Schule und Gesundheitspflege

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Autor: Georg Winter
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Titel: Schule und Gesundheitspflege
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aus: Die Gartenlaube, Heft 50, S. 827–830
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Schule und Gesundheitspflege.

Noch einmal ein Blick auf die Ueberbürdungsfrage.

In den Händen der Jugend liegt die Zukunft des Vaterlandes: was zu deren Erziehung und Heranbildung gethan wird, dient nicht blos ihr selbst, den einzelnen Individuen, es gewährleistet auch den geistigen und sittlichen Zusammenhang der zukünftigen Gesammtheit mit der gegenwärtigen, den ideellen Fortschritt. Und darum hat an der Jugenderziehung der Staat ein ebenso großes Interesse, wie der Einzelne selbst; darum ist dieselbe zu allen Zeiten und in allen civilisirten Nationen ganz vorzugsweise ein Gegenstand besonderer staatlicher Fürsorge gewesen. Auf diesem Gebiete blos den Wetteifer der Einzelnen walten zu lassen, das würde auf eine Verkennung aller realen und idealen Grundlagen des staatlichen Seins schließen lassen.

Das griechische Gesetz befreite denjenigen, dem von seinem Vater nicht die genügende geistige und körperliche Ausbildung zu Theil geworden war, von der Pflicht, den Vater im Falle der Erwerbsunfähigkeit zu unterstützen. Zu der Idee des allgemeinen Schulzwanges sich emporzuarbeiten, ist erst der neuesten Entwickelung und hier wieder zuerst unserem eigenen Vaterlande vorbehalten geblieben.

Wit Stolz dürfen wir sagen, daß wir in Bezug auf allgemeine Verbreitung eines gewissen Maßes geistiger Bildung unter allen Classen der Bevölkerung den übrigen Culturnationen ein gutes Stück vorangeeilt sind. Wir haben uns in Folge dessen daran gewöhnt, unsere Methode der Schulerziehung für so unbedingt vortrefflich zu halten, daß die Mehrzahl unserer Mitbürger kaum wagt, an irgend einem pädagogischen Institute ernstlich zu rütteln. Und wenn nicht die Regierung selbst hier und da noch durchgreifende Reformen auf dem Gebiete des Schulwesens zur Durchführung brächte, wie dies noch neuerdings durch die theilweise Aenderung des Lehrplans der Gymnasien und Realschulen in dankenswerthester Weise geschehen ist: wir würden uns längst an den Gedanken gewöhnt haben, daß hier Verbesserungen überhaupt unnöthig, wenn nicht unmöglich seien. Und doch sind Reformen auf diesem Gebiete so sehr nöthig. Daß aber das Gefühl dieser Nothwendigkeit heutigen Tages ungemein rege ist, das beweist unter Anderem der Umstand, daß erst in jüngster Zeit, angeregt durch eine Brochüre des Amtsrichters Hartwich zu Düsseldorf[1], in den Rheinlanden eine Bewegung erwachsen ist, welche weit über den eigentlichen Sitz ihrer Thätigkeit hinaus allgemeine Beachtung verdient und dieselbe selbst im Auslande schon gefunden hat. Der Verfasser jener Broschüre wirft mit voller Klarheit und Energie die Frage auf, ob wir nicht, hingerissen von dem Streben nach allgemeiner Verbreitung geistiger Bildung, in ein Extrem des Zuviellernens gerathen sind, welches für unsere nationale Entwickelung verhängnißvoll werden kann.

Während man sich bisher mit allgemeinen Klagen begnügt hat über den in erschreckendem Maße zunehmenden Procentsatz von Kurzsichtigen, über die Masse von zum Militärdienst Untauglichen, über die Zunahme des Procentsatzes der Irren, wird hier zum ersten Male auf den Kern der Frage eingegangen, eine offene Antwort mit dem Muthe der Ueberzeugung gegeben, zugleich aber auch ein Versuch zur praktischen Lösung der Frage gewagt.

Der von Hartwich begründete und gleich näher zu charakterisirende Verein zählt schon nach Tausenden von Mitgliedern und hat von seinem Centralsitz Düsseldorf aus schon eine ganze Reihe von Zweigvereinen begründet, sodaß ihm für die Dauer eine praktische Bedeutung und weitgreifende Wirksamkeit nicht fehlen wird. Es dürfte daher der Mühe verlohnen, die allgemeine Aufmerksamkeit einmal auf die Bewegung zu lenken, die, man mag sie billigen oder nicht, jedenfalls von der einschneidendsten Tragweite für unser gesammtes sociales und culturelles Leben zu werden verspricht.

Die ganze Bewegung steht und fällt mit der Frage: kann es auf dem Gebiete der Erziehung in der Schule ein „Zu viel“ der eingeprägten Kenntnisse geben? Hartwich – und mit ihm die Anhänger seiner Anschauungen – trägt kein Bedenken, auf diese Frage mit einem überzeugten „Ja“ zu antworten, dem wir nicht umhin können, uns anzuschließen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß in der That die Anforderungen, welche an das noch junge und der Entwickelung bedürftige Gehirn unserer Schuljugend gestellt werden, erheblich verringert werden können, ohne daß wir von der Höhe unserer wissenschaftlichen Bildung auch nur um eine Stufe herunterzusteigen brauchen. Schreiber dieser Zeilen hat das vor einiger Zeit in der „Gegenwart“ an einem speciellen Beispiel, an dem geographischen Unterricht auf den deutschen Gymnasien, zu erweisen versucht, und die Unterrichtsverwaltung selbst hat es, wenn auch nur indirect, durch die Veränderungen zugestanden, welche sie in dem reformirten Lehrplane, namentlich bei dem Unterricht in den alten Sprachen, getroffen hat. Aber es kann und muß noch viel mehr geschehen, wenn wir nicht schließlich dahin kommen wollen, daß die Mehrzahl unserer Mitbürger zwar ein beträchtliches Maß aller möglichen brauchbaren und unbrauchbaren, verdauten und unverdauten Kenntnisse besitzt, dafür aber physisch verkommt und die Geschmeidigkeit und Elasticität des Körpers verliert, ohne die jede, auch die geistige, Thätigkeit für die Dauer unmöglich ist.

Bevor wir die Möglichkeit einer solchen Reduction der Anforderungen erweisen, wollen wir zunächst feststellen, ob und warum eine solche nothwendig ist: denn jede Aenderung einer Einrichtung, deren Vorzüge im Großen und Ganzen unbestritten sind, bedarf der Begründung ihrer inneren Nothwendigkeit. Wir dürfen hier unsere Leser im Allgemeinen auf die Ausführungen Hartwich’s verweisen, deren weite Verbreitung trotz aller Mängel, welche dieselben im Einzelnen enthalten, nicht genug empfohlen werden kann, und können uns hier mit der Anführung der Hauptgesichtspunkte und einiger Ergänzungen zu den Darlegungen desselben begnügen.

Man wird im Allgemeinen annehmen dürfen, daß geistige Arbeit im von der freien Luft abgeschlossenen Raume die körperlichen Organe wenigstens ebenso sehr anstrengt und ebenso viel Lebenskraft absorbirt, wie körperliche. Ja, das von der ersteren hauptsächlich in Anspruch genommene Organ, das Gehirn, wird wahrscheinlich, weil eben die Thätigkeit eine organisch concentrirtere ist, noch in erheblich höherem Maße mitgenommen, als die Gesammtheit der Muskelkraft, welche bei körperlicher Arbeit zur Verwendung kommt. Bei normal entwickelten Naturen wird daher eine tägliche geistige Arbeitszeit von acht bis zehn Stunden für den Erwachsenen als durchschnittliches Maximum gelten können. Es liegt auf der Hand, daß für das noch nicht entwickelte Gehirn des Kindes eine erhebliche Abminderung dieser Stundenzahl Platz greifen muß, wenn nicht eine Ueberanstrengung des Gehirns befürchtet werden soll. Es kann aber keinem Zweifel unterliegen, daß bei dem Durchschnitt unserer Schulkinder, wenigstens derer in den höheren Schulen, die geistige Thätigkeit die oben genannte Stundenzahl erreicht, oft sogar überschreitet. Bei fünf bis sechs Stunden täglichen Schulunterrichts muß man bei dem gegenwärtigen Modus mindestens noch zwei bis drei Stunden auf die Vorbereitung im Hause in Anschlag bringen. Demnach kann es, schon rein äußerlich betrachtet, nicht Wunder nehmen, wenn bei minder kräftigen Kindern Ueberreiztheit des Gehirns, in der wir sehr häufig auch die Veranlassung zu Krankheiten der Augen zu erkennen haben, eintritt.

[828] Die statistischen Zahlen, deren Ergebnisse schon traurig genug sind, treffen hier noch nicht einmal das wahre Verhältniß, indem sie nur die direct und klar hervortretenden Krankheitserscheinungen, nicht aber die weniger an die Oberfläche tretenden, aber um so bedenklicheren allgemeinen Störungen des Organismus registriren. Dazu kommt, daß das junge Hirn auch bei dem Verständniß der Erscheinungen der Außenwelt noch weit mehr angestrengt wird, als der erfahrene und erwachsene Mensch. Abgesehen von der physischen Schädigung, wird daher oft auch eine geistige Ueberreizung eintreten; die Ueberfülle der geistigen Nahrung kann nicht verdaut werden: die Weisheit des Lehrers „geht zu einem Ohre des Schülers hinein, zum andern wieder heraus“. Man frage jeden jungen Mann, der das Gymnasium mit dem Zeugniß der Reife verläßt, wie viel er von dem, was er gelernt haben sollte, wieder vergessen hat, und man wird erstaunliche Resultate zu hören bekommen. Sollte es da nicht im Interesse des Erziehungszweckes geboten sein, die Fülle des Einzuprägenden von vornherein auf dasjenige Maß zu beschränken, welches der Lernende dauernd in sich aufzunehmen vermag?

Das ist aber nur die eine Seite der Sache: das Einprägen von „Dingen, die man doch wieder vergißt“, das „Zu viel“ für den Geist. Wir kommen hierauf noch näher zurück. Die Sache hat aber noch eine andere Seite: die durch dieses „Zu viel“ herbeigeführte Unmöglichkeit, auch dem Körper diejenige Sorgfalt zuzuwenden, die ihm gebührt und die man ihm nicht ungestraft entziehen darf. Diese Seite ist es vornehmlich, welche die Hartwich’sche Broschüre und die dadurch veranlaßte populäre Bewegung in’s Auge gefaßt hat.

Ganz abgesehen von dieser Bewegung[2] ist die Tragweite und Bedeutung dieser Frage auch von einer Seite anerkannt worden, welche einen praktischen Erfolg derartiger Bestrebungen in etwas nähere Aussicht stellt. Der preußische Cultusminister von Goßler hat nämlich unterm 27. October dieses Jahres einen Erlaß an sämmtliche königlichen Provinzial-Schulcollegien und die Regierungen gerichtet, in welchem er mit Nachdruck die ethische und physische Bedeutung eines einsichtig geleiteten Turnunterrichts, welcher mit Bewegungsspielen aller Art verbunden sein müsse, hervorhebt. Dazu genüge, so erklärt der Minister ausdrücklich, ein geschlossener Turnraum noch nicht, da gewisse Uebungen und Spiele in einem solchen gar nicht zur Ausführung kommen könnten: vielmehr müsse überall das Augenmerk darauf gerichtet sein, daß auch ein freier Turnplatz für die Schuljugend vorhanden sei. Ausführlich wird dann die erneute Anregung dieser Seite des Schulunterrichts von dem Minister motivirt. Er sagt hierüber:

„Die Ansprüche der Erwerbung von Kenntnissen und Fertigkeiten sind für fast alle Berufsarten gewachsen, und je beschränkter damit die Zeit, welche sonst für die Erholung verfügbar war, geworden ist, und je mehr im Hause Sinn und Sitte und leider oft auch die Möglichkeit schwindet, mit der Jugend zu leben und ihr Zeit und Raum zum Spielen zu geben, um so mehr ist Antrieb und Pflicht vorhanden, daß die Schule thue, was sonst erziehlich nicht gethan wird und oft auch nicht gethan werden kann. Die Schule muß das Spiel als eine für Körper und Geist, für Herz und Gemüth gleich heilsame Lebensäußerung der Jugend mit dem Zuwachs an leiblicher Kraft und Gewandtheit und mit den ethischen Wirkungen, die es in seinem Gefolge hat, in ihre Pflege nehmen, und zwar nicht blos gelegentlich, sondern grundsätzlich und in geordneter Weise.“

Auch auf den Nutzen und die Zweckmäßigkeit von gemeinsamen Schulspaziergängen, Turnfahrten u. dergl. hat der Minister wiederholt und nachdrücklich hingewiesen.

Mit je aufrichtigerer Freude und Genugthuung wir diese Meinungsäußerung des Herrn Ministers begrüßen, um so schmerzlicher empfinden wir doch in seinen Ausführungen eine unzweifelhafte Lücke: so energisch derselbe nämlich den Nutzen und die Nothwendigkeit der erwähnten Maßregeln betont, so hat er es doch vermieden, darauf einzugehen, wie die Durchführung derselben mit dem bestehenden Lehrplane zu vereinigen sei. Er hat die Nothwendigkeit der von ihm besprochenen Einrichtungen mit scharfer Präcision erwiesen, ohne doch die Möglichkeit derselben eingehender zu erörtern. Und es kann doch keinem Zweifel unterliegen, daß eine zweckentsprechende Reform auf diesem Gebiete undurchführbar ist, wenn nicht für die Ausbildung des Körpers durch eine entsprechende Aenderung des Lehrplanes Zeit gewonnen wird: mit den ein bis zwei Stunden wöchentlich, die bei dem bisherigen Unterrichtsplan Alles in Allem auf die körperliche Ausbildung entfallen, ist eine durchgreifende Reform nicht möglich.

So erblicken wir in dem Erlasse des Ministers zwar ein erfreuliches Zeichen dafür, daß man auf Seiten der Regierung dem Princip der von Hartwich in Fluß gebrachten Bewegung freundlich gegenübersteht. Aber für erreicht halten wir den Zweck der letzteren doch noch keineswegs; denn eben auf die organische Reform des Unterrichts überhaupt legt Hartwich mit vollem Recht den größten Nachdruck, und wir wollen nicht versäumen, ihm gerade hierin theils durch Darstellung seiner eigenen Pläne, theils durch einige neue Ergänzungen seiner Ansicht zu Hülfe zu kommen.

„Wo bleibt,“ so fragt Hartwich mit Recht, „bei einer acht- bis zehnstündigen Arbeitszeit, welche unseren Kindern zugemuthet wird, die Möglichkeit körperlicher Erholung in Spaziergängen und Spielen in Gottes freier Luft, wo die unbefangene Freude an der Natur und ihren Reizen? Ist es nicht bereits so weit gekommen, daß mancher Zögling unserer höheren Lehranstalten das Jünglings- respective Jungfrauenalter erreicht hat, ohne jemals einen Wald oder ein blühendes Kornfeld gesehen zu haben? Wer wollte sich darüber wundern, daß die Unfähigkeit, sich an der Natur zu erfreuen, immer mehr bei unserer Jugend um sich greift, daß die Gesichter unserer Knaben und Mädchen so altklug und erschrecklich ernst auszusehen anfangen? Ist es nicht eine furchtbare und zu ernstestem Nachdenken herausfordernde Thatsache, daß zu den Selbstmorden, welche sich in unserer Zeit in so trauriger Masse vermehrt haben, Kinder bis zu zwölf Jahren hinab ein erhebliches Contingent stellen? Das muß anders werden, wenn wir nicht in demselben Maße körperlich zurückgehen wollen, wie wir uns geistig rapid entwickelt haben. Und es kann anders werden, ohne daß wir von der erreichten geistigen Höhe auch nur einen Schritt zurückzuweichen brauchen.

Ahmen wir doch auch in dieser Beziehung das classische Alterthum nach, auf das wir in unserem geistigen Bildungsgrade mit Recht ein so großes Gewicht legen!

Greifen wir doch ja nicht auf den thörichten Grundsatz einer verkehrten asketischen Richtung unseres Mittelalters zurück, die den Körper nur als eine lästige und störende Fessel des Geistes und seine Venachlässigung [sic! Vernachlässigung] und Abstumpfung als ein sittliches Verdienst betrachtet! Die Natur läßt sich nicht ungestraft verhöhnen: sie rächt sich bis in die spätesten Generationen hinein. Der Discus, das Cricket, der Wettlauf, die Bewegung in freier Luft muß wieder gleichberechtigt neben die Pflege des Verstandes und Gedächtnisses treten. Unsere Jugend wird williger und besser lernen, wenn sie wieder spielen und sich der Alles belebenden freien Natur erfreuen darf; die Zeit, welche systematisch und verständig auf diese Dinge verwandt wird, sie wird durch die größere geistige Frische und Regsamkeit mehr als eingebracht werden.“

Dies zu erreichen ist der Zweck, den sich der von Hartwich zu begründende „Central-Verein für Körperpflege“ gestellt hat. Als nächstes anzustrebendes Ziel und als die Grundbedingung für die Erreichung desselben stellt er die gesetzlich zu fixirende gänzliche Abschaffung des Nachmittagsunterrichtes hin. Der Verein besitzt in Düsseldorf bereits ein nicht unbedeutendes Wiesenterrain, welches der Jugend im Sommer als Spielplatz dient, im Winter zu einer künstlichen Eisbahn umgeschaffen wird. Die helle Begeisterung und Freude, mit welcher die Schuljugend die ihr hier gebotene Gelegenheit zu fröhlichem Spiel in freier Luft ergriffen hat und die aus allen Gesichtern wiederstrahlt, ist der beste Beweis dafür, wie segensreich solche Maßregeln sind. Und dazu kommt noch ein nicht zu unterschätzendes rein ethisches Moment: der Lehrer tritt – was ja bei unserer gegenwärtigen Lehrmethode zur Unmöglichkeit geworden ist – dem Schüler menschlich näher; er wird statt [829] des mehr gefürchteten als geliebten Lehrmeisters der Freund und Beschützer der Jugend, wenn er derselben nicht stets von dem erhabenen Standpunkte des Katheders gegenübertritt, sondern in freierem, ungebundenerem Verkehre mit seinen Schülern fröhlich ist und den heiteren Genuß an den einfachen Reizen der Natur mit ihr theilt. Und auch die Lehrer haben ihren großen Vortheil davon: sie zumeist lernen an einem einzigen solchen Tage Sinnesart und Charakter ihrer Pflegebefohlenen besser kennen, als wenn sie dieselben Jahre lang auf den Schulbänken noch so genau beobachten.

Der „Verein für Körperpflege“ hat sich in verschiedene Unterabtheilungen gegliedert, welche alle mit vereinten Kräften dem gleichen Ziele zustreben. Vor Allem soll der edlen Turnkunst wieder mehr Spielraum gegeben werden: die Turnabtheilung des Vereins steht unter der Aufsicht von Volksschullehrern und unter Direction des städtischen Turnlehrers.

Neben der Abtheilung für Spiele und Eislauf besteht dann noch eine Abtheilung für Baden, Schwimmen und Rudern. Vor Allem aber soll die Möglichkeit der Bewegung in freier Luft allen Kindern, armen wie reichen, verschafft werden, und dazu ist in erster Linie erforderlich, daß in allen größeren Städten Terrains für die Spiele der Schuljugend erworben werden, wie der Düsseldorfer „Central-Verein“ hierin mit gutem Beispiele vorangegangen ist. Unsere Lehrer müssen mit ihren Zöglingen den Weg aus der dumpfen Schulstube in die freie Luft wieder finden, den sie fast völlig verloren zu haben scheinen. Dann wird auch unsere Jugend ihre kindliche Unbefangenheit und Frische wiedererlangen, die ihr in der engen Schulstube so vielfach verloren gegangen ist.

Zweierlei aber ist hierzu nöthig: Geldmittel und die zur systematischen Körperpflege erforderliche Zeit durch Beschränkung der Anforderungen – nicht an den Geist; denn diese dürfen nicht beschränkt werden – sondern an das Gedächtniß. Beides ist unschwer zu erreichen und erfordert keine oder doch verschwindend geringe Opfer, die im Verhältniß zu der Idealität des Zweckes kaum in Betracht kommen. Auch hier hat der Düsseldorfer Central-Verein die Bahn bereits gebrochen. Indem er seine pädagogische Aufgabe erweitert und nicht blos auf die Jugend, sondern auf das ganze Volk als solches ausdehnt, wird es ihm leicht, durch einen sehr geringen Mitgliedsbeitrag – eine Mark pro Quartal – die erforderlichen bescheidenen Geldmittel flüssig zu machen.

In jeder einzelnen Abtheilung des Vereins besteht neben der Jugendabtheilung auch eine solche für Erwachsene, die sich zum Theil in Anlehnung an bereits vorhandene Vereine verwandter Richtung – Turnvereine, Fechtclubs, Ruder- und Schwimmvereine etc. – gebildet hat. Daneben giebt es dann noch inactive, d. h. nur zahlende Mitglieder, und durch die Beiträge derselben werden die dem Vereine erwachsenden Kosten gedeckt. Ueberall herrscht reges Leben und frische Begeisterung in diesen Abtheilungen, in denen das Bewußtsein, einem gemeinsamen großen Zwecke zu dienen, alle Theilnehmer vereint. Was in seiner Vereinzelung nur wenig zu wirken vermochte – durch systematische Behandlung und Vereinigung gewinnt es neues, frischeres Leben.

Ebenso leicht aber ist auch das andere Erforderniß zu erreichen. Das Aufgeben des Nachmittagsunterrichtes bedingt, wenn am Vormittag vier bis fünf Stunden unterrichtet wird, eine Beschränkung [830] der Unterrichtszeit um drei bis vier Stunden per Woche. Und diese können mit Leichtigkeit erspart werden, wenn man den bloßen Gedächtnißkram auf das nothwendigste Maß beschränkt, wenn man das Hauptgewicht mehr auf Anregung, auf geistige Durchdringung des Gebotenen, als auf Fülle der Einzelheiten legt. Einzelne Schritte sind auch hier schon in dem reformirten Lehrplan geschehen, aber es muß noch mehr gethan werden. In fast allen Lehrgegenständen kann hier eine Beschränkung eintreten. Die Unterrichtsverwaltung hat z. B. schon in dem Lehrplan für die Gymnasien den Unterricht im Lateinischen und im Griechischen wesentlich reducirt. Dies kann natürlich nur durch eine Aenderung in der Methode erreicht werden.

Das sinnlose Eindrillen lateinischer Phrasen in Extemporalien und Aufsätzen kann sehr wesentlich beschränkt werden; wir meinen sogar, daß die Aufsätze ohne jeden Schaden völlig fortbleiben können, und dadurch würde ein wesentlicher Theil der häuslichen Arbeitszeit in den höheren Classen fortfallen. Aufgabe der Schule ist es, die Jugend in den ewig erfrischenden und erhebenden Geist des klassischen Alterthums einzuführen, durch Lectüre und geistige Durchdringung der klassischen Meisterwerke unserer Jugend Sinn für Ideales und Erhabenes einzuflößen: in dieser Hinsicht kann der Nutzen des Unterrichts in den classischen Sprachen gar nicht hoch genug angeschlagen werden. Dieses Ziel aber wird nicht erreicht, wenn man die großartigen Werke eines Plato, Thucydides, Xenophon, eines Livius, Horaz, Virgil fast ausschließlich zum Einpauken grammatischer Regeln benutzt. Und wozu in aller Welt ist es nöthig, in einer todten Sprache Aufsätze anfertigen zu lassen, bei deren Lectüre sich doch ein Cicero im Grabe herumdrehen würde? Es ist einzig und allein das Element der angelernten Phrase, dem man dadurch zur Herrschaft verhilft, ganz abgesehen davon, daß man durch diese trockene Art dem Schüler den Geschmack an den großen classischen Autoren gründlich verdirbt. Die Grammatik ist nur ein Mittel; sie zum Selbstzwecke zu erheben, wie das leider nur allzu oft geschieht, ist der Gipfel der Verkehrtheit.

Aehnliches gilt von dem geographischen und historischen Unterricht. Auf den Gedächtnißkram hier gänzlich zu verzichten, ist ja ohne Zweifel unmöglich. Aber das Uebel wird viel leichter überwunden, wenn die zu ertheilenden Anleitungen mit einem anschaulichen und anregenden Unterricht über die großen Gesetze, denen das Leben der Erde unterworfen ist, verbunden werden, als wenn der Gedächtnißkram zum fast ausschließlichen Object des Unterrichts gemacht wird.

Weiß der Schüler über die wunderbare Gestaltung der Erdoberfläche, über die Gesetze der Bildung und Entwickelung derselben, über alle die großen Resultate, welche namentlich die vergleichende Erdkunde in neuerer Zeit errungen hat, Bescheid, dann wird er in diesem gewaltigen Bilde auch leichter die Lage und Richtung der einzelnen Linien und Punkte im Gedächtnisse behalten, als wenn man ihm die letzteren einzuprägen sucht, ohne ihm den Anblick des herrlichen Gemäldes selbst zu zeigen. Versteht der Lehrer, den Schüler „in den Geist der Zeiten zu versetzen“, ihm den großen Entwickelungsgang der Geschichte klar zu machen, so wird dieser auch die einzelnen Erscheinungen leichter im Kopfe festhalten. In der Einprägung der letzteren kann ohnehin gerade im historischen Unterricht ein erhebliches Minus eintreten.

Es wird hier noch immer viel zu viel Gewicht auf das Auswendiglernen einzelner Daten und Jahreszahlen gelegt: ja wir kennen Lehranstalten, wo dies den ausschließlichen Gegenstand des historischen Unterrichts bildete – und bildet. Das ist grundfalsch: denn das Ganze ist eben nicht blos die arithmetische Summe seiner Theile: es steht über den Theilen. Man kann alle einzelnen Theile im Gedächtniß haben und doch das Ganze nicht verstehen. Es ist, als ob die moderne Entwickelung der historischen Wissenschaft an dem geschichtlichen Unterrichte spurlos vorübergegangen Wäre. Während die historische Wissenschaft mit Recht immer mehr ihre Aufgabe darin erblickt, dem Culturfortschritt der Menschheit in seinen einzelnen Phasen nachzugehen und die diplomatische und Kriegsgeschichte als das zu betrachten, was sie thatsächlich ist, – als Nebensache, wird diese Nebensache im historischen Unterrichte noch immer in ganz ungebührlicher Weise bevorzugt, Auswendiglernen von Schlachtendaten, genaueste Kenntniß aller feindlichen Berührungen der Völker unter einander bildet in den Geschichtsstunden unserer Lehranstalten noch immer den Hauptgegenstand; der große Fortschritt, den die Menschheit durch die friedlichen Berührungen der Völker unter einander, durch den Austausch ihrer geistigen und culturellen Erzeugnisse gemacht hat, bleibt fast unberührt.

Und doch hat dieses Letztere gerade den nicht zu unterschätzenden Vortheil, daß es dem Schüler Interesse einflößt, während ihn die mechanische Einprägung jener Aeußerlichkeiten langweilt. Und Langeweile ist der Tod aller Pädagogik.

Was würde man wohl von einem Naturforscher sagen, der die Wirkungen der Elektricität nur nach den zerstörenden Wirkungen des Blitzes beurtheilen wollte? Und in der Geschichte will man das Wesen der großen Entwickelung der Menschheit aus den krampfhaften Evolutionen, wie sie in den Kriegen zu Tage treten, erkennen?

Wir können uns mit diesen flüchtigen Andeutungen begnügen, denn wir wollen kein System, sondern Aphorismen geben, die ein Jeder mit Leichtigkeit aus seiner eigenen Erfahrung ergänzen und erweitern mag. Für unsern Zweck genügt das Gesagte. Tritt eine Aenderung der Methode in der angegebenen Richtung ein, so kann nicht nur die Anzahl der Unterrichtsstunden vermindert, sondern auch der auf häusliche Arbeiten zu verwendende Zeitaufwand erheblich reducirt werden. Der Geist wird dadurch nicht benachtheiligt, sondern frischer und zu selbstständigem Denken geeigneter werden: und darauf kommt es an. Dem Körper aber wird auf diese Weise das ihm gebührende Recht werden.

Und Gesundheit ist nächst der Mannesehre das höchste aller Güter und die Vorbedingung alles Glücks. Sorgen wir dafür, daß diese unsern Kindern erhalten werde! Wir sind in Gefahr, sie ihnen zu rauben. „Die Hälfte aller zukünftigen Aerzte und Strafrichter, Kranken- und Gefangenwärter,“ sagt Hartwich, „muß umgeturnt und umgesprungen, umgelaufen, umgerungen, ummarschirt und umgesungen werden, und die Hälfte der sich dann entvölkernden Hospitäler, Gefängnisse, Augenkliniken und Irrenhäuser muß umgestaltet werden zu ‚Hochschulen für Volksgesundheitslehre‘ und zu ‚gymnastischen Seminarien‘, in denen unsere ‚Jugendbildner‘ einen Cursus durchzumachen und ein theoretisches und praktisches Examen abzulegen haben.“

Georg Winter.
  1. „Woran wir leiden“. Freie Betrachtungen und praktische Vorschläge über unsere moderne Geistes- und Körperpflege in Volk und Schule. Düsseldorf 1882.
  2. Herr Amtsrichter Hartwich hat neuerdings in einer öffentlichen Erklärung ausdrücklich constatirt, daß der Erlaß des Ministers nicht etwa durch seine Broschüre und die dadurch hervorgerufene Bewegung veranlaßt worden, vielmehr von langer Hand im Ministerium vorbereitet gewesen sei. Wir wollen übrigens an dieser Stelle nicht versäumen darauf hinzuweisen, daß der Stadt Düsseldorf das Verdienst gebührt, diese hochwichtige Frage schon vor einem Jahrzehnt angeregt zu haben. Damals war es der „Düsseldorfer Anzeiger“, der in einer Reihe von Artikeln für eine größere Pflege der körperlichen Ausbildung unserer Jugend eine Lanze brach. Leider verhallte damals die vereinzelte Stimme völlig, heute aber bieten die gemeinsame Wirksamkeit des ministeriellen Erlasses und die unseren privaten Kreisen entsprungenen Bestrebungen begründete Aussicht auf Erfolg.