Schilf-Lottchen

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Autor: Schmidt-Weißenfels
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Titel: Schilf-Lottchen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 11, 14–15
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Schilf-Lottchen.

Von Schmidt-Weißenfels.

Am 9. August des Jahres 1831 erhielt der Gymnasialprofessor Gustav Schwab in Stuttgart den Besuch eines Fremden, der ihn bei Nennung seines Namens auf’s Lebhafteste interessirte, abgesehen davon, daß er sich durch einen mündlichen Gruß von Anastasius Grün bei ihm einführte.

Es war Herr Nicolaus Niembsch von Strehlenau aus Ungarn, ein eleganter Mann von neunundzwanzig Jahren, mittelgroß und von wohlgebildetem Körperbau, mit einem großen, starkstirnigen Kopf, den glattgestrichenes, dunkles, nach vorn in den Spitzen sich kräuselndes Haar bedeckte. Ein die Lippen zierender und die Wangen leicht einrahmender Bart verlieh seinem bleichen, etwas gebräunten Gesicht den Ausdruck energischer Männlichkeit. Große dunkle Augen sprachen geistvoll daraus, bald herrisch mit sprühendem Feuer, bald aber auch mit einer tiefgrundigen Melancholie. Obwohl Ungar, wenn auch nicht magyarenblütig, sprach er doch ein vortreffliches Deutsch. Er befand sich auf dem Wege nach Heidelberg, um dort seine mehrfach gewechselten und endlich der Medicin bestimmt gewidmeten Studien abzuschließen.

Herr von Niembsch hatte kurz vorher unter dem Namen Nicolaus Lenau mehrere Gedichte an den Professor Schwab gesandt, die er im Cotta’schen Morgenblatt veröffentlicht zu haben wünschte, deren Redaction Schwab angehörte. Sie waren so eigenartig, so tiefempfunden, so echt dichterischen Gehaltes, daß sie den feinen Kenner entzückt hatten.

Niembsch nahm auf Schwab’s Einladung bei diesem Wohnung. Nirgends konnte er besser aufgehoben sein; denn schnell mußte seine von Zweifeln, Verbitterungen und krankhaften Phantasien erfüllte Seele in der behaglichen Ruhe trauter Gastfreundlichkeit, wie sie ihm Schwab’s Familie bot, gesunden. Ehrgeiz und Zwiespalt mit sich selbst und seinem äußeren Lebensplan quälten den jungen Poeten, was Schwab bald erkannte und dem er abzuhelfen eifrig bestrebt war.

Nicht nur, daß er gleich nach Ankunft desselben die ihm gesandten Gedichte „Der Gefangene“ und dann „Die Waldcapelle“ im „Morgenblatt“ zum Abdruck bringen ließ und damit, bei dem hohen Ansehen dieser Zeitschrift, den Dichter Nicolaus Lenau erfolgreich in die deutsche Literatur einführte – er übernahm es auch, bei Cotta den Verlag einer Gedichtsammlung von Lenau zu vermitteln, und schon am 29. August wurde der Vertrag darüber abgeschlossen. Der Ehrgeiz des Herrn von Niembsch schwelgte in der Freude des Erreichten; denn er verspürte wohl, daß seit dem Erscheinen seines ersten Gedichtes im „Morgenblatt“ der Ruhm ihn umschmeichelte. Höher trug er jetzt sein Haupt; als berufener Dichter sah er die Pforten einer glänzenden Zukunft geöffnet und viele schmachtende Augen schon dem aufgegangenen Stern folgen.

Andererseits hatte Gustav Schwab die beste Gelegenheit, seinem edlen Ungar und herrlichen Poeten, wie er ihn nannte, die für diesen wohlthuendsten geselligen Kreise der württembergischen Residenz zu erschließen, diejenigen, wo geistiges Können geehrt wurde und der Dichter, umflossen von berückendem Glanze der Romantik, doch mehr galt, als ein gewöhnlicher Alltagsmensch. Gerade in Schwaben war das glückliche Zeitalter für deutsche Dichter aufgegangen. Während der deutsche Norden schon in Druckwerken seine Plänkeleien gegen den trostlosen Polizeistaat begann, spann sich der Süden gegenüber der Armseligkeit der politischen Zustände in eine eigene Welt der Romantik ein, wo die Sehnsucht unbefriedigter Herzen ihre Klagen ertönen ließ. Wurde Berlin die Hauptstadt der deutschen Intelligenz, so war das kleine, ländlich idyllisch von seinen Weinbergen umfriedete Stuttgart zu einem Mekka für die deutschen Poeten geworden, wo sie im Cotta’schen „Morgenblatt“ und Buchverlag die Verkörperung ihrer Ideale fanden. In Schwaben sang es von allen Zweigen, wetteifernd mit den Nachtigallen im österreichischen Dichterwalde; hier war man mit Deutschlands Metternichtigkeit zufrieden.

Schwab war der Mittelpunkt des schwäbischen Dichterkreises, der feinsinnige Vertreter desselben nach außen, sein literarischer Ministerpräsident, sein Chorführer auf der Bahn, welche Uhland mit manneskräftiger Poesie gebrochen. Justinus Kerner, der Oberamtsarzt in Weinsberg, Geisterseher und romantisirender Humorist, gehörte ihm in erster Reihe mit an, ferner: Karl Mayer, der heitere, in Epigrammen und Naturgedichten so glückliche Oberamtsrichter in Waiblingen, die trefflichen Brüder Pfitzer, von denen Gustav vor Allen das freisinnige Zeitelement in diesem Kreise vertrat, Graf Alexander von Württemberg, „wild und muthig, ritterlich und herzlich“, Hermann Kurz, in dem noch Sturm und Drang der alten Zeit gährte, Eduard Mörike, der Pfarrvicar, gelegentlich schon mit einer volksthümlichen Lyrik in plastischer Vollendung hervortretend.

Einer der Mittelpunkte dieses dichterischen Kreises war auch der greise Geheimrath August Hartmann, Vater von vier anmuthigen, musicirenden, singenden und malenden Töchtern, deren eine, Emilie, mit Professor Reinbeck verheirathet war und ihr Haus, wo auch ihr Vater wohnte, zu einem reizvollen Stelldichein der Stuttgarter Schöngeister jener Tage zu machen wußte.

Lenau wurde schnell ein Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit, besonderer Auszeichnung für alle diese Geister; er imponirte durch sein ganzes Auftreten; die Mädchen und jungen Frauen konnten sich dem magischen Eindrucke seiner Person nicht entziehen; es geisterte immer in seinem Gesicht, und die bleiche Melancholie stellte darin gluthäugig ihre stummen Fragen. Das gefiel ihm. Er wurde wieder lebensfroh, dampfte vergnügt seine lange Pfeife, die er auch in Gesellschaft nicht aus dem Munde nahm, und spielte die ihm liebsten Weisen auf seiner Geige, ohne die er nicht sein konnte.

[14] Schon reiften die Trauben auf den Weinbergen, und köstliche Herbstnachmittage lockten die Stuttgarter hinaus in die früchteprangende Gartenlandschaft der Umgegend. Mit Schwab, seiner Frau und Tochter war Lenau an einem solchen Nachmittage spazieren gegangen. Da begegnete ihnen ein Mädchen von neunzehn Jahren, Lottchen Gmelin, eine Nichte des Professors, und schloß sich ihnen an. Ein „wohlgebildetes Mädchen“, dachte Lenau, der sich mit ihr während des Weges etwas unterhalten hatte, ging aber, seine Pfeife rauchend, in der Gesellschaft weiter, ohne sich mehr um sie zu bekümmern.

Sie folgte einer Einladung zu Schwab’s und ließ sich hier nicht lange nöthigen, auf dem Clavier zu spielen. Ein Menuet von Kreutzer wählte sie zuerst. Ihre Finger zitterten in jungfräulicher Bangigkeit über die Tasten. Lenau sah ihr zu und lauschte aufmerksam. Musik wirkte mächtig auf ihn; seelenvolles Spiel rief stets die Geister aus den Tiefen seiner Seele herauf. Hier, als Lottchen das schöne Tanzstück erklingen ließ, erwachten diese Geister in seiner Brust; denn sie spielte es bei aller Beklommenheit mit einem ihn bezaubernden Ausdruck.

Später sah er sie in dem kleinen Kreise der Familie noch öfter wieder. Sie hörte ihn seine neuen, für die Buchausgabe bestimmten schwermüthigen Gedichte vortragen, er wieder ihr Clavierspiel und ihren Gesang. Die Musen vermählten ihre Herzen. Die von ihr einmal schön gesungene Beethoven’sche „Adelaide“ eroberte ihn vollends. Seine Geister kamen herauf, die Dämonen, und ließen die Elmsfeuer der Leidenschaft in seiner Seele emporlodern. Lottchen war sein in schweigender Liebe; all sein Sinnen und Empfinden umschwebte sie jetzt.

In einem Briefe an seinen Schwager Schurz schilderte er Lottchen als ein Mädchen von vollem, üppigem Körper, den ein reicher Geist beherrschte.

„Daher“, schreibt er, „ihr leichter Gang, die Anmuth all ihrer Bewegungen. Ein edles, deutsches und frommes Gesicht mit tiefen blauen Augen und unbeschreiblichem Liebreize der Brauen; zumal ist die Stirn von kindlich-unschuldsvollem, gütigem und doch so geistvollem Ausdrucke.“

Als die dritte Tochter des Hofadvocaten und späteren Oberjustizraths in Ulm, Christian Heinrich Gmelin, war sie in Bern 1812 geboren worden. Nach dem Tode desselben im Jahre 1824 hatte sich ihre Mutter, eine Tochter des ausgezeichneten Kupferstechers Johann Gotthard Müller, mit ihren vier halberwachsenen Kindern nach Stuttgart zu ihrem Vater begeben. Lenau ließ sich nun bei Gmelins einführen mit seinem Herzen voller Liebe für Lottchen, und bald war es den ihr Nahestehenden nicht mehr verborgen, welch ein geheimes Band die Beiden verknüpfte – ein geheimes insofern, als es zu keinerlei Erklärung von Lenau’s Seite kam. Er schwelgte in der Wonne der neuen Leidenschaft, nachdem er früher in Wien eine erste an eine Unwürdige verschwendet hatte und der Riß, den diese Enttäuschung in seinem überaus empfindlichen Gemüthe bewirkt, noch ungeheilt geblieben war. Aus der Verstimmung über seine unglückliche Wiener Liebe waren so schmerzlich-zornige Töne hervorgequollen, wie sie in dem Gedichte „Die Waldcapelle“ rhythmische Melodik gefunden:

„Was einmal tief und wahrhaft Dich gekränkt,
Das bleibt auf ewig Dir in’s Mark gesenkt.“

Lottchen war dazu geschaffen, diese Wunde heilen zu lassen. Sie verstand ihn und was die tiefsten Abgründe seiner Seele aufgerührt hatte. „Die Waldcapelle“ hatte es ihr gesagt, wie allen seinen Freunden in Stuttgart. War dieses Gedicht doch von der jungen Frau Reinbeck aus Theilnahme für Lenau zum Gegenstande eines stimmungsvollen Gemäldes ihrer Hand gemacht worden.

Aber Lenau’s unglückselige Zwiespaltnatur mischte schon mit der ersten Wonne wieder das Gift, das aus seiner Zweifelsucht erzeugt wurde. Er floh vor Lottchen, die ihn doch mit unwiderstehlichem Zauber anzog; er haderte mit sich über das, was ihn hätte für immer beglücken können. Das vielleicht unberechtigte Bewußtsein, die Mittel zur Bestreitung eines Haushaltes nicht erschwingen zu können, riß ihn von der Geliebten, der er mit seinen Augen und in glühenden Liedern zu sehr verrathen, wie theuer sie ihm sei. Die Funken im Herzen des armen Mädchens waren zu Flammen aufgelodert, welche es verzehrten. Still litt Lottchen, ein rührendes Bild jungfräulicher Resignation; er aber tobte und klagte über sein verhängnißvolles Geschick, eine empfindsame Seele zu haben.

So reiste er Anfangs November aus Stuttgart ab, um in Heidelberg seinen Doctor zu machen. Seine Briefe aus dieser Winterzeit charakterisiren seine Kämpfe und den Rückzug, den er aus ihnen zu nehmen sich entschloß.

„Ich werde,“ schrieb er an Schurz unterm 8. November 1831 aus Heidelberg, „diesem Mädchen entsagen; denn ich fühle so wenig Glück in mir, daß ich Anderen keins abgeben kann. Meine Lage ist auch zu beschränkt und ungewiß.“

Und unterm 12. Januar 1832 an denselben: „Mein liebes Lottchen! O, daß ich ihr nicht entsagen müßte! Ich habe sie wieder gesehen. So giebt es kein Mädchen mehr. Sie ist anbetungswürdig. Ich werde sie ewig lieben, wenn ich anders ewig lebe.“

Am 21. Januar aber an Mayer: „Niederkämpfen wird’ ich die Liebe nicht; das war nur eine eingebildete Pflicht der Melancholie … Nein, ich will diese Liebe bewahren; sie soll mir mein Leben verschönen für alle Zeit.“

In Liedern besang er sie und ließ er seine Klagen um das Grab seiner Hoffnung zittern. Damit wollte sein Egoismus die Arme entschädigen.

„Und sehn wir uns nicht wieder
In diesem Erdenleben,
Dich werden meine Lieder
Verherrlichend umschweben.“ (Waldgang.)

Ueberall noch fühlte er „ihrer Seele stille Allgewalt“; überall sah er ihr Bild. Durch Wald und Flur strich er in Gedanken an sie; an einsamen schilfsbestandenen Weihern tönte sein Sehnen und Entsagen schwermüthig sich aus:

„In mein stilles, tiefes Leiden
Strahlst du, Ferne! hell und mild,
Wie durch Binsen hier und Weiden
Strahlt des Abendsternes Bild.

Weinend muß mein Blick sich senken;
Durch die tiefste Seele geht
Mir ein süßes Deingedenken
Wie ein stilles Nachtgebet.“

Es waren seine wehmüthigen „Schilflieder“, die er vor dem Druck wohl an sie gelangen und in den befreundeten schwäbischen Kreisen lesen ließ; sie verschafften in diesen letzteren der so schmerzvoll Gefeierten die Benennung „Schilf-Lottchen“.

Von Heidelberg aus machte Lenau häufige Besuche in Stuttgart, wo man ihn in innigster Antheilnahme an seinen Grillen und Zweifeln, seinen krankhaften Ueberreizungen und den daraus entspringenden abenteuerlichen Plänen vernünftig zurechtzusetzen versuchte. Vor Allem Lottchen’s wegen kam er in die württembergische Residenz; es drängte ihn, sie wiederzusehen, sich und ihr den Stachel auf’s Neue in die Herzenswunde zu drücken.

Als es Frühling wurde, that er den Freunden als das Ergebniß längst gepflogener Erwägungen seinen Entschluß kund, nach Amerika zu gehen. Dort wollte er sich Land kaufen, ein Vermögen erwerben, wie er es für das Leben eines Cavaliers für nöthig hielt, und damit in die Heimath zurückkehren. Vegebens bot man Vorstellungen und Bedenken dagegen auf. Weder Schwab, noch Hartmann, weder Reinbeck und dessen Frau, noch Mayer und Kerner, konnten ihn davon abbringen. Ihm war, als rette er sich damit aus allen Zwiespälten – und vielleicht, wenn er nach einigen Jahren als wohlhabender Mann zurückkehre, vielleicht ließe sich dann noch senl Herzensbund durch die Heirath besiegeln. Er mochte auch mit Schilf-Lottchen darüber gesprochen haben.

„Ich brauche Amerika zu meiner Ausbildung,“ sagte er; „dort will ich meine Phantasie in die Schule – die Urwälder – schicken, mein Herz aber durch und durch in Schmerz maceriren, in Sehnsucht nach der Geliebten.“

Am meisten ließ sich Justinus Kerner mit seinem prächtigen Humor angelegen sein, ihm diesen bösen Geist auszutreiben, ohne sich vor den ungarischen Heftigkeiten und der über die Stirn sich schlängelten starken Zornesader des Herrn von Niembsch zu fürchten. Dieser hauste wochenlang bei ihm in Weinsberg, in dem kleinen Gartenhaus, das Kerner eigens zum Fremdenquartier hergerichtet hatte und wo sein Gast rauchen, geigen und mit sich hadern konnte nach allem Bedürfniß. (Vergl. „Garlenlaube“ 1866, S. 5.)

Aber Lenau blieb in seinem Vorsatze unerschütterlich Noch einmal eilte er nach Stuttgart, aber er durfte die Geliebte [15] nicht mehr sehen. Am 19. Mai schreibt er von dort: „Von meiner Lotte bin ich getrennt. Das Mädchen hat die Sache sehr ernst genommen, und da ich keine Aussichten auf Heirathen geben kann, jetzt gar nach Amerika gehe, ist die Mutter um die Gesundheit des sehr gefühlvollen Mädchens bekümmert und hält uns aus einander. Hilft aber nichts … Wir lieben uns doch und werden es immer thun, obgleich wir nie ein Wort davon gesprochen. Das ist ein ganz eigenes Verhältniß.“ – Er mußte sich begnügen, am Fenster Schilf-Lottchens vorüber zu gehen, und in dunkler Nacht stand er davor und träumte sie sich hinter den Scheiben, Thränen in den Augen, wie er: er blickte lange hinauf, wo sie schlief, und „schüttete ihr heimlich seine ganze Seele zum Fenster hinein“.

Wirklich trat er die große Reise im Juni an. Schilf-Lottchens Bild wich nicht von ihm; in dem Dunkel der Oceannächte wähnte er sie zu erblicken, und

„Als ein unergründlich Wonnemeer
Strahlte mir dein tiefer Seelenblick;
Scheiden mußt’ ich ohne Wiederkehr,
Und ich hatte scheidend all mein Glück
Still versenkt in dieses tiefe Meer.“

Lenau hatte Recht gehabt, als er geschrieben, Lottchen habe die Sache sehr ernst genommen. Ihre erste Liebe füllte ihr ganzes Herz aus, auch als sie hoffnungslos geworden. Still und bleich; von Kummer krank, blieb sie zurück. Wer dächte da nicht an Friederike Brion von Sessenheim, die einst Goethe verlassen? Auch dem Lottchen in Stuttgart, die einen Lenau so mächtig bewegt, schwebte ein Bild immer an den Wänden „von einem Menschen, welcher kam und ihr als Kind das Herze nahm“. Sie konnte ihn nicht vergessen. So reich war ihr Gemüth, daß ein ihr heiliges Gefühl auch in der Hoffnungslosigkeit nicht zu sterben vermochte.

Indeß erfuhr Lenau in Amerika so schnelle und gründliche Enttäuschung, daß er bereits nach einem Jahre wieder nach Europa zurückkehrte, an Vermögen ärmer als vorher, wohl aber durch die bei Cotta erschienene Gedichtsammlung ein gefeierter Liebling der Gesellschaft geworden. Zuerst suchte er wieder seine Freunde in Schwaben auf. Wollte er Lottchen wiedersehen? Drängte es ihn noch, in dunkler Nacht sich unter das Fenster ihres Zimmers zu stellen „und seine Seele da hinein zu schütten“? Er sah sie nicht mehr, auch war bei ihm keine Rede mehr von ihr. Er hatte diese Liebe ja in’s tiefe Meer gesenkt.

In Wien, wohin er sich dann begab, schlug ihn eine andere Neigung in Banden, hoffnungslos, weil sie einer verheiratheten Frau galt; er nannte Freundschaft, was sein Herz jetzt erfüllte. Immer wieder, alle Jahre, kam er nach Schwaben zurück. Dann blieb er bei Alexander von Württemberg, der unweit Eßlingens eine kleine Villa bewohnte, wochenlang als willkommener Gast, oder bei Justinus Kerner in Weinsberg, wo immer allerhand interessante Leute verkehrten, oder bei Mayer in Waiblingen, oder bei Reinbeck in Stuttgart. Da entwickelte er seine Ideen, arbeitete er seine großen Dichtungen aus, las sie in engerem Kreise vor und quälte seine Freunde nur zu oft mit seiner düsteren Melancholie. Schon schüttelte Mancher bedenklich den Kopf über sein Gebahren, und es flüsterte Einer wohl dem Andern zu, daß es mit Lenau einen unheilvollen Ausgang nehmen möchte.

Trug das Flüstern diese Besorgniß nicht auch zu Schilf-Lottchens Ohren? Gewiß! War auch Alles aus und vorbei mit ihr, so folgten ihre Gedanken doch dem theuren Manne, der in ihrer Nähe weilte.

Es waren Jahre dahingegangen, ihrer dreizehn schon, seitdem Lenau das erste Mal nach Stuttgart gekommen. Eine neue Leidenschaft für ein Mädchen, das er in Baden-Baden kennen gelernt, trieb ihn jetzt zur Heirath. In Frankfurt wollte er Hochzeit machen, aber auf der Reise dahin hielt er sich wieder bei Reinbeck in Stuttgart auf. Ach, es sollte die letzte Station seines freien Geisteslebens sein; denn hier, in Reinbeck’s Hause, begann die schreckliche Raserei des Unglücklichen, aus deren Nacht er nicht mehr befreit werden konnte. Entsetzensvoll und schmerzergriffen hörten die Freunde von seinem unseligen Geschick; vor dem ihnen längst gebangt. Es hatte ihn hier ereilt, wo er einst so innig geliebt hatte. Welch heiße Thränen weinten Lottchens Augen, als sie ihn fortbrachten in die Zelle des Irrenhauses von Winnenthal, den gebrochenen Mann mit dem zerrissenen Genius!

Keine Hoffnung mehr für ihn! Unheilbar, jammerwürdig, sargte man ihn bald darauf in die Anstalt zu Döbling bei Wien ein, wo sein langes Sterben sich abspielte. Die schwäbischen Freunde pilgerten noch einmal zu ihm, der liebe alte Mayer, Ludwig Uhland, Gustav Pfitzer, Kerner; sie brachten auch Blumen und Kränze aus ihrer Heimath für ihn, welche liebevolle Theilnahme der Frauen ihnen mitgegeben, eines Mädchens Blumengruß dabei, weiße Rosen, Sinnbilder schweigender treuer Liebe. Er verstand nichts mehr davon.

Die Ueberzeugung seines rettungslosen Zustandes gab Lottchen dem Leben zurück. Entsagung lähmt; Trauer führt zur Erlösung, wie Thränen das Gemüth befreien. Sie hatte nur noch um einen Todten zu trauern, dessen Herzensbraut sie im Leben nunmehr fünfzehn Jahre gewesen. Jetzt war sie seine Herzenswittwe. Aber nach dem Winter der Trauer um den Geliebten kam naturgemäß neues Leben, neues Hoffen, ein anderer Mai. Wozu sie vorher sich nicht hatte entschließen können, darein willigte sie jetzt. Im Jahre 1846 reichte sie Dr. Ernst Hartmann ihre Hand, der Stadtarzt in Sindelfingen war und dann Oberamtsarzt in Böblingen wurde.[1] Im Jahre 1861 starb ihr Gatte, und sie übersiedelte darauf mit ihren Kindern nach Tübingen. Seit einiger Zeit aber hat sie sich, leider des Gehörs fast ganz beraubt, in das Frauenstift zu Schorndorf zurückgezogen.


  1. Ihre jüngere Schwester, Maria, hatte vorher schon geheirathet, und zwar den Oberamtsarzt Friedrich Hartmann in Reutlingen. Dieser Umstand hat zu Verwechselungen geführt, und irrthümlich ist Schilf-Lottchen entweder als nach Reutlingen oder nach Göppingen verheirathet bezeichnet worden.