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z. B., genügt nach meiner Erfahrung zur vorläufigen Feststellung, dass derartige Patienten den Schein ihrer Weiblichkeit — ob sie nun weiblichen oder männlichen Geschlechtes sind — abzustreifen wünschen, dass sie sich männliche Charaktere beilegen wollen, als ob sie an ihre Verwandlungsfähigkeit fest glaubten, und dass sie unausgesetzt Versuche unternehmen, in die höher gewertete männliche Rolle vorzurücken. Unter diesen Versuchen — corriger la fortune — interessieren uns insbesondere zwei: die Herstellung des neurotischen Charakters und der neurotischen Bereitschaften in Form der Neurose und ihrer Symptome.

Als einen nicht seltenen Charakterzug solcher Patientinnen möchte ich anführen, dass sie eine Neigung zur Entblössung zeigen, und zwar in der Kindheit oder im späteren Leben, im Traum, in der Phantasie oder im neurotischen Anfall, wo sie sich die Kleider vom Leibe reissen, in der Psychose wo sie sich entkleiden, als ob sie der weiblich gewerteten Schamhaftigkeit entraten könnten, als ob sie mit fiktiven grossen männlichen Genitalien prahlen und andere herabsetzen wollten. Man sieht aus diesen Fällen, wie eine Perversion, die des Exhibitionismus, nicht aus einer „angeborenen sexuellen Konstitution“ erwächst, sondern dass die das Persönlichkeitsgefühl sichernde Neurose Minderwertigkeitsgefühle zu unterdrücken, zu verdrängen bestrebt ist, weil in ihr das heftige Begehren zum Ausdruck kommt, ein ganzer Mann, höherwertig sein zu wollen. Der sexuelle Jargon ist dabei bloss eine Ausdrucksweise, ein „Als-Ob“, der sexuelle Gedanken- oder Tatsacheninhalt nur ein Symbol des Lebensplanes. Auch die weibliche, übertriebene Schamhaftigkeit solcher Patienten ist ein Kunstgriff in der entgegengesetzten Richtung, um über den Mangel der Männlichkeit hinwegzutäuschen[1]. Die Schamlosigkeit steht in solchen Fällen an Stelle der gewünschten Männlichkeit, ist männlicher Protest, auffälligere Schamhaftigkeit zeigt regelmässig auf peinliche Gedankengänge über ein verkürztes Genitale und löst deshalb Protestregungen männlicher Art aus, welche die Linien des Ehrgeizes, des Obenseinwollens, des Alleshabenwollens, des Trotzes etc. namhaft verstärken. In der weiteren Entwickelung der Neurose kann sich die Eroberungslust und Überwältigungswünsche sowie die Entwertungstendenz gegen andere auch in Form von feindseligen Kastrationsphantasien und deren Rationalisierungen (Jones) geltend machen. Neigungen, den Partner wehrlos zu machen, den Beweis der Überlegenheit zu empfinden, was regelmässig den tragenden Gehalt des Exhibitionismus ausmacht, finden sich oft. Zuweilen kann man Mangel an Nettigkeit und Indezenz bei Mädchen als Spur der zutage tretenden Fiktion verstehen: ich will ein Mann sein!

Alle diese Charakterzüge, so gegensätzlich sie sich zuweilen geberdeten, waren in gleicher Richtung für den fiktiven Endzweck dieser Patientin tätig. Es war nicht schwer, als Vorbedingung ihrer männlichen Einstellung ein Stadium der Unsicherheit in ihrer frühen Kindheit aufzufinden, wo sie in mangelhafter Einsicht, aber geleitet durch den knabenhaften Einschlag und ihren kompensierenden Ehrgeiz die Hoffnung nährte, sich dereinst in einen Mann zu verwandeln. Dieses


  1. Adler, Männliche Einstellung bei weiblichen Neurotikern (Venustraum). l. c.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/115&oldid=- (Version vom 31.7.2018)