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Julius Schlichting: Ketten- und Seilschiffahrt

Ketten- und Seilschiffahrt.
(Vortrag in der General-Versammlung des Zentralvereins für Hebung der deutschen Fluss- und Kanalschiffahrt am 27. April 1882 von J. Schlichting, Professor für Wasserbau an der techn. Hochschule zu Berlin.)

Wenngleich die Ketten- und Seilschiffahrt – in Deutschland Tauerei, in Frankreich touage genannt – ihrem Prinzipe nach schon seit Anfang des vorigen Jahrhunderts bekannt gewesen und sowohl zur Ueberwindung von Flussschnellen, als auch zur Fortbewegung von Seeschiffen in Seehäfen angewendet worden ist, hat sie doch erst seit 1854 für Fluss- und Kanalschiffahrt größere Bedeutung und zwar dadurch erlangt, dass statt des früher gebräuchlichen nur kurzen Hanftaues das eiserne Tau von großer Länge eingeführt wurde.

Das Rationelle der Tauerei besteht bekanntlich darin, dass der sogen. Tauer in dem auf der Sohle der Wasserstraße liegenden Tau eine feste Führung gewinnt und an dieser durch einen Windeapparat fortbewegt werden kann, ohne dass der sogen. Rücklauf stattfindet. Es gelangt sonach fast die gesammte zur Fortbewegung des Tauers aufgewendete Kraft, soweit diese nicht durch Reibungswiderstände und den nicht horizontalen Zug des Taues absorbirt wird, zur Ausnutzung, während der beim Ruder, Rad und bei der Schraube auf das bewegliche Wasser ausgeübte Druck ein Ausweichen desselben veranlasst, in Folge dessen ein Theil der zur Fortbewegung aufgewendeten Kraft wieder verloren geht. Rad, Ruder und Schraube legen daher bei der Bewegung einen größeren Weg zurück, als das Fahrzeug; der Tauer rückt dagegen bei jeder Umdrehung des Windeapparats um die Länge seines Trommelumfangs vor. Bei der Bergfahrt tritt dem Fahrzeug noch die Strömung entgegen, welche den Effekt von Ruder, Rad und Schraube noch mehr verringert, auf den Tauer aber ohne Einfluss bleibt. Je stärker die Strömung, desto größer wird das Uebergewicht des Tauers und es beträgt dies in manchen Flüssen bis 50 Prozent.

Je geringer die Strömung, desto mehr verschwindet das Uebergewicht, so dass eine Grenze eintritt, bei der die Tauerei, der Rad- und Schrauben-Dampfschiffahrt gegenüber, nicht mehr rationell ist. Wenn trotzdem die Tauerei selbst auf Kanälen betrieben wird, so liegt dies wesentlich darin, dass dort das vom Schiffszug verdrängte Wasser oberhalb anstaut und seitwärts abläuft, also vermehrten Widerstand und Strömung erzeugt, deren Ueberwindung erhöhten Kraftaufwand bedingt. Außerdem liegt aber auch der Vortheil der Tauerei bei Kanälen in dem ruhigen Gang der Tauer, wodurch heftige Wasserbewegungen und Beschädigungen der Kanalböschungen, wie sie Rad- und Schraubendampfer hervor rufen, vermieden werden.

Die Tauerei ist in größerem Umfange zuerst auf französischen Wasserstraßen, demnächst auch auf denjenigen anderer Länder eingeführt worden. Als Tau wurde zunächst die Kette und etwa 11/2 Dezennien später das Eisen-Drahtseil, noch später aber auch das Stahl-Drahtseil verwendet und es haben sich dem entsprechend, wenn einstweilen von den Versuchen der Neuzeit bezüglich der Konstruktion anderweitiger Seiltauer abgesehen wird, zwei Systeme – das Ketten- und das Seilschiffahrts-System – entwickelt, welche in mancher Beziehung Unterschiede zeigen. Behufs Charakterisirung derselben soll die allgemeine Anordnung beider Systeme auch hier in Kürze erläutert werden.

Beim Kettenschiffahrts-System wird die Kette einige Mal – gewöhnlich drei Mal – über zwei, annähernd in der Mitte des Tauers hinter einander gelagerte, mit eisernen Rillen (Nuthen) versehene Trommeln geführt, und es erfolgt die Zu- bezw. Ableitung der Kette nach, bezw. von den Trommeln durch Rollen und an den Schiffsenden durch bewegliche Ausleger. Die Drehung der Trommeln wird durch ein gemeinschaftliches Getriebe derartig bewirkt, dass sich beide Trommeln in gleicher Richtung drehen. Dem entsprechend wickelt sich in Folge der Reibung zwischen Trommelumfang und Kette auf der vorderen Trommel ebenso viel Kette auf, als auf der hinteren ab, wobei der Tauer vorschreitet. Es erfolgt also die Uebertragung der Kraft von den Trommeln auf die Kette durch Reibung, die Anspannung der auflaufenden Kette durch die zu schleppende Last und die der ablaufenden durch das Eigengewicht derselben. Die Anspannung ist indessen nicht gleichmäßig, vielmehr in der auflaufenden Kette ganz bedeutend und zwar etwa 500 mal größer, als in der ablaufenden.

Das Seilschiffahrts-System hat manche Aenderungen der Ketten-Tauer nothwendig gemacht. Da nämlich das Drahtseil im Vergleich zur Kette bei gleicher Zugfestigkeit nur 1/21/3 des Querschnitts und nur etwa 1/51/7 des Gewichts der Kette beansprucht, zudem auch mehr oder weniger glatte Flächen besitzt, erzeugt es auf dem Trommelumfang nur geringe Reibung. Da es sich aber bei seiner Steifigkeit auch nicht um kleine Trommeln aufwickeln lässt, hat der Seiltauer an Stelle der 2 Kettentrommeln nur eine große Seiltrommel erhalten und diese ist nicht in der Mitte, sondern seitwärts und zwar an der äußeren Längswand des Tauers angeordnet worden. Die seitliche Lage der Trommel wurde sowohl wegen ihrer erheblichen Größe, als auch wegen der Rücksicht gewählt, das Seil mit dem Tauer bequem zu verbinden, und die Bedienungs-Mannschaft vor der Gefahr zu schützen, welche bei einem etwaigen Bruch des Seils in Folge der Steifigkeit desselben entstehen könnte. Das Drahtseil umfasst hierbei nur ein Mal etwas mehr als den halben Umfang der Trommel und wird in dieser Lage durch zwei neben derselben angebrachte große Leitrollen erhalten, welche nicht nur die Reibung vermehren, sondern auch das Auf- und Abrollen des Seils begünstigen. Damit sich das Seil aber auch regelmäßig um diese Leitrollen lege, sind noch ein bis zwei andere Leitrollen erforderlich, an denen das Seil auf- bezw. abläuft. Trotzdem würde eine gewöhnliche Rille auf dem Trommelumfang zu wenig Reibung für das glatte Drahtseil erzeugen und ein Gleiten desselben veranlassen. Um dies zu vermeiden, ist die Trommelrille mit zahlreichen Klappenpaaren, den sogen. Fowler’schen Klappen, versehen, welche das Seil beim Auflaufen auf die Trommel fest einklemmen, beim Ablaufen dasselbe nur lose berühren.

Die in vieler Beziehung nachtheilige seitliche Lage der Klappentrommel und des Seilapparats hat seit 1872 zu wiederholten Versuchen geführt, den gesammten Windeapparat, wie beim Kettentauer, in die Schiffsmitte zu verlegen. Von diesen Versuchen soll weiter unten die Rede sein.

Die beim Ketten- und Seilschiffahrts-Betriebe bisher gewonnenen Erfahrungen haben ergeben, dass jedes der erwähnten Systeme besondere Vortheile und Nachtheile besitzt, die zunächst der Erörterung und Gegenüberstellung bedürfen, wenn ein Urtheil über die Frage, ob und in wie weit das eine System vor dem anderen den Vorzug verdient, gewonnen werden soll. Es mögen demgemäß zunächst die

Vortheile und Nachtheile des Kettenschiffahrt-Systems

einer Besprechung unterzogen werden.

Als Vortheile sind zu bezeichnen: 1) geringer Tiefgang des Tauers, 2) einfacher Mechanismus des Windeapparates und 3) leichte Verlängerung und Verkürzung der Kette und deren Wiederverbindung bei Kettenbrüchen. Bei der Lage des Windeapparats mit den Trommeln in der Schiffsmitte ist die Vertheilung der Last auf den Tauer eine günstige, die Last des Windeapparats aber nur relativ gering, weil die große Biegsamkeit der Kette die Verwendung kleiner Trommeln und die symmetrische Anordnung der gesammten Konstruktionstheile gestattet. Der hieraus resultirende geringe, in maximo nur 0,4–0,5 m betragende Tiefgang des Tauers macht ihn für Wasserstraßen von geringer Tiefe besonders geeignet. Außerdem ergiebt sich aus der Einfachheit des Windeapparates eine relativ billige Beschaffung und Unterhaltung des Tauers. Es lässt sich die Kette aber auch ohne schwierige und zeitraubende Manipulationen nach Bedürfniss verlängern und verkürzen und es ist dies ein, beim Schiffahrtsbetrieb auf Flüssen sehr wesentlich ins Gewicht fallender Vortheil, da bei den beweglichen Sinkstoffen des Flussbettes die Fahrrinne weder ihre Form noch Lage konstant erhält, sondern häufig wechselt und auch mit steigendem oder fallendem Wasserstande Aenderungen unterliegt. Diesen Aenderungen muss die Kette folgen können, und es wird dieserhalb sowohl als auch wegen der stetigen Dehnung der Kette zeitweise eine Verlängerung oder Verkürzung derselben nothwendig. Bei der Kette lässt sich dies durch Lösung einiger Kettenglieder, Ein- oder Ausschaltung eines Kettenstücks und Wiederverbindung durch Kettenschlösser ohne große Schwierigkeit ausführen. Ein gleiches findet auch bei etwaigen Kettenbrüchen statt, so dass Betriebsstockungen von längerer Dauer hieraus nicht entstehen.

Diesen Vortheilen stehen folgende Nachtheile gegenüber u. zw.: 1) beschränkte Steuerfähigkeit des Tauers, 2) großes Gewicht der Kette, 3) ungünstige Form und 4) hoher Preis derselben.

Die Steuerfähigkeit des Tauers ist am vollkommensten bei der Befestigung der Kette im Mittelpunkt des Schiffes und nimmt in dem Verhältniss ab, in welchem sich der Befestigungspunkt

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Julius Schlichting: Ketten- und Seilschiffahrt. Deutsche Bauzeitung, Berlin 1882, Seite 222. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:1882_Ketten_und_Seilschiffahrt.pdf/1&oldid=- (Version vom 15.8.2018)