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Saragosa. Eine Vorstadt von Leon, in Mittelamerika

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DCLXXXV. Die Goldwäschereien in Kalifornien Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfzehnter Band (1852) von Joseph Meyer
DCLXXXVI. Saragosa. Eine Vorstadt von Leon, in Mittelamerika
DCLXXXVII. Bajä
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SARAGOSSA, VORSTADT VON LEON.
(CENTRAL-AMERICA)

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DCLXXXVI. Saragosa.
Eine Vorstadt von Leon, in Mittelamerika.




Im Kleid der Sage erscheint das Kindesalter der Menschheit als die goldene Zeit. Den eben aus der schaffenden Hand des Allmächtigen hervorgegangenen Menschen dachte man sich frei von allen Mängeln. Schön von Gestalt, größer, stärker und mächtiger, verlieh die Vorstellung seinem Leben eine längere Dauer, seiner Seele Reinheit und Unschuld; seinem Verstande eine angeborene größere Schärfe, seinem geistigen Auge einen tiefern, unbefangenern Blick in die Natur und die Werke Gottes; sie stellte ihn näher dem Schöpfer, machte ihn zum Gegenstand seiner beständigen Pflege und Sorgfalt und würdigte ihn der unmittelbaren Obhut des Höchsten. Erst die Entartung der ursprünglich reinen und göttlichen Menschennatur – durch den dämonischen Einfluß des Thierschen und den Mißbrauch des freien Willens – schwächte seine Kraft, kürzte die Dauer seines Daseyns, minderte die Urschönheit seiner Gestalt, beschmutzte die Reinheit und verringerte die Macht und Kraft des Geistes. Die über das sündige Geschlecht erzürnte Allmacht warf ihn strafend herab von der Hohe seines Ursprungs und erniedrigte ihn zu jenem Wesen, welches im beständigen Streite seiner Doppelnatur befangen, das, was die ursprüngliche Mitgabe des Menschen war, nur durch dauernde Tugendübung in der Schule der Leiden und der Versuchung, und durch die beharrlichen Anstrengungen des Geistes unvollkommen wiedererwerben kann.

So ist die Vorstellung, die uns durch die Sage von dem Urgeschlechte der Menschheit überkommen; – eine erhabene Vorstellung, aber doch nur eine Mythe. Sie wurzelt in den ältesten Religionen, und ihre Ueberlieferungen leben fort in der Seele des Dichters; aber in der Wirklichkeit finden sie keinen Spiegel, und der Forschung unermüdliche Arbeit hat das Mährchen von seinem Heiligenschein entkleidet. Wir wissen, daß der unkultivirte Mensch überall und unter allen Zonen den Typus der Rohheit an sich trägt, welcher ihn dem wilden Thiere öfters näher rückt, als dem gesitteten Menschen in seiner höchsten Entwickelung. Wir kennen gegenwärtig [104] über 600 Völkerschaften, die mehr oder weniger im Urzustande leben, bar aller Kultur. Ihre charakteristischen Merkmale sind dieselben überall: eine unvollkommene auf das rohe Bedürfniß der Mittheilung beschränkte Sprache; wilde Leidenschaften, ungebändigt durch den sittlichen Willen; grobe Sinnlichkeit und deren Befriedigung als Lebenszweck; Gleichgültigkeit gegen das Leben Anderer wie bei dem reißenden Thiere; Ungeselligkeit; das Recht der stärkern Faust oder der größern Arglist als Fundament der Gewaltherrschaft; die Frau Sklavin; die Kinder der Väter leibeigenes Gut so lange, bis sich die Söhne durch gleiche Stärke des Arms, die Töchter durch den Anschluß an einen andern Mann, emancipiren. Von höherer Lebensdauer findet man keine Spur, nicht einmal von größerer physischen Kraft. Der Wilde unterliegt fast immer im Kontakt mit den civilisirten Menschen, der seine Körperkräfte viel größern Anstrengungen, viel ausdauernderer Uebung hingibt. Kurz alle die mythischen Vorstellungen von der ursprünglichen größern Herrlichkeit des Menschengeschlechts verrinnen vor dem Forscherauge wie Nebel und nicht ein Schatten bleibt zurück. Kultur und Erziehung allein entwickeln den Keim des Menschlichen im Menschen und es bedarf oft vieler Generationen, daß er sich entwickele. Ja, so tief liegt zuweilen der Keim verborgen, daß alle Versuche, ihn hervorzulocken durch die Sonnenstrahlen der Gesittung mißlingen. Wir kennen eine bedeutende Anzahl wilder Völkerschaften, die seit Jahrtausenden im Urzustande so unverändert in ihren Wäldern leben, als am ersten Tage ihres Daseyns, und die so wenig zu civilisiren sind, als der Wolf zu zähmen ist. Unzugänglich der menschlichen Cultur, verschwinden sie von dem Boden, auf dem sie mit der Civilisation zusammenstoßen, wie die Geschlechter der reißenden Thiere vor der rodenden Axt und vor der Pflugschaar aus dem Urwald verschwinden.

Diese Schilderung trifft vorzugsweise diejenigen wilden Völker und Stämme, welche die Jagd zum alleinigen Mittel machen, ihr Daseyn zu fristen. Im steten Sinnen und Trachten, durch Gewalt und List die wilden Thiere des Waldes und der Steppen zu meistern, muß der Mensch selbst fast zur Bestie verwildern. Die Jagd ist stets die unfruchtbarste Nutzung des Raums; eine von ihr ausschließlich lebende Indianerfamilie von 6 Personen bedarf nicht weniger denn eine geographische Quadratmeile zum Jagdgebiet in wildreichen Gegenden. Alle von jagenden Indianerstämmen bewohnten Länder haben folglich die dünnste Bevölkerung; an ihre Beschäftigung knüpfen sich Ungeselligkeit, feindliches Zusammentreffen in den gegenseitigen Jagdgründen, permanenter Krieg, erbliche Fehden, Blutrache und eine Grausamkeit gegen die Feinde, welche in dem Cannibalismus, der den Gefangenen lebendig bratet und verzehrt, ihren Gipfel findet.

Milder sind allemal die wilden Stämme, die sich von Fischfang und Pflanzenkost ernähren. Sie sind der Gesittung viel zugänglicher, als die Jägervölker, und ihre Nahrungsweise leitet sie schon zum Nachdenken und zu menschlichern Einrichtungen hin. Der Indianer, den die Erfahrung gelehrt hat, daß die schmackhaftesten Bewohner [105] der Gewässer nicht zu allen Jahrszeiten anzutreffen sind, oder daß die Früchte nicht beständig reifen und zu gewissen Perioden gesammelt werden müssen, lernt seine Zeit eintheilen und benutzen, und den Ueberfluß des Sommers oder Herbstes für den Winter und Frühling sammeln und bewahren. Sein Nachdenken leitet ihn von selbst zur Anpflanzung der wohlschmeckende Früchte tragenden Bäume und Gewächse in der Nähe seiner Hütte hin – er wird Ackerbauer und lernt sich der Aerndten erfreuen, die seine Hand gezogen hat. Von den ersten Anfängen des Ackerbaus aber führt, obschon ein weiter und langer, doch ein ununterbrochener Weg zu den Staffeln der Civilisation.

Auf der Landenge, auf welcher mehre kleine Republiken durch das Band der centralamerikanischen Union zusammen gehalten werden, – war für die Urbewohner nicht Raum genug, um sich durch die Jagd zu ernähren; die Lage an beiden Meeren, und der Umstand, daß die tropische Pflanzenwelt die wohlschmeckendsten Früchte in unerschöpflicher Menge darbot, – führte die Indianer von selbst zu den Beschäftigungen des Fischfangs und auf Pflanzenkost hin. Die nachherige spanische Eroberung traf in diesen Gegenden unter mildern Formen auf, als in Mexiko und Peru. Die Einwanderer fanden nur friedliche, schwache, gutmüthige Raçen im Lande, die der Kolonisation nichts im Wege legten, und sich zu den weißen Menschen leicht gewöhnten. So ist im Laufe dreier Jahrhunderte aus den Indianern eine halbcivilisirte Raçe entstanden, die, durch die republikanische Verfassung seit 40 Jahren vor jeder Bedrückung und Knechtung geschützt, sich um die Sitze der Spanier niedergelassen hat. Die Indianer haben meist einen kleinen Grundbesitz, den sie bebauen, und in der nächsten Umgebung der größern Städte werden eine Menge Handthierungen mit Geschick und Erfolg von ihnen betrieben. Die Vorstädte der größeren Orte sind oft ausschließlich von ihnen bewohnt.

Unser Stahlstich gibt ein charakteristisches Bild einer solchen Indianer-Vorstadt mit ihren dichtbelaubten Fruchtgärten und ihren Hecken von Cactus. Jenen Kindern der Natur ist der Sinn für die idyllische Lage ihrer Wohnungen tief eingeprägt. Wo Indianer wohnen, sieht man immer die besten Fruchtbäume, die auserlesensten Blüthensträucher des Landes, und über die dunkeln Schatten, welche die Hütten umgeben, erhebt sich die Kokospalme, um das Bild der Schönheit und des Friedens zu vollenden. In den Abkömmlingen der spanischen Eroberer ist von diesem zarten Sinn keine Spur. Es ist ein ganz anderer Geist, als der der heitern Idylle, welcher sich in den kahlen quadratischen Plazas ihrer Städte, und in den Höfen ihrer nach der Straße zu geschlossenen Häuser ausspricht, wo man ein paar Orangenbäume, oder eine Laube von Jasmin und Oleander, oder zuweilen eine entartete Rose sieht, die, sämmtlich aus Europa herübergebracht, in der neuen Welt an die alte Heimath erinnern sollen, während man der Pracht der einheimischen Flora kaum Aufmerksamkeit, geschweige eine sorgfältige Pflege widmet. Das romanische Volkselement ist niemals recht heimisch geworden [106] in der neuen Welt, die es sich unterwarf. Seine Wurzeln liegen so flach in dem amerikanischen Boden, als die der Türkenherrschaft in dem europäischen, und so wenig diese den kommenden Stürmen widerstehen können, so wenig jene.

Saragosa verbindet Leon mit der eine halbe Stunde von dieser Stadt liegenden ganz indianischen Gemeinde Subriasa, – einer der wenigen Punkte in Nicaragua, wo sich auch die Sprache der Urbewohner des Landes vollkommen erhalten hat.

Der Berg, welchen man im Hintergrunde sieht, ist der Acsusco oder Assofosca, ein alter Vulkan. Seinen Fuß umspülen die Wogen des Managua-Sees, den wir schon in einem frühern Aufsatz als ein wichtiges Glied im Kanal-System zur Verbindung der beiden Ozeane kennen gelernt haben.