, was damit auf dem Spiele steht. Wir müssen einen Entschluß fassen!“

Er hatte das rechte Mittel ergriffen. Der Gedanke an die drohende Gefahr riß den General empor aus seiner dumpfen Verzweiflung. Er erhob sich, noch mühsam und schwankend; aber er stand doch wieder aufrecht, und die Besinnung schien ihm zurückzukehren.

„Könnte ich ihn erreichen, den Buben! Ich wollte ihn zwingen, ich wollte ihn mit diesen meinen Händen – aber mir bleibt keine Zeit mehr. Mein Eintreffen im Hauptquartier ist auf die Stunde bestimmt.“

„So schicke mich!“ fiel Michael entschlossen ein. „Eine Ordre meines Generals, die auf eine geheime wichtige Mission lautet, enthebt mich jeder anderen Verpflichtung. Der Bahnverkehr ist jetzt überall gehemmt und unterbrochen wegen der Truppendurchzüge; man braucht die doppelte Zeit, um vorwärts zu kommen. Meine Uniform und Dein Befehl stellt mir jeden Militärzug zur Verfügung; ich hole Raoul ein und erreiche ihn noch diesseit der Grenze.“

„So weißt Du also den Weg, den er genommen hat?“

„Ja, und ich habe mir auch die Spur der Clermonts gesichert, für alle Fälle. Ich konnte und durfte dem schrecklichen Verdachte nicht Worte geben, der sich auf bloße Möglichkeiten gründete, so lange mir jeder Beweis fehlte, und der Dienst stellt jetzt auch an uns die weitestgehenden Anforderungen. Erst vor einer Stunde gelang es mir, mich frei zu machen und nach der Wohnung Clermont’s zu eilen. Er war abgereist mit seiner Schwester, und zwar hatten sie die süddeutsche Bahnlinie genommen, auf der sie wohl schneller fortzukommen dachten. Ich fuhr direkt uach dem Bahnhöfe, der auch stark von der Truppenbefördernng in Anfpruch genommen ist. Der Morgenzug war noch planmäßig abgegangen, und auch der Mittagszug stand anf den Schienen, eb.n zur Abfahrt bereit. Wie weit sie freilich kommen und was f.ir Stocknugen unterwegs eintreten würden, ließ sich nicht vorhergehen. Ich sprach noch mit dem Beamten; da auf einmal erblickte ich Raoul auf der anderen Seite. Er war allein, in höchster Eile und stürmte den Zug entlang, in dem er etwas zu suchen schien. Da wurde das letzte Zeichen gegeben; er riß die erste beste Thür auf, sprang hinein, und der Zug brauste davon. Ich konnte ihn nicht erreichen, da die ganze Breite des Bahnhofes zwischen uns lag, aber ich eilte an den Schalter, um zu erfahren, wohin das Billett lautete, das sich der letzte einzelne Passagier gelöst hatte. Man nannte mir – Straßburg!“

Der General stützte sich schwer auf den Armstuhl bei diesem in fliegender Eile gegebenen Bericht; aber er verlor kein Wort davon und bei dem Schluß, der ihn hätte niederschmettern sollen, richtete er sich empor, mit einem Aufflammen seiner alten Kraft.

„Du hast Recht. Es ist noch eine Möglichkeit, ihn zu erreichen,“ er nannte Raoul’s Namen nicht mehr. „Wenn noch etwas zu retten ist, so wirst Du es retten, Michael! Ich weiß es. Schaffe mir die Papiere zurück, von dem Lebenden – oder von dem Todten!“

„Großvater!“ rief der junge Officier entsetzt zurückweichend.

„Auf mein Haupt die Folgen! Du hast sie nicht zu tragen. Ich verlangte einst von Euch, mein Blut zu schonen, das in Euch Beiden fließt; jetzt sage ich Dir, Du hast nichts mehr zu schonen an dem Hochverräther! Entreiße ihm seinen Raub! Du weißt, was daran hängt – entreiße ihn dem Lebenden oder dem Todten!“

Sie klangen furchtbar, diese Worte, und furchtbar war auch der Ausdruck in dem Antlitz des Greises, jede menschliche Empfindung schien daraus geschwunden; es zeigte nur noch die starre, eiserne Unerbittlichkeit des Richters. Man sah es: er hätte den Enkel, den Erben seines Namens, der seinem Herzen einst so nahe gestanden, geopfert, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Ich werde meine Pflicht thun,“ sagte Michael halblaut, aber auch seine Stimme hatte etwas von jenem schrecklichen Klang.

Der General ging zum Schreibtische und ergriff die Feder; seine Hand bebte und drohte den Dienst zu versagen, aber er bezwang die Schwäche und schrieb einige Zeilen nieder, die er dem Hauptmann reichte.

„Ich lege Alles in Deine Hand, Michael. Geh! Vielleicht gelingt es Dir, mir das Letzte zu ersparen. Habe ich in vierundzwanzig Stunden keine Nachricht von Dir, so muß ich sprechen und muß bekennen, daß der letzte Steinrück –“

Er konnte nicht vollenden; seine Stimme brach, aber seine Hand umschloß mit wildem, verzweiflungsvollem Drucke die Hand Michael’s. Der verleugnete Sohn der verstoßenen Tochter sollte jetzt der Retter der Familienehre sein; er war die einzige, letzte Hoffnung des verzweifelnden Greises, und er erwiderte den Händedruck.

„Vertraue mir, Großvater! Du hast es selbst gesagt, wenn noch irgend etwas zu retten ist, so werde ich es retten. Ich sende Dir die Nachrichten nach Deinem Hauptquartier. Leb’ wohl!“

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Titel: Sankt Michael
aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 51, S. 894–900
Novelle – 27. Fortsetzung

[894] Auf der süddeutschen Eisenbahnstation E. herrschte jetzt ein unglaublich gesteigerter Verkehr; denn das an sich ziemlich unbedeutende Städtchen war Knotenpunkt dreier Bahnlinien und lag auf dem direkten Wege zum Rhein. Tag und Nacht rollten die Militärzüge, welche die Armee nach den Westgrenzen beförderten, und die Stadt selbst war überfüllt mit Truppen.

Einige hundert Schritt vom Bahnhofe entfernt lag ein Gasthaus niederen Ranges, das sonst nur von der Landbevölkerung besucht wurde und jedenfalls nicht für die Fremden paßte, die vor einer Stunde hier angelangt waren: eine junge, anscheinend sehr vornehme Dame, in Begleitung eines alten Geistlichen und eines Dieners. Das kleine niedrige Gemach, welches man ihnen eingeräumt hatte, war sehr dürftig und unsauber, und doch war es das einzige Unterkommen, das sie hatten finden können.

Die Dame, die, das Haupt in die Hand gestützt, am Tische saß, trug Trauerkleiduug und sah bleich und ernst aus, aber das vermochte nicht die Schönheit des Gesichtes zu beeinträchtigen, welches sich aus dem schwarzen Kreppschleier hob. Ihr gegenüber hatte der Geistliche Platz genommen, der soeben sagte:

„Ich fürchte, wir werden einstweilen hier bleiben müssen. Der Diener ist vergebens durch die ganze Stadt gelaufen, die Hôtels sind überfüllt und auch sämmtliche Privatzimmer besetzt. Für die Nacht mag das noch angehen; aber länger können Sie doch unmöglich in solchen Umgebungen verweilen, Gräfin Hertha.“

„Weßhalb nicht?“ fragte Hertha gelassen. „Wir werden auch morgen keine Wahl haben, und in einer Zeit wie der jetzigen muß man sich der Nothwendigkeit fügen.“

Der Begleiter, es war der Pfarrer von Sankt Michael, blickte mit einiger Verwunderung auf die verwöhnte junge Gräfin, [895] die unter anderen Umständen sehr ungeduldig und empört gewesen wäre, wenn man ihr auch nur für eine Nacht derartige Umgebungen zugemuthet hätte, die sie jetzt ohne ein Wort der Unzufriedenheit hinnahm.

„Es wäre aber gar nicht nothwendig gewesen,“ wandte er ein. „Michael schrieb Ihnen ja ausdrücklich, daß er erst übermorgen mit seinem Regimente die Stadt passiren und Ihnen jedenfalls vorher noch ein Telegramm senden würde. Bis dahin hätten wir ruhig in Berkheim bleiben können.“

Hertha schüttelte verneinend das Haupt.

„Berkheim ist volle vier Stunden entfernt; jene Bestimmung kann geändert werden, das Telegramm sich verzögern und ich könnte zu spät eintreffen. Nur hier erfahre ich mit voller Gewißheit, wann das Regiment wirklich eintrifft. Schelten Sie nicht, Hochwürden! Ich muß Michael Lebewohl sagen, mit dem Gedanken, daß er vielleicht in den Tod geht – da ist selbst die bloße Möglichkeit des Verfehlens schrecklich.“

Valentin sah nicht aus, als ob er schelten wolle; aber im Stillen bewunderte er doch die Macht, die Michael über das stolze eigenwillige Mädchen gewonnen hatte.

„Ich danke dem Himmel, daß es mir wenigstens vergönnt war, Sie zu geleiten,“ sagte er. „Der Pfarrer von Tannheim war auf meine Bitte sofort bereit, mir seinen Kaplan zu senden, der mich einstweilen vertritt. Ich bringe Sie jedenfalls noch nach Berkheim zurück.“

Die junge Gräfin reichte ihm mit inniger Dankbarkeit die Hand.

„Ich habe ja auch Niemand als Sie allein! Mein Vormund zürnt mir, wie ich es freilich voraussah. Er hat meinen Brief nicht einmal beantwortet, und Tante Hortense war so außer sich, als sie die ganze Wahrheit und meine Verlobung mit Michael erfuhr, daß ich nach dieser Scene um keinen Preis länger in Steinrück geblieben wäre, wie wehe es mir auch that, so schnell von der Gruft meiner Mutter zu scheiden. – Ich bedauere nur, daß ich auch Ihnen so viel Anstrengungen und Unannehmlichkeiten zumuthen muß, Hochwürden. Ich fürchte, man hat Sie noch weit schlechter einquartiert als mich.“

„Für den Augenblick habe ich ein Kämmerchen im Erdgeschoß, das allerdings nicht sehr einladend ist,“ sagte Valentin lächelnd. „Der Wirth hat mir aber das Giebelzimmer im oberen Stock für die Nacht zugesagt, da die Fremden, welche es augenblicklich inne haben, schon mit dem Abendzuge abreisen. Die Zeit dürfte nun wohl herangekommen sein, und ich werde jetzt bei ihm anfragen.“

Er erhob sich und ging hinaus; auch Hertha stand auf und trat an das Fenster, das sie öffnete. Der Tag war glühend heiß gewesen, und auch der Abend brachte keine Kühlung. Es lagerte dumpf und gewitterschwül über der Erde. Kein Stern funkelte an dem dichtbewölkten Himmel, aber am Horizont blitzte von Zeit zu Zeit ein Wetterleuchten auf, das ferne, dunkle Bergzüge entschleierte. Von drüben her blinkten die Lichter des Bahnhofes, und dicht am Hause vorüber zog der Fluß, der aus dem Dunkel zu kommen und sich wieder in die Nacht zu verlieren schien. Nur das Rauschen und Strudeln der Wellen gab Kunde von seinem Dasein.

Die junge Gräfin lehnte die heiße Stirn an die Mauer; sie wollte standhaft sein. Michael sollte keine Verzweiflung sehen, die ihm den Abschied noch schwerer machte; aber jetzt war sie ja allein und durfte weinen. Der Tod der Mutter, der Kampf mit ihrer Familie: das Alles ging unter in der bebenden Angst um den Geliebten, den sie vielleicht nur gewonnen hatte, um ihn wieder zu verlieren.

Da ertönten Stimmen dicht unter dem Fenster. Vor der Hausthür stand der Wirth mit einem Fremden, und Hertha vernahm, daß von dem versprochenen Zimmer die Rede war. Der Wirth erkundigte sich höflich, wann die Herrschaften abzureisen gedächten; es warte schon Jemand auf ihr Zimmer, und der Fremde entgegnete, er habe soeben auf dem Bahnhofe erfahren, daß der Abendzug zwei Stunden später abgehe; so lange werde er noch mit seiner Dame bleiben. Die Stimme machte die junge Gräfin aufmerksam. Sie kannte dies ziemlich geläufige, aber mit einer fremdartigen Betonung gesprochene Deutsch, und jetzt erkannte, sie auch, beim Scheine der vor dem Eingange brennenden Laterne, den Sprechenden, Henri Clermont, der jedenfalls mit seiner Schwester auf dem Rückwege nach Frankreich war, da er von seiner Dame sprach.

Mit einer peinlichen Empfindung trat Hertha vom Fenster zurück. Bis vor Kurzem waren ihr die Beiden nur oberflächliche Bekannte gewesen, mit denen sie hier und da flüchtig zusammentraf. Erst in der letzten Zeit hatte sie von den Beziehungen der Frau von Nérac zu ihrem früheren Verlobten erfahren. Wenigstens ließ sich jetzt eine zufällige Begegnung vermeiden, und die junge Gräfin beschloß, in den nächsten zwei Stunden ihr Zimmer nicht zu verlassen.

Drüben auf dem Bahnhofe herrschte inzwischen noch Lärm und Leben, trotz der späten Stunde. Züge kamen und gingen: Signale wurden gegeben, und der Perron war dicht gefüllt mit Reisenden und Nichtreisenden, die da fragten, warteten oder zu einem unfreiwilligen Aufenthalte verurtheilt waren.

Dies letzte Schicksal hatte auch die Insassen des Personenzuges getroffen, der vor einer halben Stunde angelangt war, allerdings auch schon mit mehrstündiger Verspätung. Man hatte ihnen eröffnet, daß es vorläufig nicht weiter ginge, da außer dem Militärzuge, der soeben heranbrauste, noch andere Truppen erwartet würden, und daß sie warten müßten, bis die Bahn wieder frei sei. Sie hatten sich denn auch geduldig in die Nothwendigkeit gefunden, bis auf einen einzigen Passagier, der die Verzögerung sehr schwer zu empfinden und große Eile zu haben schien. Er hatte eine einsame, halbdunkle Stelle des Bahnhofes aufgesucht und ging nun hier mit allen Zeichen einer brennenden Ungeduld auf und ab, während er alle fünf Minuten die Uhr hervorzog. Plötzlich jedoch blieb er stehen und trat noch weiter in den Schatten zurück; denn ein Officier, der mit jenem Militärzuge gekommen war, schritt im Gespräch mit dem Inspektor des Bahnhofes gerade nach jener Stelle.

„Also der Kurierzug ist ohne besonderen Aufenthalt passirt?“ fragte er. „Aber der Personenzug, der heute Mittag abging, mußte liegen bleiben? Sind die Reisenden noch sämmtlich hier?“

„Gewiß, Herr Hauptmann,“ versetzte der Beamte. „Sie warten auf die Weiterbeförderung, aber damit hat es noch gute Wege.“

Der einzelne Reisende schien die Stimme zu kennen und eine Begegnung vermeiden zu wollen, denn er wandte sich hastig nach einer anderen Richtung. Aber gerade diese Bewegung verrieth ihn dem Officier, dessen scharfe Augen das Halbdunkel durchdrangen. Er rief dem Beamten einen flüchtigen Dank zu und holte mit wenigen Schritten den Fremden ein, dem er geradezu den Weg vertrat.

„Graf Raoul Steinrück!“

Dem jungen Grafen war das Zusammentreffen sehr unerwünscht; das sah man, aber er hielt es für ein rein zufälliges – der Officier war mit seinem Regimente jedenfalls auf dem Wege nach dem Kriegsschauplatze. So blieb er denn stehen und fragte schroff: „Sie wünschen, Hauptmann Rodenberg?“

„Ich wünsche zunächst, Sie unter vier Augen zu sprechen.“

„Ich bedaure, ich habe Eile.“

„Ich auch! Aber ich hoffe, wir können die betreffende Sache in der Kürze abmachen.“

Raoul zögerte noch einen Augenblick, dann rief er dem Beamten, der noch in der Nähe stand, zu:

„Wie lange wird der Aufenthalt des Personenzuges dauern?“

„Mindestens noch eine Stunde,“ versetzte der Inspektor achselzuckend, indem er weiter ging. Raoul wandte sich zu Rodenberg:

„Gut, ich bin bereit, aber hier auf dem Bahnhofe, wo jedes Wort gehört wird, können wir doch nicht –“

„Nein, aber dort drüben liegt ein kleines Gasthaus, das wir aufsuchen können; es ist in unmittelbarer Nähe.“

„Wenn die Sache sich nicht aufschieben läßt – meinetwegen! Ich bitte aber kurz zu sein, da ich, wie Sie sehen, weiter will,“ sagte der junge Graf hochmüthig, indem er sich nach der bezeichneten Richtung wandte. Michael folgte ihm auf dem Fuße, ohne ihn einen Moment aus den Augen zu lassen; er schien jedoch etwas überrascht durch diese Fügsamkeit.

Sie traten in das Haus und in die öde, halbdunkle Gaststube, wo sich Niemand mehr befand. Der Wirth führte sie in das anstoßende kleine Gemach, das für vornehmere Gäste bestimmt zu sein schien. Er brachte ein Licht, erkundigte sich nach dem Begehr der Herren und verschwand dann. Die Beiden waren allein.

Raoul stand in der Mitte des Zimmers. Er war todtenbleich; seine Augen brannten wie im Fieber, und so sehr er sich [898] auch Mühe gab, die furchtbare Aufregung seines ganzen Wesens zu beherrschen – sie verrieth sich nur zu sehr.

„Ich glaube, Zeit und Ort sind schlecht gewählt zu einer Aussprache,“ sagte er. „Aber sei es darum! Wir haben allerdings noch abzurechnen wegen der Eröffnungen, die Sie im Namen der Gräfin Hertha meinem Großvater machten. Ich hätte Sie jedenfalls später deßwegen zur Rede gestellt.“

„Darum handelt es sich jetzt nicht,“ unterbrach ihn Michael kalt. „Ich habe eine andere Frage an Sie zu richten. Sie sind auf dem Wege nach Straßburg – was wollten Sie dort?“

„Was soll der Ton?“ rief Raoul empört. „Sie vergessen, daß Sie mit dem Grafen Steinrück sprechen.“

„Ich spreche im Namen des Generals Steinrück, der mich gesandt hat, um die Papiere zurückzufordern, welche Sie bei sich tragen, und deren Werth Sie eben so gut kennen wie ich.“

Der junge Graf zuckte zusammen, als habe ihn ein Schlag getroffen.

„Die Papiere? Mein Großvater glaubt –?“

„Er und ich! Und ich denke, wir haben ein Recht dazu. Bitte, keine Weitläufigkeiten! Ich habe nicht viel Zeit zu verlieren und bin entschlossen, nöthigenfalls Gewalt anzuwenden. Wollen Sie es darauf ankommen lassen?“

Raoul starrte ihn noch immer wie geistesabwesend an; plötzlich aber schlug er die Hände vor das Gesicht und stöhnte auf:

„Ah – das ist furchtbar!“

„Sparen Sie die Komödie!“ sagte Rodenberg herb. „Mich täuschen Sie nicht damit. Der Schreibtisch des Generals ist erbrochen, das Schriftstück gestohlen, und der Diener, der unvermuthet das Arbeitszimmer betrat, fand den Dieb –“

Ein wilder Aufschrei Raoul’s unterbrach ihn; und Raoul machte eine Bewegung, als wolle er sich auf ihn stürzen. Michael trat zurück und legte die Hand an seinen Degen.

„Mäßigen Sse sich, Graf Steinrück! Sie haben das Recht auf schonendere Behandlung verloren.“

„Es ist aber eine Lüge!“ brach Raoul jetzt mit furchtbarer Heftigkeit aus. „Nicht ich – Henri Clermont war es!“

„Ich habe niemals daran gezweifelt, daß Clermont der Anstifter war, sah ich ihn doch selbst zu jener Stunde in den Park schleichen. Die Hand zu dem schmachvollen Werke lieh ein Anderer; der Fremde, der Franzose hatte schwerlich Zutritt zu den Zimmern des Generals.“

„Aber zu den meinigen! – Er hatte den Schlüssel zur Gartenpforte und zu meinem Schlafzimmer. Mein Großvater war stets gegen ihn eingenommen; meine Mutter war es zuletzt auch; wir wollten uns der ewigen Kontrolle, den ewigen Vorwürfen bei Henri’s Besuchen entziehen. Ich ahnte ja nicht, zu welchem Zwecke er den Schlüssel von mir forderte!“

Michael lehnte mit gekreuzten Armen am Tische und verwandte kein Auge von dem Sprechenden; aber man sah es, daß er der Erzählung nicht glaubte.

„Also der Sohn des Hauses öffnete dem Spion die Thüren? Und wie gelangte dieser zu dem Geheimfach, das jedem Fremden verborgen war? Wie fand er die Feder, deren Druck es allein zu öffnen vermochte?“

„Er kannte meinen Schreibtisch, der die gleiche Vorrichtung enthält; es ist ein Geschenk meines Großvaters, nach dem Muster des seinigen angefertigt.“

„Ah so – nun weiter!“

Raoul ballte krampfhaft die Hände.

„Rodenberg, treiben Sie mich nicht zum Schlimmsten! Sie haben einen Verzweifelnden vor sich, der nichts mehr schont. Sie müssen mir glauben, müssen meinem Großvater den furchtbaren Verdacht nehmen; sonst würde ich diesem Ton und dieser Miene nicht Rede stehen. – Ich kam gestern spät nach Hause und fand die stets verschlossene Thür offen, die meine Zimmer mit denen des Generals verbindet und zu der nur wir Beide den Schlüssel haben. Das weckte meinen Verdacht; ich trat in das Arbeitszimmer und fand den Mann, den ich bisher Freund genannt hatte –“

„Bei seinem Geschäft!“ ergänzte Michael, „Sie scheinen ihn nicht darin gestört zu haben, da er Zeit fand, den Raub zu vollbringen.“

„Er hatte ihn bereits vollbracht! Während ich noch fassungslos dastand, niedergeschmettert von der schrecklichen Entdeckung, hörten wir die Thür des Vorzimmers öffnen, hörten nahende Schritte. Henri faßte in Todesangst meinen Arm und beschwor mich, ihn zu retten. Er war verloren bei der Entdeckung; das wußte ich, und da stürzte ich nach der Thür und verhinderte dem Diener einzutreten mit der Erklärung, daß ich hier sei. Als der Mann sich zurückgezogen hatte und ich mich umwandte, war Clermont – entflohen.“

„Und Sie eilten ihm nicht nach, jagten ihm seinen Raub nicht ab? Sie theilten dem General nicht mit, was geschehen war?“

Raoul’s Auge sank scheu zu Boden, und kaum hörbar entgegnete er:

„Es war mein nächster, bester Freund, der Bruder einer Frau, die ich bis zum Wahnsinn liebte und die ich damals noch für schuldlos hielt. Am nächsten Morgen eilte ich zu ihnen; sie waren abgereist, und eine Stunde später wurde mir eine andere furchtbare Enthüllung – da setzte ich jede Rücksicht bei Seite und jagte ihnen nach.“

Er schwieg wie erschöpft und lehnte sich auf den Stuhl. Michael hatte anscheinend ruhig zugehört, aber es zuckte verächtlich um seine Lippen, und jetzt richtete er sich empor.

„Sind Sie zu Ende? Meine Geduld ist es auch; ich kam nicht hierher, um Märchen zu hören. Her die Papiere, oder Sie zwingen mich, Gewalt zu brauchen!“

„Sie glauben mir nicht?“ fuhr Raoul auf. „Noch immer nicht?“

„Nein, ich glaube kein Wort von dem ganzen Lügengewebe! Zum letzten Male, liefern Sie mir die Papiere aus, oder, beim ewigen Gott, ich mache das Wort wahr, das mein Großvater mir beim Abschiede zurief: entreiße sie dem Lebenden oder – dem Todten!“

Ein Schauer flog durch den Körper des jungen Grafen – da war sie wieder, die seltsame Aehnlichkeit! Er kannte diese flammenden Augen, diese Stimme mit ihrem ehernen Klang; war es ihm doch, als stehe sein Großvater selbst vor ihm und spreche ihm das Todesurtheil.

„So vollziehen Sie Ihren Auftrag!“ sagte er dumpf. „Und dann überzeugen Sie sich, daß der – Todte nicht gelogen hat.“

Es lag etwas in dieser dumpfen Ergebung, was mächtiger wirkte als die leidenschaftlichsten Betheuerungen. Auch Michael verschloß sich diesem Eindrucke nicht. Er wußte, daß Raoul genug persönlichen Muth besaß, um etwas, das er sich nicht entreißen lassen wollte, auf Leben und Tod zu vertheidigen, und zu ihm tretend legte er die Hand schwer auf seinen Arm.

„Graf Raoul Steinrück, im Namen des Mannes, von dem wir Beide stammen, fordere ich die Wahrheit. Sie haben die Papiere nicht, an denen die Sicherheit unserer Armee hängt?“

„Nein!“ sagte Raoul tonlos, aber fest, und zum ersten Male begegnete sein scheues Auge wieder dem des Fragenden.

„Dann hat sie also Clermont?“

„Zweifellos – sie müssen in seinen Händen sein.“

„So verliere ich hier nutzlos die Zeit; dann heißt es ihm nachjagen und ihn einholen! Der Zug, der mich gebracht hat, geht in einer halben Stunde weiter – ich muß nach dem Bahnhofe!“

Er wandte sich zum Gehen, aber der junge Graf hielt ihn zurück.

„Nehmen Sie mich mit! Verschaffen Sie mir einen Platz in dem Militärzuge! Wir haben den gleichen Weg –“

„Nein, den haben wir nicht!“ unterbrach ihn Michael eisig. „Bleiben Sie zurück, Graf Steinrück! Ich werde wahrscheinlich in den Fall kommen, Herrn von Clermont mit der Pistole in der Hand die Papiere abzuzwingen, und Sie könnten sich im entscheidenden Augenblick doch wieder erinnern, daß es Ihr ‚nächster, bester Freund‘ ist und daß Sie seine Schwester ,bis zum Wahnsinn lieben‘.“

„Rodenberg, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort –“

Ihr Ehrenwort?

Es war nur eine kurze Frage, aber sie klang so vernichtend, daß Raoul verstummte. Der Hauptmann fuhr in demselben mitleidslosen Tone fort:

„Wenn Sie das Schlimmste nicht thaten, so haben Sie das Schlimmste doch zugelassen und mit Ihrer Person gedeckt. Hochverrath ist Eins wie das Andere; der Hehler ist so schlimm wie der Dieb – das ist meine Meinung von der Sache.“

Er ging, ohne einen Blick zurück zu werfen. Als er den Hausflur durchschritt, wurde eine der Thüren geöffnet, und Valentin erschien auf der Schwelle. Er stand einen Augenblick wie erstarrt vor Ueberraschung und trat dann rasch vor.

[899] „Michael! Du bist es?“

„Hochwürden!“ klang es in der gleichen Ueberraschung zurück. „Sie hier?“

„Die Frage gebe ich Dir zurück. Du bestimmtest uns ja erst übermorgen, und hätte Hertha nicht, wie von einer Ahnung getrieben, die Abreise beschleunigt –“

„Hertha ist hier? Mit Ihnen? Wo ist sie?“ fiel Michael stürmisch ein, und als der Pfarrer auf die Thür im oberen Stock deutete, die auf die Treppe mündete, hörte Michael nichts weiter, sondern war in drei Sprüngen die Treppe hinauf, riß die Thür auf, und in der nächsten Minute lag Hertha in seinen Armen.

So leidenschaftlich und zärtlich dies Wiedersehen war, so kurz war es auch. Rodenberg hielt seine Braut noch umfaßt; aber das erste Wort, das er zu ihr sprach, war ein Abschiedswort.

„Ich kann nicht bleiben! Nur sehen wollte ich Dich, nur im Fluge einen Augenblick des Glückes erhaschen – ich muß fort!“

„Fort?“ wiederholte Hertha, die sich noch halb betäubt von Schreck und Freude an ihn schmiegte. „Jetzt, in der Minute des Wiedersehens? Das kann nicht Dein Ernst sein.“

„Ich muß,“ beharrte er. „Vielleicht ist uns übermorgen noch ein Wiedersehen gegönnt.“

„Vielleicht nur! Und wenn es nun nicht geschieht? Hast Du zum Lebewohl nicht einmal eine Viertelstunde für mich übrig?“

„Meine Hertha, Du ahnst nicht, was es mich kostet, Dich jetzt zu verlassen; aber die Pflicht ruft – ich muß gehorchen!“

Die Pflicht! Hertha hatte dies eiserne Wort oft genug von dem General gehört und kannte seine Bedeutung. Ein paar beiße Thränen rollten aus ihren Angen, aber sie machte keinen Versuch mehr, den Geliebten zu halten. Er preßte seine Lippen noch einmal auf die ihrigen.

„Lebewohl! Und noch Eins – Raoul ist hier. Er könnte trotz alledem einen Versuch machen, sich Dir zu nahen, wenn er Dein Hiersein erfährt. Versprich mir, ihn nicht zu sehen oder zu sprechen.“

Ein verächtlicher Ausdruck flog über die Züge der jungen Gräfin.

„Er wird es nicht wagen, das verbietet ihm schon ihre Nähe.“

„Wessen Nähe? Wen meinst Du?“ fragte Michael, der in höchster Spannung aufhorchte.

„Heloise von Nérac!“

„Sie ist hier? Und Clermont –?“

„Auch er.“

„Gott sei gelobt! Wo – wo sind sie?“

„Hier im Hause, in dem Giebelzimmer – aber so erkläre mir doch –“

„Ich darf nicht! Frage mich nicht, folge mir nicht! Es hängt Alles davon ab, daß ich sie finde, und dann – dann darf ich auch bei Dir bleiben.“

Er stürmte hinaus, an dem Pfarrer vorüber, der ihm gefolgt war und nun erstaunt und bestürzt dastand; auch Hertha begriff diese Scene nicht, aber sie klammerte sich an das letzte Wort des Forteilenden: „Dann darf ich bei Dir bleiben!“

Das Giebelzimmer, wo ein einsames Licht brannte, war noch dürftiger ausgestattet als die anderen Räume; aber die Fremden, die heute Mittag angelangt waren, hatten ohne viel Wahl und Besinnen genommen, was man ihnen anbot, da sie nur bis zum Abend zu bleiben dachten. Sie waren Beide in Reisekleidung und augenscheinlich jede Minute zur Abfahrt bereit. Henri Clermont ging unruhig im Zimmer auf und nieder, während Heloise in dem alten Lehnstuhl saß, der hier die Stelle eines Sofas vertrat.

„Wieder ein Aufschub von zwei Stunden!“ sagte sie in einem Tone, der fast verzweifelt klang. „Es scheint, als sollten wir niemals vorwärts kommen. Wir hofften morgen früh schon die Grenze zu erreichen, aber daran ist jetzt nicht mehr zu denken.“

„Und das ist einzig und allein Deine Schuld!“ fiel Henri gereizt ein. „Welche grenzenlose Unvorsichtigkeit, französisch zu sprechen, als wir nach dem Wagenwechsel wieder einsteigen wollten! Du mußtest doch wissen, daß die aufgeregte Menge auf dem Bahnhofe das für eine Herausforderung nehmen und uns insultiren würde.“

„Konnte ich denn wissen, daß der deutsche Pöbel so empfindlich ist? Uebrigens waren es nur einzelne Schreier; das Publikum legte sich selbst ins Mittel und nahm uns in Schutz; das spätere Einschreiten der Beamten war gar nicht mehr nothwendig.“

„Ganz recht, aber über diesem Einschreiten und Beschwichtigen ging der Zug ab, während wir, von allen Seiten umdrängt, nicht an den Wagen gelangen konnten. Wir haben einen halben Tag verloren, jetzt, wo an jeder Minute unsere Sicherheit hängt! Ueberdies haben wir die allgemeine Aufmerksamkeit auf uns gezogen und müssen froh sein, daß wir in diesem elenden Gasthofe unbemerkt verschwinden konnten. Wir dürfen uns erst kurz vor der Abfahrt wieder auf dem Bahnhofe zeigen; man könnte trotz alledem auf unserer Spur sein.“

„Unmöglich! Selbst wenn die Sache schon entdeckt sein sollte, Raoul wird jedenfalls schweigen.“

„Raoul hat sich wie ein Unsinniger benommen!“ sagte Clermont heftig. „Es fehlte nicht viel, daß er Lärm machte und mich verrieth. Hätte ich ihm nicht zugeraunt: ‚Denke an Heloise! Sie ist mit mir verloren!‘ er hätte mich preisgegeben.“

„Und jetzt wird der ganze Sturm auf ihn hereinbrechen – wenn wir in Sicherheit sind!“

Heloisens Stimme bebte doch etwas bei den Worten, aber Clermont zuckte ungeduldig die Achseln.

„Das läßt sich nun einmal nicht ändern. Ich oder Raoul! Es gab keine andere Wahl, nachdem die Sache so weit gekommen war.“

Die Unterredung war selbstverständlich französisch, aber in so leisem Tone geführt worden, daß man außerhalb des Zimmers kein Wort vernehmen konnte. Jetzt aber sank die Stimme Henri’s vollends zum Flüstern herab, als er zu seiner Schwester trat:

„Du hast ihn nicht leicht aufgegeben, ich weiß es; aber der Preis ist das Opfer werth. Was ich hier bei mir trage, sichert unsere ganze Zukunft. Daraufhin können wir jede Bedingung stellen, man wird sie uns –“

Er brach plötzlich ab und wandte sich nach der Thür, die geöffnet wurde, und Heloise fuhr mit einem Ausruf des Schreckens empor. In dem Augenblick, wo sie den Mann erblickte, der dort auf der Schwelle stand, wußte sie auch, daß es aus war mit allen Plänen und Berechnungen. Sie hatte diese „kalten, stahlharten Augen“ nicht umsonst gefürchtet; sie brachten ihr und dem Bruder jetzt das Verderben.

Rodenberg schloß die Thür und näherte sich den Beiden.

„Herr von Clermont, ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu sagen, weßhalb ich hier bin. Ich hoffe, Sie ersparen mir alle Umstände; dann können wir in fünf Minuten mit einander fertig sein.“

Clermont war leichenblaß geworden, aber er machte doch einen Versuch, seine Fassung zu behaupten.

„Wovon sprechen Sie, Herr Hauptmann? Ich verstehe Sie nicht.“

„So muß ich wohl deutlicher reden. Ich wünsche die Papiere, die aus dem Schreibtische des General Steinrück gestohlen sind. – Bitte, lassen Sie die Finger von Ihrer Brusttasche, Sie sehen, ich habe auch eine Pistole zur Hand, und ich schieße vermuthlich besser als Sie. Uebrigens dürfte es für Sie sehr unangenehm sein, wenn hier Schüsse gewechselt werden; der Bahnhof ist in unmittelbarer Nähe und von Truppen überfüllt, da dürfte eine Flucht unmöglich sein. Also fügen Sie sich!“

Clermont hatte in der That die Hand sinken lassen, die sich vorhin an der Brusttasche zu schaffen machte.

„Und wenn ich mich weigere?“ fragte er mit zusammengebissenen Zähnen.

„So haben Sie die Folgen zu tragen! Der Krieg ist erklärt, und das Standrecht kennt ein sehr abgekürztes Verfahren für Spione. Ich lasse Ihnen die Wahl; ein Wort von mir, und Sie sind verloren.“

„Sie werden aber dies Wort nicht sprechen,“ sagte Clermont höhnisch. „Denn alsdann würde auch ich reden, und was ich zu sagen habe, dürfte einem der kommandirenden Generale Ihrer Armee mehr als unangenehm sein.“

Die Drohung traf einen wunden Punkt, aber Michael brach ihr mit schneller Geistesgegenwart die Spitze ab.

„Sie irren,“ entgegnete er kühl. „Graf Raoul Steinrück ist hier, mit mir auf Ihrer Spur, und um dieser Entdeckung willen wird man ihm wohl die Bestürzung und Kopflosigkeit eines Augenblickes verzeihen. Jetzt aber genug der unnützen [900] Worte! Soll ich Gewalt brauchen? Mein Schuß ruft das ganze Haus herbei.“

Er stand da, die Pistole in der erhobenen Rechten, ohne einen Blick von dem Gegner zu verwenden, der nun wohl einsah, daß sein Spiel verloren sei. Clermont war kein Feigling im gewöhnlichen Sinne des Wortes; aber er wußte, daß er den Kampf mit diesem Manne nicht aufnehmen konnte, und seine letzte Waffe, die Betheiliguug Raoul’s an dem Verrathe, wurde ihm aus der Hand gewunden. Er glaubte in der That, Raoul selbst habe die Entdeckung herbeigeführt. Nach einem Augenblick des Zögerns zog er langsam die Papiere hervor, die er auf der Brust verborgen hatte, und reichte sie dem Hauptmanne, der sie in Empfang nahm, ohne seine drohende Stellung aufzugeben.

„Ziehen Sie sich an das Fenster zurück,“ befahl er. „Ich werde prüfen, ob das Packet unversehrt ist.“

Clermont gehorchte und trat an das Fenster, wohin sich Heloise längst geflüchtet hatte. Michael riß den Umschlag ab, der die Adresse des Generals trug und augenscheinlich geöffnet worden war. Die Aufschrift der Papiere verrieth deren Inhalt; aber die Siegel selbst waren unverletzt, und nach einer kurzen, aber scharfen Prüfung steckte er sie zu sich.

Henri hatte inzwischen seiner Schwester etwas zugeflüstert, die sich jetzt scheu und zögernd dem jungen Officier näherte.

„Herr Hauptmann – wir sind in Ihren Händen.“

Die Worte klangen flehend, angstvoll, aber als sie vor dem Hauptmann stand und das Auge zu ihm emporhob, da traf auch ihn jenes seltsame, blitzartige Aufsprühen, das den Männern so gefährlich war und das Raoul ins Verderben gezogen hatte, aber hier traf es auf einen Eisesblick.

„Der Weg zum Bahnhofe steht Ihnen und Ihrem Bruder frei,“ sagte Michael kalt. „Ich lege Ihrer Abreise kein Hinderniß mehr in den Weg, aber ich hoffe, Sie werden in Zukunft ein anderes Land als das deutsche mit Ihrer Thätigkeit beglücken, gnädige Frau.“

Heloise zuckte zusammen; eine Drohung hätte sie nicht so verletzt wie dieser grenzenlos verächtliche Ton.

Als Rodenberg die Treppe wieder herunter kam, trat ihm sein alter Lehrer entgegen, der ihn hier erwartet hatte.

„Michael, um Gotteswillen, was geht droben vor? Gräfin Hertha ist in Todesangst, und ich bin es mit ihr; aber wir wagten nicht, Dir zu folgen.“

„Beruhigen Sie Hertha, sagen Sie ihr, ich käme sogleich! Ich habe nur noch Eins zu erledigen und bin in fünf Minuten bei ihr.“

Er warf dem Pfarrer die Worte nur im Vorbeieilen zu und schritt dann durch das Gastzimmer nach dem kleinen Gemach, wo er Raoul noch fand.

Der junge Graf saß am Tische, den Kopf auf die Arme gelegt, in der Stellung eines völlig Gebrochenen. Er sah wohl auf, als der Hauptmann eintrat; aber es lag eine seltsame Starrheit und Leblosigkeit in seinen Zügen.

„Die drohende Gefahr ist beseitigt!“ sagte Michael. „Clermont und seine Schwester waren, durch irgend einen Zufall zurückgehalten, noch hier im Hause. Ich habe die Herausgabe des Raubes von ihnen erzwungen und glaube für ihr Schweigen bürgen zu können. Man giebt der Welt nicht gescheiterte Pläne preis, bei denen man eine so schmachvolle Rolle spielt, und von unserer Seite werden sie unbehelligt bleiben. Wir haben leider Grund, sie zu schonen, um der Ehre des Namens Steinrück willen. Der Name ist jetzt gerettet und Ihrer Rückkehr nach Hause steht nichts im Wege, Graf Raoul; man wird überhaupt nie erfahren, daß die Papiere in anderen Händen gewesen sind. Ich gebe noch in dieser Stunde meinem Großvater telegraphisch Nachricht, und morgen früh reise ich ab, um ihm selbst das Vermißte zu bringen – das war es, was ich Ihnen mittheilen wollte.“

Raoul hörte wie betäubt den Worten zu, die eine so furchtbare Last von seiner Seele nahmen; doch die unheimliche Starrheit wich nicht aus seinen Zügen. Er schien reden, vielleicht einen Dank aussprechen zu wollen; aber die eisige, tödliche Verachtung in dem Blick und der Haltung seines Vetters schloß ihm die Lippen. „Mein Großvater!“ das klang so selbstverständlich, so siegesgewiß. Freilich, Graf Michael hatte ja jetzt den Enkel gefunden, der Blut von seinem Blute war. Die Beiden gehörten zusammen und nach dieser That würde er ihm vollends die Arme öffnen.

Als Rodenberg gegangen war, erhob sich auch der junge Graf und verließ langsam mit wankenden Schritten das Gemach. Draußen vor der Thür legte er, wie sich besinnend, die Hand an die Stirn, trat aber scheu zurück in den Schatten der Mauer, als Leute aus dem Hause kamen. Er erkannte die beiden Gestalten, die an ihm vorüberhuschten und den Weg nach dem Bahnhofe einschlugen; aber er gab durch keinen Laut, keine Bewegung seine Anwesenheit kund. Die Nähe der Frau, die noch vor Kurzem sein ganzes Wesen in Flammen zu setzen wußte, machte jetzt kaum noch einen Eindruck auf ihn. Er wußte, daß sie ihm auf immer entschwand, und fühlte nicht einmal Schmerz dabei. In ihm war Alles so leer und todt, als sei jede Empfindung erstorben.

Da klang aus dem geöffneten Fenster über ihm eine Stimme nieder, die er erst vor wenigen Minuten gehört hatte; jetzt freilich klang sie in glühender Zärtlichkeit:

„Meine Hertha, vergieb, daß ich Dich so stürmisch verließ, ich mußte mir die Abschiedsstunde ja erst erkämpfen. Jetzt darf ich bei Dir bleiben, ohne eine Pflicht zu verletzen, aber keine Abschiedsthränen – noch sind wir ja beisammen!“

Und nun tönte eine andere Stimme, die der Lauschende gleichfalls kannte, und die ihm doch fremd erschien in dem weichen süßen Klange der hingebendsten Liebe, den er freilich nie vernommen hatte:

„Nein, Michael, Du sollst keine Thräne sehen! Ich will jetzt nur daran denken, daß Du da bist – das ist ja schon ein Glück!“

War das wirklich noch die frühere Hertha? Freilich, sie hatte ja lieben gelernt, und der Mann, der einst ihr Verlobter hieß, fühlte jetzt doch, was er hingeopfert hatte. Es zog ihn gewaltsam fort aus der Nähe der Glücklichen; er ging vorwärts, planlos und ziellos, immer weiter hinein in die Dunkelheit, immer an dem brausenden Flusse entlang, bis eine Mauer seinen Weg hemmte. Es waren die Pfeiler der Brücke, auf deren Bogen die Eisenbahn dahinging hoch über dem Flusse; hier unten rauschten die Wellen, und eine alte Weide tauchte ihre Zweige tief hinein.

Die Luft lastete noch immer schwer und schwül, aber das Wetter war näher gekommen; es leuchtete immer häufiger auf und immer greller zuckten die Blitze. Raoul lehnte sich an den Stamm der Weide und starrte unverwandt in das dunkle, strudelnde Wasser; er hatte Mühe, sich zum klaren Denken zu zwingen.

Was nun? Nach Hause zurückkehren? Er konnte morgen wieder dort sein, und es fand sich auch wohl ein Vorwand für seine kurze Abwesenheit. Niemand wußte, was geschehen war, außer Zweien, und die schwiegen um der Ehre des Namens Steinrück willen; aber der letzte Steinrück fühlte es doch, daß er seinem Großvater nun und nimmer mehr wieder unter die Augen treten könne. Dem Landesverräther hatte der eiserne Greis das Urtheil bereits gesprochen; der Schwächling, der den Verrath zuließ, der ihn verschwieg und deckte um eines Weibes willen, durfte ihm nicht wieder nahen. Raoul hatte ihn ja schon heute gesehen, diesen Blick voll eisiger, tödlicher Verachtung, und den würde er wiedersehen in dem Antlitz seines Großvaters Tag für Tag – lieber den Tod, als das ertragen!

Vom Bahnhofe herüber scholl Hurrahrufen, dem lauter Jubel antwortete. Die Menge grüßte die Truppen, die sich jetzt wohl zur Abfahrt rüsteten, und dort, hinter den matt erhellten Fenstern, nahm auch ein junger Krieger Abschied von seiner Braut, vielleicht auf Nimmerwiedersehen. Aber hier unten stand Einer, der Alles verloren hatte, Braut und Ehre und sogar – das Vaterland!

Der Militärzug brauste heran, und gerade als er die Brücke erreichte, flammte es wieder auf am Himmel. Einen Augenblick lang stand Alles im zuckenden, blendenden Lichte, die schweren, drohenden Wolkenmassen, die fernen, dunklen Berge und der schäumende Fluß; aber der Platz unter der alten Weide war leer und die Wellen spritzten hoch auf. Es war nur ein Moment, dann versank Alles wieder in Nacht, der Zug donnerte über die Brücke und im Westen blitzte es noch einmal auf mit leuchtenden, Strahle – das Flammenschwert Sankt Michael’s!

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
Autor: Elisabeth Bürstenbinder
Titel: Sankt Michael
aus: Die Gartenlaube 1886, Heft 52, S. 914–919
Novelle – 28. Fortsetzung (Schluß)

[914] Es war zwei Tage später, im Hauptquartier des Generals Steinrück. Im Vorzimmer waren die Officiere versammelt, um die Befehle ihres Chefs für den Vormarsch zu empfangen, aber die Gesichter Aller waren ernst, und sie sprachen nur halblaut mit einander. Sie wußten ja schon, welcher schwere Schlag den Führer getroffen hatte. Sein Enkel, der schöne, ritterliche, lebensvolle Graf Raoul, war verunglückt, war bei einem Fehltritt in der Dunkelheit in den Fluß gestürzt und ertrunken.

Es war ein furchtbares Schicksal für den Greis, noch am Abend seines Lebens den Letzten seines Stammes und Namens in der Jugendblüthe dahinsinken zu sehen, und er konnte nicht einmal an seinem Sarge stehen, ihn nicht zur Gruft seiner Väter geleiten. Die Pflicht hielt ihn an der Spitze seines Korps fest; er hatte in der That seit vorgestern, wo die Nachricht eintraf, keine einzige dieser Pflichten vernachlässigt; empfing er doch eben wieder den Hauptmann Rodenberg, der mit wichtigen Depeschen eingetroffen war. Es ahnte keiner von den Officieren, welches Familiendrama dort hinter der geschlossenen Thür seinen letzten Abschluß fand. Neben dem General stand Michael, der soeben berichtete:

„Beim ersten Tagesgrauen hat man ihn gefunden, ganz in der Nähe des Hauses, wo wir weilten. Ich fand noch Zeit, die ersten und nothwendigsten Anordnungen zu treffen, dann mußte ich fort. Alles Uebrige habe ich in die Hände meines alten Lehrers gelegt, der auch die schwere Pflicht übernommen hat, der Mutter die Todesnachricht zu bringen und die Leiche nach Steinrück zu geleiten.“

Der General hatte schweigend zugehört, jetzt fragte er tonlos:

„Und es weiß Niemand –?“

„Niemand, außer uns Beiden! Clermont und seine Schwester werden schweigen, müssen es, um ihrer selbst willen. Sobald auch nur ein Wort von dem Geschehenen verlautet, sind sie unmöglich, wohin sie sich auch wenden mögen. Hier sind die Papiere. Ich lege sie in die Hände meines Generals zurück, und die Ehre des Namens Steinrück ist gerettet.“

Steinrück nahm die Papiere an sich; dann reichte er seinem Enkel die Hand.

„Ich danke Dir, Michael!“

Der junge Officier blickte ihn besorgt an; ihn täuschte diese starre, finstere Ruhe nicht; er wußte, was sich dahinter barg.

„Großvater,“ sagte er leise. „Jetzt könntest Du doch um ihn weinen!“

Der General schüttelte heftig den Kopf.

„Ich habe jetzt keine Zeit zum Weinen, und Thränen hat man nur für einen geliebten Todten. Daß er mir das anthat, anthun konnte – genug davon, laß ihn ruhen!“

Er schritt voran nach dem Vorgemach, wo sich die Officiere befanden, und wo er mit jener schweigenden Ehrfurcht empfangen wurde, die Jeder dem Unglücke zollt. Einer aus dem Kreise trat vor und sprach im Namen Aller dem greisen Führer die Theilnahme aus an dem schweren Verluste, der ihn getroffen hatte. Steinrück hörte das starr und scheinbar unbewegt an; er neigte nur zum Danke das Haupt gegen Alle.

„Ich danke Ihnen, meine Herren! Der Schlag, der in der nächsten Zeit Tausende treffen wird, er hat mich zuerst getroffen; aber der Himmel hat mir bereits einen Trost dafür gesandt, denn hier,“ jetzt brach es durch seine unheimliche Ruhe wie ein Aufflammen der alten Kraft, und die mächtige Greisengestalt richtete sich hoch empor, „hier an meiner Seite steht der Sohn meiner früh verstorbenen Tochter, mein Enkel, Michael Rodenberg!“


Ein Jahr war vergangen, ein Jahr voll schwerer Kämpfe und mächtiger Erfolge, voll Siegesjubel und Todtenklage, und als der Sommer wieder die Erde grüßte, grüßte er dort ein neu erstandenes Reich.

Auf der Bergstraße, die von Tannberg nach Schloß Steinrück führte, rollte ein offener Wagen dahin, in dem sich zwei Officiere befanden. In dem Hauptmann, der zur Rechten saß, hätte man auch ohne die Uniform den Soldaten erkannt; sein Gefährte dagegen, der die Abzeichen eines Reservelieutenants trug, hatte ein mehr künstlerisches als kriegerisches Aussehen, trotzdem auch er von Luft und Sonne tief gebräunt war.

„Du kannst von Glück sagen, Michael!“ sagte er mit dem alten Uebermuthe. „Du kehrst als gefeierter Kriegsheld zurück, in die Arme Deiner Braut. Mir wird es nicht so gut, ich habe noch eine heiße Schlacht zu schlagen. Mein kleines Dornröschen freilich hat sich tapfer und muthig gezeigt, aber die Dornenhecke starrt mir noch immer entgegen mit der ganzen Energie des zehnten Jahrhunderts. Eigentlich ist mir die Uniform hier auf der Reise sehr unbequem, aber ich hoffe, ihm damit zu imponiren, meinem Schwiegervater nämlich. Vielleicht macht es doch Eindruck auf ihn, wenn das neunzehnte Jahrhundert in seiner ganzen kriegerischen Pracht vor ihm erscheint.“

„Du nimmst die Sache wie gewöhnlich von der komischen Seite,“ entgegnete Michael. „Du solltest aber bedenken, daß nicht allein der alte Freiherr, sondern auch Dein Vater seine Einwilligung verweigert.“

„Ja, man hat seine Noth mit den Vätern; sie sind gar nicht mehr zu regieren!“ stimmte Hans bei. „Ich habe meinen Papa nun endlich durch Gerlindens Briefe, die ich ihm zu lesen gab, überzeugt, daß sie ganz vernünftig ist; aber er bleibt hartnäckig dabei, daß die Anlage zur Verrücktheit in der Eberstein’schen Familie erblich sei, und verlangt durchaus, daß ich auf künftige Generationen Rücksicht nehmen soll. Der Freiherr dagegen behauptet wieder, daß die Gottlosigkeit erblich ist. Uebrigens muß er eine Ahnung davon haben, daß ich jetzt, wo die Truppen entlassen werden, schleunigst auf der Bildfläche erscheine; denn er hat Gerlinde sogar verboten, nach Steinrück zu fahren. Als ob das uns hinderte! Ich berenne die Ebersburg als Ritter vom Forschungstein in aller Form, und vorläufig klettere ich noch einmal über die Burgmauer und finde auf der Terrasse mein Dornröschen, das schon ganz genau unterrichtet ist.“

Michael hörte etwas zerstreut zu, seine Aufmerksamkeit wandte sich Schloß Steinrück zu, das schon eine ganze Weile sichtbar gewesen war und jetzt dicht vor ihnen lag; er sagte nur flüchtig: „Ihr scheint ja in sehr lebhaftem Verkehr zu stehen. Der Briefwechsel wurde Euch ja wohl verboten?“

„Natürlich, von beiden Vätern. Deßhalb schrieben wir uns so oft während des Krieges. Wir müssen in unserem künftigen Hause zunächst ein Archiv anlegen, für all’ die Feldpostbriefe, in denen unsere Liebes- und Leidensgeschichte ruht. Aber nun hat sie lange genug gedauert, und wenn der Alte gar keine Vernunft annehmen will, so setzen wir ihn in das Burgverließ, wie den seligen Balduin von Ortenau vor sechshundert Jahren, der auch so lange darin sitzen mußte, bis er in die Heirath Kunrad’s von Eberstein und Hildegard’s von Ortenau willigte. O, ich bin schon sehr bewandert in der Geschichte meiner Verwandtschaft. Ich verwechsele nicht einmal die Namen mehr.“

Michael gab keine Antwort; jetzt, wo der Wagen den Schloßberg hinauffuhr, spähte er nur ungeduldig nach den Fenstern der Burg; Hans folgte der Richtung seines Blickes.

[915] „Also Dein Großvater ist auch dort?“

„Seit acht Tagen. Er hat einen längeren Urlaub nehmen müssen, denn die Strapazen des Feldzuges haben ihn doch sehr angegriffen. Ich setze meine ganze Hoffnung auf die stärkende Bergluft.“

Der junge Künstler schüttelte den Kopf und sagte plötzlich ernst werdend:

„Der General ist sehr verändert. Ich erschrak förmlich, als ich ihn wiedersah. Freilich, ein schwerer Feldzug in solchem Alter und dann noch der jähe schreckliche Tod seines Enkels – es läßt sich begreifen! Aber ich glaube, Du stehst seinem Herzen trotz alledem näher, als Graf Raoul je gestanden hat.“

„Vielleicht! Aber in solchem Alter überwinden sich Schicksalsschläge schwer,“ sagte Michael ausweichend. Er wußte, was sein Großvater nicht überwinden konnte, aber das blieb ein Geheimniß zwischen ihnen Beiden.

Hans plauderte weiter, erhielt aber immer kürzere und zerstreutere Antworten; sein Freund schien gar nicht mehr auf ihn zu hören; er schaute immer nur nach dem Schlosse, und plötzlich fuhr er auf und zog sein Taschentuch hervor, das er hoch in der Luft flattern ließ.

„Was hast Du denn?“ fragte Hans. „Ah so, da oben flattert ein anderes Tuch, und wahrhaftig, da steht auch Gräfin Hertha auf dem Altan! Ja, schön ist sie freilich, Deine goldhaarige Märchenfee da oben in der leuchtenden Mittagssonne! Mit ihr kann sich mein Dornröschen nicht messen, und meine Braut hat auch nicht verschiedene Millionen, nur einen obstinaten Papa. Aber dafür ist ihr Geschlecht volle zweihundert Jahre älter als das der Steinrück. Vergiß das nicht, Michael! Im Mittelalter hat meine künftige Frau ganz entschieden den Vortritt vor der Deinigen.“

Der Wagen fuhr endlich in den Schloßhof, viel zu langsam für die Ungeduld des jungen Officiers, der jetzt den Schlag aufriß, hinaussprang und die Außentreppe hinaufstürmte. Hertha erschien oben auf den Stufen, und in Gegenwart der Diener küßte Michael seine Braut. Es war das erste Mal, daß er sie öffentlich so begrüßte.

„Und das muß man nun mit ansehen und kann es nicht nachmachen, nur weil man einen unvernünftigen Papa und dito Schwiegerpapa hat!“ grollte Hans, indem er langsamer ausstieg.

„Aber wartet, meine Herren Väter! Ich spiele Euch einen Streich, daß Ihr Euch auf Gnade und Ungnade ergeben sollt.“

In dem getäfelten Gemach, mit dem breiten Erkerfenster, wo die Ahnenbilder von den Wänden blickten und das Wappen der Steinrück über dem Kamin prangte, befand sich Graf Michael mit seinem Enkel, den er hier an dieser Stelle zum ersten Mal gesehen und dem er auch hier die furchtbare Beschuldigung des Diebstahls zugeschleudert hatte. Das Schicksal hatte die Vergeltung dafür übernommen, und man sah es, wie schwer der General daran trug.

Er hatte sich in der That sehr verändert und schien in den zwölf Monden um eben so viele Jahre gealtert zu sein. So lange der Feldzug währte, hielt ihn die Pflicht des Soldaten, des Führers, dem eine so schwerwiegende Verantwortung zufiel, noch aufrecht, und er zwang Geist und Körper mit der alten Willenskraft. Aber mit der Pflicht ging auch seine Kraft zu Ende. Die Züge des einst so schönen Greisenantlitzes waren hohl und tief geworden; aus den Augen war das Feuer geschwunden, selbst die Haltung erschien müde und gebeugt. In diesem Augenblick freilich ruhte sein Auge mit dem Ausdruck der tiefsten, innersten Genugthuung auf seinem Enkel, dessen Hand er noch in der seinigen hielt.

„Ich denke, Du kannst zufrieden sein mit Deinen Erfolgen,“ sagte er. „Es ist selten, daß man einen so jungen Officier mit solchen Auszeichnungen überschüttet, wie sie Dir zu Theil geworden sind, aber ich gebe Dir das Zeugniß, daß sie verdient sind. Was Du im Felde geleistet hast, das übertraf selbst meine Erwartungen, und ich habe viel erwartet von meinem Michael!“

„Vielleicht wäre die Anerkennung nicht so überschwenglich gewesen, wenn sie nicht gerade dem Enkel des kommandirenden Generals gegolten hätte,“ entgegnete Michael mit einem flüchtigen Lächeln. „Von dem Augenblick an, wo Du mich als Deinen Blutsverwandten einführtest, umgab man mich mit ganz besonderer Aufmerksamkeit; ich habe es nur zu gut gefühlt.“

„Gleichviel, die Anerkennung ist errungen, nicht bloß gegeben, und Hertha hat allen Grund, auf ihren Kriegshelden stolz zu sein. Seid Ihr über den Zeitpunkt der Vermählung schon einig geworden?“

„Noch nicht! Hertha läßt sich da von Rücksichten bestimmen, denen ich mich vielleicht auch beugen muß, so schwer es mir wird. Vor der Welt ist ihre Verlobung mit Raoul ja nie gelöst worden, und das Trauerjahr ist soeben erst zu Ende gegangen. Wir wollten Dir die Entscheidung überlassen, Großvater. Wenn Du meinst, daß wir noch einige Monate warten sollen –“

„Nein!“ erklärte Steinrück mit Bestimmtheit. „Es ist ja bereits beschlossen, daß die Trauung in aller Stille stattfinden soll, und ich möchte gern selbst noch Eure Hände in einander legen. In einigen Monaten – dürfte es zu spät sein.“

„Großvater!“ sagte Michael halb bittend, halb vorwurfsvoll.

„Soll ich nicht einmal zu Dir davon sprechen? Du bist ja doch ein Mann und mußt dem Unvermeidlichen ins Auge sehen.“

„Es ist aber nicht unvermeidlich. Wenn Du Dich nur aus dieser Schwermuth emporraffen wolltest, die an Deinem Leben zehrt. Hat denn Raoul alle Lebensfreude mit in das Grab genommen? Ich bin Dir doch zur Seite mit meiner Hertha, und wir helfen Dir, die Vergangenheit zu überwinden.“

Der General schüttelte langsam verneinend den Kopf.

„Du weißt am besten, was Du mir bist, Michael; aber meine Kraft ist nun einmal gebrochen, und Du kennst auch die Stunde, in der sie brach. Der Axthieb ging dem alten Baume an die Lebenswurzel; er kann nicht mehr gesunden!“

Michael schwieg; er mochte die Wahrheit dieser Worte fühlen, Wenn die schließliche Aufklärung auch das Furchtbarste gemildert hatte: es blieb noch genug bestehen, um den Stolz und die Ehre des Grafen von Steinrück, der von jeher mit ganzer Seele seinem Vaterlande angehört hatte, bis auf den Tod zu verwunden. Und er war ein Greis; ihm stand keine Jugendkraft mehr zur Seite, die solchen Schlägen Stand hält.

„Also Gräfin Hortense ist wieder bei ihrem Bruder – mit Deiner Einwilligung?“ fragte Rodenberg, nach einer kurzen Pause ablenkend.

„Ja. So lange der Krieg währte, konnte und durfte ich nicht zugeben, daß die Wittwe meines Sohnes in Frankreich weilte. Jetzt fällt diese Rücksicht für uns Beide fort; sie kehrt zu Montigny zurück. Hier ist sie ja doch stets eine Fremde gewesen, und mit dem Tode Raoul’s ist das einzige Band, das uns noch verknüpfte, zerrissen. Ich habe ihr die Unabhängigkeit gesichert, so weit das in meinen Kräften stand. Du kennst ja die Bestimmungen meines jetzt geänderten Testaments. Das Majorat geht nach meinem Tode in andere Hände über, es haftet an der männlichen Linie unseres Hauses. Schloß Steinrück fällt Dir als meinem einzigen Erben zu, und mit Hertha’s Hand wird auch der ganze große Familienbesitz Dein, den ich um jeden Preis meinem Enkel sichern wollte. Das ist geschehen, wenn auch auf andere Weise, als ich dachte, und es ist besser so! Du wirst ihn wahren und schirmen und wirst auch Hertha schirmen mit Deinem starken Arm, ich weiß es – Gott segne Euch Beide!“ –


Es war kein bloßer Zufall gewesen, daß Hans Wehlau seinen Freund begleitete. Er verband mit diesem Besuche den etwas egoistischen Zweck, die Braut Michael’s als Bundesgenossin für den letzten entscheidenden Sturm auf Vater und Schwiegervater zu gewinnen. Dieser Sturm konnte nur in Steinrück versucht werden; denn es war der einzige Ort, wo Gerlinden’s Vater, der alte menschenscheue Sonderling, noch bisweilen verkehrte, und wo die Möglichkeit gegeben war, ihn mit dem Professor Wehlau zusammenzubringen, der sich augenblicklich wieder zum Besuche bei den Verwandten in Tannberg befand.

Hertha hatte allerdings von Anfang an auf Seiten der Jugendfreundin gestanden und alles Mögliche gethan, um den alten Freiherrn umzustimmen; aber es war vergebens gewesen, eben so wie die erneute Werbung, die Hans wenige Tage nach seiner Ankunft unternahm. Er hatte umsonst die Uniform angezogen, die kriegerische Pracht des neunzehnten Jahrhunderts machte gar keinen Eindruck auf das zehnte. Udo von Eberstein war nun einmal entschlossen, den ganz reinen Stammbaum seines [916] Geschlechtes zu wahren, und drohte, seine Tochter eher in ein Kloster zu schicken, als zuzugeben, daß sie einen Menschen ohne Namen und Familie heirathe. Er blieb unerschütterlich und trotz der Beharrlichkeit des Freiers und der Thränen Gerlinde’s endigte auch diese zweite Werbung mit einem entschiedenen Nein.

Es war nicht besonders schwierig, den Professor Wehlau nach Steinrück zu bringen. Er folgte bereitwillig einer Einladung Michael’s; „zufälligerweise“ hatte Hertha an demselben Tage die Bewohner der Ebersburg eingeladen, aber das glückte nur zur Hälfte. Der Freiherr kam allerdings, um den General nach dem Kriege wiederzusehen, aber er ließ weislich seine Tochter zu Hause.

Die Möglichkeit, in Steinrück dem Menschen zu begegnen, der durchaus sein Schwiegersohn werden wollte und von Gerlinde leider in dieser frevelhaften Absicht unterstützt wurde, veranlaßte ihn zu dieser Vorsichtsmaßregel. Indessen schien der Besuch ohne Störung vorüberzugehen; der Feind, der das Geschlecht derer von Eberstein mit einem bürgerlichen Namen bedrohte, ließ sich nirgends blicken, und der Freiherr, der mit dem General viel von alten Zeiten geplaudert hatte, wo sie Beide noch Waffengefährten waren, befand sich in der vortrefflichsten Stimmung.

Er war augenblicklich allein in dem Erkerzimmer und wandte sich beim Oeffnen der Thür um, in der Meinung, Graf Steinrück, den man für einige Minuten abgerufen hatte, kehre zurück, fuhr aber plötzlich in die Höhe, denn vor ihm stand in Lebensgröße – Professor Wehlau.

Auch dieser stutzte; er wußte offenbar nichts von dem Hiersein seines Gegners und schien in Zweifel, ob er ihn eben so grob behandeln sollte wie bei der letzten Zusammenkunft vor einem Jahr. Für diesmal aber behielt eine menschlichere Regung die Oberhand, und er brummte: „Guten Tag, Herr von Eberstein!“

„Herr Professor Wehlau, Sie hier?“ fragte Eberstein, den Gruß mit einem sehr steifen Kopfnicken erwidernd. „Ich hoffe, Sie haben Ihren Sohn nicht mitgebracht.“

„Nein, der ist drüben in Tannberg.“

„Das freut mich! Meine Tochter ist in der Ebersburg.“

Wehlau zuckte nur die Achseln bei dieser Ankündigung.

„Darüber brauchen Sie sich gar nicht zu freuen. Ich wette darauf, die Beiden stecken doch wieder zusammen, sobald wir den Rücken gewandt haben.“

„Das würde ich mir verbitten,“ sagte Eberstein mit Nachdruck. „Ich habe Gerlinde streng verboten, Herrn Wehlau zu sehen oder zu sprechen.“

„Jawohl, Sie haben ihr auch verboten, an ihn zu schreiben, und mein Hans hat eine ganze Wagenladung von Briefen aus dem Feldzuge mitgebracht. Fräulein Gerlinde wird wohl die gleiche Anzahl besitzen.“

„Das ist ja empörend!“ rief der alte Herr, der zum ersten Male von diesem Ungehorsam Kunde erhielt. „Warum brauchen Sie da nicht Ihre väterliche Autorität? Warum haben Sie Ihrem Sohne überhaupt gestattet, hierherzukommen?“

„Weil er sechsundzwanzig Jahre alt und somit kein Kind mehr ist,“ entgegnete Wehlau trocken. „Da geht es nicht mehr mit dem Einsperren. Sie halten Ihre Tochter freilich unter Schloß und Riegel; ich wollte, ich könnte es mit meinem widerspenstigen Buben eben so machen; aber, freilich, bei dem würde das nichts helfen; der klettert zum Fenster heraus und ist plötzlich mitten in der Ebersburg, und wenn er zum Schornstein hineinkommen sollte. So geht die Geschichte nicht länger, wir müssen ernstliche Maßregeln ergreifen.“

„Ja, das müssen wir!“ stimmte Eberstein bei, indem er mit seinem Stocke energisch auf den Boden stampfte. „Ich werde Gerlinde in ein Kloster schicken, vorläufig als Pensionärin. Da wollen wir doch sehen, ob es dem jungen Herrn gelingt, durch den Schornstein hineinzukommen!“

„Das ist ein sehr vernünftiger Gedanke!“ rief der Professor, der beinahe in Versuchung kam, seinem Gegner freundschaftlich die Hand zu schütteln. „Bleiben Sie fest, Herr von Eberstein! Ich freue mich wirklich, daß Sie bei Ihrem Zustande noch solche Energie besitzen.“

Der alte Herr, der keine Ahnung von der beleidigenden Voraussetzung des Professors hatte, und glaubte, dieser meine sein Gichtleiden, seufzte tief.

„Ja, mein Zustand! Der wird leider alle Tage schlimmer!“

„Sehen Sie das selbst ein?“ fragte Wehlau, indem er einen Stuhl heranzog und sich ganz friedlich niederließ. „An welcher Krankheit ist denn eigentlich Ihr Vater gestorben, Herr Baron?“

„Mein Vater, Oberst Kuno von Eberstein-Ortenau, fiel in der Schlacht bei Leipzig, an der Spitze seines Regiments,“ lautete die mit feierlicher Würde gegebene Antwort.

Wehlau sah etwas erstaunt aus; er schien eine andere Auskunft erwartet zu haben und begann nunmehr ein förmliches Kreuzverhör anzustellen. Er erkundigte sich nach Großvater und Urgroßvater, nach der ersten und zweiten Gemahlin, nach allen Basen und Vettern, sogar nach den Seitenverwandten. Ein Anderer wäre dabei wahrscheinlich ungeduldig geworden, aber Eberstein fand, daß der Professor sich sehr zu seinem Vortheile verändert habe; es that ihm wohl, daß dieser mit so rührender Theilnahme jetzt nach all den Udo’s und Kuno’s und Knnrad’s fragte, die er ihm einst mit so rücksichtsloser Grobheit an den Kopf geworfen hatte. Er ließ seinen Stammbaum nach allen Richtungen hin glänzen und gab bereitwillig Rede und Antwort.

„Merkwürdig!“ sagte Wehlau endlich kopfschüttelnd. „Also in Ihrer ganzen Familie ist kein einziger Fall von Gehirnkrankheit vorgekommen?“

„Gehirnkrankheit?“ wiederholte Eberstein beleidigt. „Was fällt Ihnen denn ein? Das ist wohl Ihr specielles Fach, daß Sie fortwährend danach suchen? Nein, die Eberstein sind an allen möglichen Krankheiten gestorben, aber mit Gehirnleiden haben sie nie etwas zu thun gehabt.“

„Das scheint wirklich so – sollte ich mich doch am Ende geirrt haben?“ murmelte der Professor. Er brachte jetzt das Gespräch auf die Familienchronik, auf die Abstammung der Eberstein aus dem zehnten Jahrhundert, aber vergebens; der Freiherr antwortete vollkommen klar und vernünftig, und zuletzt faltete er die Hände und sagte in schmerzvoll bewegtem Tone:

„Ja wohl, mein altes, edles Geschlecht, das neun Jahrhunderte lang in der Geschichte genannt worden ist, und mit Ehren genannt – es geht mit mir zu Grabe! Ob Gerlinde nun unvermählt bleiben oder einem Gatten folgen mag; mit mir stirbt der Name, und er wird bald sterben, wie meine alte Ebersburg auch bald in Trümmer fällt. Das heutige Geschlecht weiß ja nichts mehr, will ja nichts mehr wissen von dem Ruhm und Glanz der alten Zeiten, und ich habe keinen Sohn, der die Erinnerung daran wahren könnte. Ueber meinem Sarge wird man das Wappen meines Hauses zerbrechen und mir in die Gruft nachwerfen mit dem letzten düsteren Ruf: Freiherr von Eberstein-Ortenau – heute noch und nimmer mehr!“

Es sprach ein so tiefer, bitterer Schmerz aus diesen Worten, daß Wehlau plötzlich ernst wurde und mit einer Bewegung, deren er nicht Herr werden konnte, auf den Greis blickte, dem ein paar Thränen über die eingefallenen Wangen rollten. Der Mann der Wissenschaft, der Gegenwart hatte den Stolz des Adligen auf seine Vorfahren nie verstanden und nie gelten lassen; aber er verstand den Schmerz des alten Mannes, der um den Untergang seines Geschlechtes klagte, der trotz all seines Sträubens doch den ehernen Schritt der Neuzeit fühlte, welche hundertjährige Spuren zertrat und verwischte für immer. In diesem Augenblick fiel alles Lächerliche ab von Udo von Eberstein; es wurde ausgelöscht von dem tragischen Ernst einer untergehenden Welt- und Lebensanschauung, der das Urtheil gesprochen war mit diesem: „Heute noch – und nimmer mehr!“

Einige Sekunden lang herrschte tiefes Schweigen; dann bot der Professor plötzlich seinem bisherigen Gegner die Hand.

„Herr von Eberstein, ich habe Ihnen Unrecht gethan! Unsereins kann ja auch einmal irren, und es lag wirklich sehr viel Sonderbares in Ihrer – genug, ich leiste Abbitte!“

Der alte Herr war weit entfernt, zu ahnen, worauf sich diese Abbitte eigentlich bezog; er glaubte, sie gelte der bisher an den Tag gelegten Mißachtung des Eberstein’schen Geschlechtes, und es that seinem Herzen wohl, daß der eigensinnige rücksichtslose Gelehrte sich jetzt so rückhaltlos bekehrt zu haben schien. Er ergriff daher die dargebotene Hand und drückte sie herzlich.

Da kam Michael in größter Eile und Bestürzung. Man hatte jetzt erst in Erfahrung gebracht, daß die beiden alten Herren, die man mit der größten Vorsicht einander nähern wollte, sich allein im Zimmer des Generals befanden. Wahrscheinlich geriethen sie wieder an einander, und Hauptmann Rodenberg kam [918] nun schleunigst, um einem Unheil vorzubeugen. Zu seinem größten Erstaunen fand er die Beiden ganz friedlich und freundschaftlich bei einander; der Professor hielt sogar die Hand des Freiherrn in der seinigen, und dieser schien den Händedruck zu erwidern.

„Ich bedaure sehr, zu stören,“ sagte Michael, der seinen Augen nicht traute. „Hertha läßt die Herren um ihre Gegenwart bitten, aber wenn wir Sie in einem ernsten Gespräch unterbrechen –“

„Nein, wir sind zu Ende,“ erklärte Wehlau, indem er den alten Baron, der sich mühsam erhob und nach seinem Stocke griff, kräftig unterstützte. So traten sie in das Empfangszimmer, wo ihnen Hertha entgegenkam; aber an ihrer Seite befand sich noch ein Anderer, bei dessen Anblick die elegische Stimmung Eberstein’s sofort in eine gereizte umschlug.

„Herr Hans Wehlau – ich denke, Sie sind in Tannberg!“ rief er ärgerlich.

„Ja, als ich abfuhr, war er noch dort,“ fiel der Professor ein. „Wo kommst Du her, Junge? Bist Du durch die Luft geflogen?“

„Nein, Papa, ich bin Dir nur schleunigst nachgefahren,“ erklärte Hans. „Ich mußte den Herrn von Eberstein nothwendig sprechen und ihn in einer dringenden Angelegenheit um Gehör ersuchen –“

„Ich will nichts hören!“ protestirte der alte Herr. „Ich weiß schon, worauf die Geschichte wieder hinausläuft; aber ich bin soeben mit Ihrem Vater übereingekommen, daß wir ernstliche Maßregeln gegen Ihre Heirathspläne ergreifen, höchst energische Maßregeln!“

„Ja wohl, höchst energische Maßregeln!“ bestätigte der Professor. „Das haben wir allerdings abgemacht, aber – warum wollen Sie eigentlich Ihre Tochter meinem Sohne nicht zur Frau geben?“

Eberstein schaute ihn ganz verblüfft an. Die Frage war doch höchst sonderbar, nachdem man soeben erst ein Bündniß gegen diese geplante Heirath geschlossen hatte; aber die Antwort wurde ihm erspart, denn in diesem Augenblicke nahm ihn Hertha in Beschlag, und Wehlau benutzte das, um seinen Sohn bei Seite zu ziehen.

„Ich habe mich geirrt,“ sagte er kurz und bündig. „Du hattest diesmal Recht. Der alte Freiherr ist ganz vernünftig bis auf einige abnorme Gehirnerscheinungen, und die muß man dem zehnten Jahrhundert zu Gute halten, solch ein Stammbaum ist ja überhaupt nicht normal! Gefährlich und erblich aber sind diese Marotten nicht, also – wenn es durchaus nicht anders geht, so heirathe Deine Gerlinde!“

„Gott sei Dank, daß Du zur Einsicht gekommen bist, Papa!“ sagte Hans mit einem Seufzer der Erleichterung. „Du hast mir Noth genug gemacht mit Deiner Sorge für die Generationen, die vorläufig noch gar nicht da sind.“

„Das war meine Pflicht. Aber wie gesagt, ich bin jetzt über das Schicksal Deiner Nachkommenschaft beruhigt. Nun sieh zu, wie Du mit dem Alten und seinem Stammbaume fertig wirst.“

„Ich nehme sie alle Beide im Sturme!“ rief der junge Künstler triumphirend. „Ich erobere mir trotz alledem mein Dornröschen!“

Hertha hatte inzwischen diesen Sturm vorbereitet; sie hatte das Gespräch auf ihre eigene Verlobung gebracht und dem Freiherrn zu Gemüthe geführt, daß sie ja auch der letzte Sproß eines alten Geschlechtes sei, wie Gerlinde, und daß auch ihr Name in einem anderen erlöschen werde, der kein Adelswappen trage; aber Eberstein widersprach mit Heftigkeit.

„Das ist etwas ganz Anderes. Ihr Verlobter ist immer der Enkel des Grafen, der Sohn einer Steinrück; er gehört wenigstens mütterlicherseits Ihrem Geschlechte an. Ueberdies,“ hier wandte er sich verbindlich zu Michael, dessen männlich kriegerische Erscheinung ganz nach seinem Geschmacke war, „überdies hat sich Hauptmann Rodenberg im Kriege ausgezeichnet. Schon zu Zeiten unserer glorreichen Vorfahren galten tapfere Kriegsthaten als ein Adelsbrief und errangen den Ritterschlag. Aber ein Schwiegersohn, dessen Waffe der Pinsel und dessen Schild die Palette ist – nimmermehr!“

„Nun, er kann mit Pinsel und Palette wenigstens den Kriegsruhm verewigen,“ sagte Michael lächelnd. „Sie wissen vielleicht noch nicht, daß mein Freund soeben in einer Preisbewerbung den Sieg davongetragen hat. Sein Name geht jetzt durch die ganze Presse und wird einstimmig –“

„Bleiben Sie mir mit der Presse vom Leibe!“ rief Eberstein erbost. „Das ist auch so eine Erfindung der Neuzeit, und das ist die schlimmste von allen! Diese voreilige, indiskrete, verleumderische Presse, die Alles in den Staub zieht, der nichts heilig ist, ist ein rechtes Satanswerk!“

„Sie haben ganz Recht, Herr Baron, die Presse ist sehr schlimm!“ bestätigte Hans, der soeben herantrat und die letzten Worte hörte. „Aber nun erlauben Sie mir wohl, mein Gesuch auszusprechen – bitte, halten Sie sich nicht die Ohren zu; es betrifft diesmal wirklich nicht Gerlinde und mich, sondern einzig die Preisbewerbung, von der Michael soeben sprach. Ich habe mich schon vor dem Kriege daran betheiligt und erhielt noch während des Feldzuges die Nachricht, daß meine Skizze mit dem Preise gekrönt und zur Ausführung bestimmt ist. Dazu bedarf ich aber Ihrer Erlaubniß.“

„Meiner Erlaubniß?“ fragte Eberstein befremdet. „Was habe ich denn mit Ihren Bildern zu thun?“

„Das wird Ihnen klar werden, sobald Sie sich herbeilassen, einen Blick darauf zu werfen. Es ist ein historisches Gemälde, für den Hauptsaal des neuen Rathhauses in B. bestimmt und an diesem hervorragenden Platze wird es natürlich viel gesehen werden. Eben deßhalb muß ich Ihre Erlaubniß erbitten; wird sie versagt, so muß ich eben den Entwurf ändern. Entscheiden Sie darüber – hier ist er.“

Er öffnete die Thür des Nebenzimmers. Der alte Freiherr, zeigte sich glücklicherweise nicht so hartnäckig wie Professor Wehlau, als es sich um die Verachtung Sankt Michael’s handelte; halb neugierig, halb mißtrauisch trat er ein, und die Anderen folgten ihm.

Dort an der Wand war in der That das besprochene Bild aufgestellt, vorläufig nur ein Karton, in Kreide ausgeführt, aber doch ein getreues Abbild des künftigen Gemäldes. Der junge Maler hatte es verstanden, den gegebenen historischen Stoff, eine Scene aus den Kämpfen des Mittelalters unter den Hohenstaufen, lebendig und wirkungsvoll zu gestalten. Zur Rechten des Bildes erblickte man den Kaiser, eine machtvolle, ernste Erscheinung, von Fürsten und Prälaten umgeben; zur Linken zeigte sich das herandrängende Volk, während die siegreich heimkehrenden Krieger, die ihrem Fürsten die eroberten Trophäen zu Füßen legten, die Mitte einnahmen. Es war eine charakteristische, reich bewegte Gruppe, aus der vor Allem eine Gestalt aufragte, offenbar der Held und Führer des ganzen Siegeszuges. Eine prächtige Erscheinung, mit dunklen Haaren und Augen und edlen, regelmäßigen Zügen, in voller Rüstung und voller Manneskraft. Hochaufgerichtet, mit der Rechten auf die Trophäen deutend, schien er dem Kaiser den Siegesbericht zu erstatten. Der einzelne Ritter war die Hauptgestalt des Gemäldes, auf die sich der ganze Vorgang und auch das Interesse des Beschauers koncentrirte; aber Helm und Rüstung trugen die Abzeichen derer von Eberstein, und der Schild trug das Wappen, das verwittert und halb zerfallen über dem Thore der Ebersburg stand – es feierte hier seine Auferstehung.

Der alte Freiherr war an das Gemälde herangetreten, um es genau zu betrachten; Plötzlich aber zuckte er zusammen, die trüben Augen gewannen Leben; die gebeugte Gestalt richtete sich auf und mit einer fast stürmischen Bewegung, wandte er sich zu dem jungen Künstler, der hinter ihm stand.

„Was haben Sie gethan? Das ist ja –“

„Die Wiedergabe eines Portraits, das ich bei meinem ersten Besuche in der Ebersburg entdeckte,“ ergänzte Hans. „Sie erinnern sich wohl noch unseres Gespräches darüber und begreifen nun, weßhalb ich Ihre Erlaubniß erbitte.“

Eberstein gab keine Antwort; er blickte starr und unverwandt auf das Bild, auf sein Bild, aus der Zeit, wo er noch jung und gesund und glücklich war, wo auch er noch die Waffen zu führen wußte, und ihm wurden die Augen feucht bei der Erinnerung.

„Was soll denn das eigentlich heißen?“ fragte der Professor, der zwar das Gemälde kannte, den man aber über die geheime Bedeutung desselben noch in Unkenntniß gelassen hatte. Der alte Freiherr wandte sich zu ihm und sagte in einem Tone, der halb wehmüthig, halb selbstbewußt klang:

„Das sind meine Züge. So hat einst Udo von Eberstein ausgesehen – vor mehr als dreißig Jahren!“

[919] „Da haben Sie sich aber sehr verändert!“ brach Wehlau in seiner derben Weise los; doch Hans fiel rasch ein:

„Nicht doch, Papa! Sieh den Freiherrn nur genau an! Du findest die Züge wieder. Das Bild soll in Freskomalerei ausgeführt werden, Herr Baron; es wird voraussichtlich so lange bestehen wie das Rathhaus selbst – mindestens einige hundert Jahre.“

„Einige hundert Jahre!“ lispelte Eberstein wie verklärt. „Freilich, das Wappen wird Niemand kennen.“

Hans trat dicht an seine Seite.

„Man kennt es leider bereits. Die schlimme Presse – Sie wissen ja, ich theile Ihre Abneigung dagegen – hat sich schon der Sache bemächtigt und bringt den vollen Namen. Ein Artikel in dem ersten Blatte unserer neuen Reichshauptstadt – Sie gestatten wohl, daß ich Ihnen den Schluß vorlese.“

Er zog eine Zeitung hervor, dieselbe, welche damals die Kritik über Sankt Michael gebracht hatte, und las:

„‚Nach dieser ausführlichen Besprechung wollen wir unseren Lesern auch die Mittheilung nicht vorenthalten, daß die Hauptgestalt des Bildes, der Ritter mit dem prächtigen, vielbewunderten Charakterkopfe‘ – hier steht es schwarz auf weiß, Herr Baron, mit dem prächtigen vielbewunderten Charakterkopfe – ‚ein nur wenig idealisirtes Portrait ist und zwar das Portrait des Freiherrn Udo von Eberstein-Ortenau, auf Ebersburg, des letzten Sprossen eines einst weitberühmten Geschlechtes, das seinen Stammbaum bis in das zehnte Jahrhundert zurückführt; auch das Wappen der Eberstein ist auf dem Bilde verewigt.‘ – Ich kann wahrhaftig nicht dafür – ein paar harmlose Aeußerungen, die ich zu Bekannten that – wünschen Sie, daß der Artikel dementirt wird? Sonst macht er die Runde durch alle Zeitungen Deutschlands.“

„Nein, mein junger Freund,“ sagte Eberstein würdevoll. „Ich erlasse Ihnen das Dementi; ich finde überhaupt, daß die Presse in diesem Falle weder indiskret noch voreilig gehandelt hat. Sie erfüllt nur eine Ehrenpflicht, wenn sie Thatsachen, die dem Gedächtniß der Mitlebenden leider entschwunden sind, wieder zur Geltung bringt; sie hat sich wirklich höchst verständig benommen. Lassen Sie den Artikel die Runde machen, durch alle Zeitungen Deutschlands!“

„Der Junge hat ja ein wahrhaft haarsträubendes Talent zur Intrigue!“ murmelte Professor Wehlau. „Jetzt hat er den Alten an der Angel.“

Hans drehte mit gutgespielter Verlegenheit die Zeitung in der Hand.

„Ja, Herr Baron – es ist aber noch ein Schlußsatz da, und den müssen Sie doch auch hören – darf ich ihn lesen?“

„Lesen Sie!“ sagte Eberstein feierlich und wohlwollend, und Hans las:

„‚Und nun zum Schluß noch eine Mittheilung, die besonders unsere Leserinnen interessiren wird. Es ist dem jungen Künstler wohl Herzenssache gewesen, als er dem Ritter mit dem Eberwappen gerade diese Züge lieh, da er im Begriff steht, sich mit der einzigen Tochter des genannten Freiherrn zu verehelichen‘ –“

„Halt – das lassen Sie nicht abdrucken – das dementiren Sie!“ rief der alte Herr erschrocken; aber Hans drückte ihm ohne Umstände die Zeitung in die Hand und zog hinter dem Bilde etwas hervor, das sich bei näherer Betrachtung als Fräulein Gerlinde von Eberstein erwies. Da stand es, das kleine Dornröschen, nicht mehr so ganz kindlich wie vor zwei Jahren, aber in seiner ganzen Lieblichkeit, und hob bittend Augen und Hände zu dem Vater empor.

„O Papa, sei doch nicht so grausam – ich habe meinen Hans so lieb!“

„Habe ich es nicht gesagt, da stecken sie wieder beisammen!“ rief der Professor vortretend. „Herr von Eberstein, es wird uns wohl nichts Anderes übrig bleiben, als Ja zu sagen. Mein Hans setzt doch seinen Willen durch, das sehen Sie nun wohl, und das zarte kleine Ding, Ihre Tochter, ist im Stande, sich über die Trennung zu Tode zu grämen. Dann ist sie hin, und Sie sitzen allein da mit Ihrem ganz reinen Stammbaum.“

„Das wäre schrecklich!“ sagte Eberstein mit einem entsetzten Blick auf sein einziges Kind.

„Also – machen wir die Geschichte ab!“ Damit umfaßte Wehlau die junge Dame und gab ihr einen väterlichen Kuß; für ihn war die Sache damit wirklich abgemacht.

Der alte Freiherr wußte nicht, wie ihm geschah; er wurde im vollsten Sinne des Wortes überrumpelt. Urplötzlich hatte er Tochter und Schwiegersohn in den Armen; Gerlinde schluchzte an seiner Brust, und Hans umarmte herzhaft seinen „lieben Schwiegervater“. Ein Widerstand war gar nicht möglich; es blieb wirklich nichts weiter übrig, als die Beiden an sich zu drücken, und das geschah denn auch. Udo von Eberstein willigte ein. Der künftige Sohn wahrte trotz alledem die Erinnerung an das alte Geschlecht, wenn auch mit Pinsel und Palette. –

In den letzten Tagen des Juli fand in der Wallfahrtskirche zu Sankt Michael eine Trauung statt, eine äußerlich stille und ernste Feier: die Vermählung des Hauptmanns Michael Rodenberg mit der Gräfin Hertha Steinrück. Da Michael protestantisch war, wie sein Großvater und seine Mutter, so hatte die evangelische Trauung bereits in Schloß Steinrück stattgefunden. Jetzt sollte in Gegenwart eines kleinen Familienkreises, unter welchem sich auch das junge glückstrahlende Brautpaar Hans und Gerlinde befand, der greise Pfarrer des kleinen Alpendorfes auch vor dem Altar seiner Kirche die Hände der Beiden in einander legen, nach ihrem ausdrücklichen Wunsche.

Die Adlerwand stand noch umschleiert vom Morgenduft, der sich jetzt zu lichten begann und sich als weißer Wolkenschleier zu ihren Füßen legte: da hallte der Glockenklang des alten Gotteshauses weit hinaus in die Berge, und auf Michael und sein junges Weib, die jetzt vereint waren für das Leben, blickte das Altarbild nieder, der mächtige, kriegerische Erzengel mit den Adlerflügeln und den Flammenaugen, der siegreiche Heerführer des Himmels – Sankt Michael!