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Julius Schlichting: Ketten- und Seilschiffahrt

Es erübrigt nun noch, der Versuche zu gedenken, welche bisher mit großer Ausdauer zu dem Zweck angestellt worden sind, das Seilschiffahrts-System durch Verlegung des Seilapparats nach der Mitte des Tauers zu vervollkommnen und hierdurch sowohl die Tauchtiefe des Tauers zu verringeren, als auch den Seilapparat zu vereinfachen. Die Schwierigkeit der Aufgabe bestand hauptsächlich darin, dem ablaufenden Seil die zum möglichst regelmäßigen Ablauf erforderliche Anspannung zu geben, da hierzu das geringe Eigengewicht des ablaufenden Seils im Gegensatz zur Kette nicht ausreichend war. Die ersten derartigen Anstrengungen datiren aus dem Jahre 1872 und erfolgten unter Bellingrath’s Zuziehung durch die deutsche Eisenbahnbau-Gesellschaft zu Berlin. Zwei in Dresden erbaute Tauer wurden schon 1873 auf der Oder (auf der Strecke Küstrin-Güstebiese an dem dort gelegten Drahtseil) versucht und in Betrieb gesetzt. Das Seil wurde über die Mitte des Tauers um zwei hinter einander stehende, mit Rillen versehene große Trommeln in dreifacher Umwickelung geführt und im ablaufenden Theil durch ein in Drehung versetztes Rollenpaar aufgenommen, welches das ablaufende Seil mit der erforderlichen Endspannung von den Trommeln abführen und ein regelmäßiges Ablaufen veranlassen sollte. Ein ähnlicher kleinerer Apparat war, behufs Abziehung des letzten Seilstücks von dort nach dem Flussbett, am Schiffsende angebracht. Das Rollenpaar des Hauptapparats bestand aus sogen. Pressrollen, deren Umfang mit Zähnen versehen war. Die Zähne erhielten Erhöhungen und Vertiefungen, ähnlich den Litzenwindungen des Seils. Die Pressrollen (von Wernigh erfunden) wurden durch belastete Hebel zusammen gepresst, erfassten das Seil anfangs fest und sicher und gaben demselben auch den zum Ablauf erforderlichen Anzug. Es bedurfte aber noch besonderer Leitrollen, welche das Seil den Pressrollen zuzuführen hatten. Der Apparat erforderte indessen eine aufmerksame Bedienung und außerdem nutzten sich die Zähne und ihre elastischen Unterlagen sehr bald ab, so dass das Seil nicht immer fest und sicher erfasst wurde und zeitweise sogar von dem Zahnkranz seitwärts abfiel. Trotz mancher vom Erfinder angebrachten Verbesserungen und Versuche, wozu auch die Stellung der Pressrollen auf beweglichen Wagen behufs Vermehrung der Steuerfähigkeit des Tauers und die Einführung von Seiltransmissionen zum Betrieb des Apparats gehören, ist es bis jetzt nicht gelungen, diesen im Prinzip guten Apparat betriebsfähig zu gestalten, so dass Wernigh ihn ganz aufgegeben und in neuester Zeit durch die von ihm erfundene Rolle mit wellenförmiger Rille in Verbindung mit Druckrollen ersetzt hat. Die Druckrollen leiten das ablaufende Seil in die wellenförmige Rille und treten, nach Angabe des Erfinders, bei nicht ausreichender Anspannung des Seils in Wirksamkeit, bei mehr als ausreichender Anspannung aber außer Wirksamkeit und zwar in beiden Fällen selbstthätig. Durch Erfindung der wellenförmigen Rille, welche den Vorgang beim Anzug eines angespannten Seils durch Menschenhände nachahmt, scheint das Problem der Abführung des ablaufenden Seils im Prinzip gelöst zu sein. Es frägt sich nur, ob die wellenförmige Rille keine zu schnelle Abnutzung erleidet und genügend lange Zeit betriebsfähig bleibt. Der Effekt am Modell ist in der That überraschend, indem die Reibung des Seils an der Rille erheblich größer ist, als bei gewöhnlicher Rille. Nach der Patentschrift ist die Kraft übertragende Reibung bei 6 Wellen auf dem 1 m langen Umfang = 1,93 Mal und bei 12 Wellen 7,57 Mal so groß als die Reibung der gewöhnlichen geraden Rille. Die größere Reibung bedingt selbstverständlich auch größere Abnutzung des Seils und der Rille und die Wellenform derselben seitlich wirkenden Druck, der Vibrationen der Rolle und dementsprechend auch Abnutzung ihrer Welle und deren Lager zur Folge haben muss. Auch ist das Seil vermehrten Biegungen ausgesetzt, die indessen bei 5 m Durchmesser jeder einzelnen Welle dem Seil jedenfalls nicht nachtheiliger sein werden, als die Biegungen auf den Seiltrommeln von 2-3 m Durchmesser. Ob sich die wellenförmige Rille im Betriebe weiterhin vollkommen bewährt, wird die Zukunft lehren. Nach Mittheilung des Erfinders soll sie sich beim Betriebe auf dem Niederrhein in der Zeit vom Septbr. 1880 bis Mai 1881 selbst beim Schleppen von 12 Kähnen mit 38 000 z Ladung vollständig bewährt haben. Auch soll durch Einschaltung einer Friktions-Kuppelung ein Gleiten des ablaufenden Seils vermieden sein und dasselbe eine solche Vorteilung erhalten, dass jederzeit die erforderliche Anspannung vorhanden ist.

Lfd. No. Oertliche Lage Benennung der Wasserstraße Strecke Länge Betriebsdauer Bemerkungen
von bis km von bis
I. Zusammenstellung der Wasserstraßen, auf denen bisher Kettenschiffahrt eingeführt worden ist.
1. Deutschland Elbe Böhm. Grenze Magdeburg 331 1869/71  gegenwärtig  Es sind im Betriebe 28 Tauer. Dividende betrug 1880: 61/2 %, 1881: 81/2 %
Magdeburg Hamburg 298 1870/74 "
Saale Barby Calbe 22 ? "
Brahe Brahemündg. Bromberg 13 1870 "
Neckar Mannheim Heilbronn 113 1878 " Es sind im Betriebe 5 Tauer. Dividende betrug 1878: 6 %, 1879: 5 %, 1881: 6 %
2. Oesterrreich Elbe Außig Böhm. Grenze 39 1872 "
Donau Pressburg Wien 80 1871 " Dividende betrug bisher 51/2 – 61/2 %. Es liegt dort auch ein Drahtseil (vergl. II, 2)
Wien Stein 80 1882 " Kette wird zur Zeit verlegt.
3. Frankreich Seine (kanalisirt) Montereau Paris 105 1856 "
Paris Conflans 72 1854 " Kette früher 19 mm, jetzt 22 mm stark. Tiefgang der Tauer 0,45 m.
Conflans Rouen 171 1860 "
Rouen Havre 126 1860 1876 Kette wurde wegen starker Versandung entfernt.
Yonne (kanalisirt) Laroche Montereau 93 1873 gegenwärtig Kettenschiffahrt findet in Frankreich auch noch in einzelnen kurzen Kanalstrecken Anwendung.
4. Russland Wolga Rybinsk Twer 375 1871 "
Cheksner Von d. Wolga Petersburg 445 1871 " Auf 278 km Länge wurde der, wegen zu geringen Gefälles der Wasserstraße nicht mehr rationelle Betrieb eingestellt.[WS 1] Reststrecke hat in manchen Jahren 30% Dividende gebracht.
II. Zusammenstellung der Wasserstraßen, auf denen bisher Seilschiffahrt eingerichtet worden ist.
1. Deutschland Rhein Bingen Obercassel 120 1875 gegenwärtig Seil 40 mm stark. Dauer 32/3 Jahre. Starke Strömung, scharfe Kurven.
Obercassel Cöln 88 1873 1876 Seil 36 mm stark.
Cöln Emmerich 162 1873 1875 Seil 36 mm stark. Unterhalb Ruhrort 1878 beseitigt. Seil wurde von 1876 ab unterhalb Ruhrort überhaupt nicht und oberhalb Ruhrort nur selten benutzt.
Ruhrort Emmerich 1879 1881 Stahl-Drahtseil 22[WS 2]mm stark. Betrieb hat nur zeitweise stattgefunden. Seil wurde 1881 auf der Strecke Ruhrort - Emmerich beseitigt.
Emmerich Rotterdam 1879 1881
Oder Küstrin Güstebiese 47 1873 1875 Seil 22[WS 3]mm stark. Das 1873 gel. Seil wurde 1875 aufgenomm. u in die Havel gelegt.
Havel Spandau Deetz 47 1876 1877 Das Seil wurde 1876 gelegt, Betrieb wurde 1877 eingestellt, doch liegt das Seil noch jetzt. Gegenwärtig wird Kettenschifffahrt eingerichtet und zwar auf Havel und Spree von Pichelsdorf bis Berlin (Unterbaum).
2. Oesterreich Donau Pressburg Gonyo 80 1871 ? Seil 36 mm stark. Betrieb wurde eingestellt. Der Seiltauer wird gegenwärtig im Donaukanal verwendet.
Gran Almas
Donaukanal Nussdorf Ebersdorf 17,55 1881 gegenwärtig Seil 36 mm stark.
3. Belgien Maas Bocholt Lüttich ? 1870 "
Lüttich Namur 67 1868 1870 Betrieb wurde wegen zu kleiner Schleusen eingestellt.
Kanal Charleroi ? 1870 gegenwärtig
Terneuzen-Kanal Gent Scheldemündung ? 1870 "
4. Russland Newa Kronstadt Petersburg ? ? ? Seiltauer mit horizontal liegender Fowler’scher Klappen-Trommel.
5. Amerika Eriekanal Buffalo Lockport 563 1871/73 gegenwärtig Seil 25 mm stark. Es liegen 2 Seile aus Stahldraht. Tiefgang der Tauer mit seitlicher Trommel: 1,52 m. Betrieb soll nur noch auf einzelnen Strecken stattfinden.
Lockport Rochester 1879 "

Was nur allerdings den Umfang des Tauereibetriebes bis zur Gegenwart betrifft, so ergiebt sich derselbe aus den beigefügten, beiden Zusammenstellungen der Wasserstraßen, auf denen bisher Ketten- und Seilschiffahrt eingerichtet worden ist. Die Angaben der Zusammenstellungen sind zahlreichen litterarischen und sonstigen Quellen entlehnt, so dass für deren absolute Richtigkeit nicht eingestanden werden kann. Jedenfalls ergiebt sich aber aus den Angaben, dass sich sowohl das Ketten- als das Seil-Schiffahrts-System trotz der vorhandenen Mängel betriebsfähig erwiesen haben.

Zur Zeit ist sonach die Kettenschiffahrt noch im Betriebe, in Deutschland auf der Elbe, Saale, Brahe und dem Neckar auf 777 km Länge, in Oesterreich auf der Elbe und Donau auf 199 km Länge, in Frankreich auf der Seine und Yonne auf 441 km Länge, außerdem noch auf einzelnen kurzen französischen Kanalstrecken und in Russland auf der Wolga und dem Cheksner auf 375 + 167 = 542 km Länge. Die Seilschiffahrt aber ist im Betriebe in Deutschland auf dem Rhein von Bingen bis Obercassel auf 120 km Länge, in Oesterreich auf dem Donaukanal auf 17,55 km Länge, in Belgien auf der Maas, dem Charleroi- und Terneuzen-Kanal, deren Längen nicht angegeben werden können, in Russland auf der Newa von Kronstadt bis Petersburg und in Amerika auf einzelnen Strecken des 563 km langen Eriekanals. Frankreich besitzt somit keine Seil- und Belgien keine Kettenschiffahrt.

Ein absolutes Uebergewicht des einen über das andere Tauerei-System lässt sich aus Allem, was bisher über die Betriebsresultate bekannt geworden ist, nicht ableiten. Dazu bedürfte es der genaueren Kenntniss aller Internen der bestehenden Unternehmungen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Im Originalscan ist die Bemerkung „Auf 278 km Länge wurde der, wegen zu geringen Gefälles der Wasserstrasse nicht mehr rationelle Betrieb eingestellt.“ der Wolga zugeordnet. Diese Zuordnung widerspricht jedoch der Berechnung der Gesamtlänge der Wasserstraßen mit Kette in Russland (375 + 167 = 542 km), die im Fliestext weiter unten erfolgt. Nach dieser Rechnung müsste die Einstellung des Betreibes an der Cheksner erfolgt sein. Anderen Quellen zufolge (Tauerei auf russischen Flüssen und Tauereibetrieb in Europa und Nordamerika betrifft die Einstellung von Teilen der Kettenschifffahrtsstrecke ebenfalls die Ceheksner.
  2. Zahl im Scan wurde handschriftlich überschrieben
  3. Zahl im Scan wurde handschriftlich überschrieben
Empfohlene Zitierweise:
Julius Schlichting: Ketten- und Seilschiffahrt. Deutsche Bauzeitung, Berlin 1882, Seite 228. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:1882_Ketten_und_Seilschiffahrt.pdf/5&oldid=- (Version vom 15.8.2018)