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lichtem Tage im Chore war, trat auch jenes Mädchen mit in den Chor. Beim Eintritte verneigte es sich tief vor dem Altare und begab sich dann an seinen gewohnten Platz. Ein anderes Mädchen von beinahe gleichem Alter erblickte dort die Erscheinung, und da es wusste, dass seine Gefährtin gestorben war, wurde es von solchem Grausen ergriffen, dass alle es bemerkten. Von der Frau Abtissin Benigna, aus deren Munde ich den Vorfall gehört habe, befragt, was solch ein Entsetzen hervorgerufen, antwortete das Kind; „So und so ist Schwester Gertrudis im Chore erschienen, und als nach dem Schlusse des Vespergebetes das Gedächtnis unserer lieben Frau gebetet wurde, hat die Verstorbene, neben mir stehend, bei der Kollekte sich zu Boden geworfen. Nach ihrer Beendigung stand sie wieder auf und entfernte sich. Das war die Ursache meines Entsetzens.“ Die Abtissin, welche fürchtete, es liege Teufelsblendwerk zu Grunde, sagte zu dem Mädchen: „Schwester Margarethe“, so hiess das Kind, „sollte Schwester Gertrudis noch einmal zu dir kommen, so sprich „Benedicite!“ Antwortet sie dir mit „Dominus“, so frage, woher sie komme, und was sie begehre?“ Am folgenden Tage kam Schwester Gertrudis abermals, und als sie auf jenen Gruss mit „Dominus“ geantwortet hatte, sagte Schwester Margaretha: „Schwester Gertrudis, woher kommst du, und was begehrst du?“ Sie erwiderte: „Zur Genugthuung bin ich hierher gekommen. Weil ich im Chore gern mit dir zischelte und halblaute Worte flüsterte, ist mir befohlen, an demselben Orte, wo ich gesündigt habe, auch Genugthuung zu leisten, und wenn du dich nicht vor dem gleichen Fehler hütest, wirst du nach deinem Tode dieselbe Strafe erleiden.“ Als sie zum vierten Male so Genugthuung geleistet, sagte sie zu ihrer Mitschwester: „Nun ist meine Busszeit um, und du wirst mich ferner nicht mehr sehen“, was denn auch geschah. Vor Margarethas Augen ging sie auf den Kirchhof zu und stieg in merkwürdiger Weise über die Mauer. Das war das Fegefeuer dieses Mädchens. Margaretha aber ist durch diese Drohung der Verstorbenen so erschüttert worden, dass sie bis auf den Tod erkrankte. Vollständig der Sinne beraubt, lag sie da, wie bereits gestorben. Nach einer Stunde wieder zu sich gekommen, beteuerte sie, bei unserer lieben Frau einige der Schwestern gesehen, andere dagegen nicht gesehen zu haben. Sie teilte ferner mit, die hl. Jungfrau habe eine Krone in der Hand gehabt und gesagt,

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Pschmadt: Der „dialogus miraculorum“ des Cäsarius von Heisterbach in seinen Beziehungen zu Aachen. In: Aus Aachens Vorzeit, Heft 1/1900. Cremer, Aachen 1900, Seite 13. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AAV_Heisterbach_dialogus_miraculorum_Pschmadt.pdf/13&oldid=- (Version vom 15.8.2018)