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Errungenschaften des christlichen Abendlandes näher bekannt, so begann er ihre Vorteile seinem Lande zuzuführen; er eignet sich fremde Sprachen und Sitten an und bemüht sich seinem ganzen bisherigen nationalen Leben einen andern Zuschnitt zu geben.

Demgegenüber sind die Marokkaner ein Volk, das weder Fuhrwerke noch Fahrstraßen besitzt, dem das Bedürfnis nach Telegraphen, Eisenbahnen und Dampfschiffen noch nicht gekommen ist. Der blühende Zustand, in welchem das Land, das Mauritania Tingitana, zur Zeit der Römerherrschaft sich befand, ist verschwunden. Nicht klimatische Wechsel haben den Umschwung herbeigeführt, sondern der Einzug des Arabers und Muhamedanismus. Wie Mehlthau ruht diese Religion auf den Menschen, erstickt alle Blüten des Geistes und der freien Entwickelung im Keime und hüllt die Völker in ein Traumleben, dem kein frisches Erwachen folgt. Willkür, Eigennutz und Stumpfsinn sind die Hauptzüge der Beamtenwelt und der Verwaltung muhamedanischer Staaten. Dem Despotismus stehen als Stützen religiöser Fanatismus und Ignoranz zur Seite. So ist es in persischen und türkischen Ländern und in Marokko, kurzum von Indien an bis zum Atlantischen Occan. Wo in der Neuzeit, wie in Ägypten und Algier eine größere Thätigkeit sich kund gab, der Landwirtschaft neue Nutzpflanzen zugeführt, dem Handel durch Eisenbahnen und Kanäle neue Wege geöffnet wurden und infolge dessen die Leistungsfähigkeit mit Handel und Wandel sich hoben, geschah es unter dem Einflusse des christlichen Abendlandes; das einheimische, muhamedanische Element verhielt sich passiv und indolent.

Mit der Unwissenheit und dem despotischen Druck, welche in Marokko die Herrschaft üben, gehen religiöser Fanatismus und Mangel an Wahrheitsliebe Hand in Hand. Wenn s. Z. Liebig den Verbrauch der Seife als Gradmesser der Civilisation hinstellte, so scheint mir die Wahrheitsliebe eines Individuums und eines Volkes ein noch viel besseres Zeichen der Kulturstufe zu sein, auf dem es sich befindet. Nach den Eindrücken, welche wir in dieser Beziehung in Marokko erhalten haben, ist diese Tugend hier überaus selten. Wir haben keinen dort geborenen und erzogenen Menschen näher kennen gelernt, der uns nicht belogen hätte. Sir Joseph D. Hooker, der mit zweien seiner Landsleute, Ball und Maw ein Jahr vor uns Marokko bereiste, schrieb mir bezüglich dieses Punktes: „Wenn ich erklärte, Pflanzen und Sämereien für die Gärten der Königin von England zu sammeln, glaubte mir Niemand, sondern erwiderte mir wohl, daß weder die Königin noch ich solche Thoren seien, um hier nach Pflanzen zu suchen, deren es in England selbst genug gebe. Vom Hofe bis zum gemeinen Mann

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Justus Rein: Über Marokko. Dietrich Reimer, Berlin 1887, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:%C3%9Cber_Marokko.pdf/9&oldid=- (Version vom 1.8.2018)