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deutlicheren Ausprägungen der sich formenden Seele, und geistiges wie körperliches Leben eines Menschen, an einer bestimmten Stelle seiner Entwickelung gefasst, ist als Antwort zu verstehen, die er auf die Frage des Lebens gibt.

Diese Antwort, recht eigentlich die Art, das Leben zu nehmen, ist nach allen Erfahrungen, die wir gewonnen haben, identisch mit dem Versuch, der Unsicherheit des Lebens, dem Chaos der Eindrücke und Empfindungen ein Ende zu machen, die Griffe anzusetzen, um die Schwierigkeiten zu überwinden. Schon die Überlegung, Beobachtung, das Denken und Vorausdenken selbst, Aufmerksamkeit, Einschätzung und Wertung werden durch die Sicherungstendenz hervorgetrieben. Und da die Empfindung der eigenen Minderwertigkeit ein abstraktes Mass für Ungleichheit unter den Menschen abgibt, wird der Grössere, der Stärkere und sein Mass zum fiktiven Endziel gemacht, um dann vor Unsicherheit, vor dem „Gruseln“ geborgen zu sein. So kommt es in der Seele des Kindes zur Bildung einer Leitlinie, die auf Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls drängt, um der Unsicherheit zu entgehen, unter heftigerem Drängen beim Nervösen, der die Minderwertigkeit schärfer empfunden hat. Mythen, das Volk, Dichter, Philosophen und Religionsstifter haben aus ihrer Zeit das Material für Umformung der Leitlinien genommen, so dass als Endziele körperliche oder geistige Kraft, Unsterblichkeit, Tugend, Frömmigkeit, Reichtum, Wissen, Herrenmoral, soziales Empfinden oder Selbstherrlichkeit zur Verfügung stehen, und je nach der rezeptorischen Eigenart des nach Vollwertigkeit lüsternen Individuums ergriffen werden. An dieser Stelle werden die lebendigen Energiekräfte des Kindes hinübergeleitet in den selbst geschaffenen Kreis seiner subjektiven Welt, die nunmehr als leitende Fiktion alle Empfindungen und Regungen, Lust, Unlust, den Trieb der Selbsterhaltung sogar zu ihren Gunsten fälscht und umwertet, um sicher zum Ziele zu gelangen, die alles Erfahren und Erleben beim Nervösen in ihrer besonderen Art verwendet, um Bereitschaften herzustellen und den Triumph vorzubereiten.

Diese vorbereitenden Akte mit ihrer Umwertung der Werte lassen sich am deutlichsten beim Spiel des nervösen Kindes, in seinen Erwägungen über den künftigen Beruf, und in seiner körperlichen und psychischen Haltung beobachten. Von diesen Erscheinungen soll noch im Zusammenhang mit der sie beherrschenden Sicherungstendenz gesprochen werden. Bezüglich des nervösen Habitus sei hervorgehoben, dass er in der Regel frühzeitig auffällig wird, dass er eine pantomimische Darstellung eines Charakterzuges bietet, sei es als ängstliche, lauernde, misstrauische, unsichere, vorsichtige, schüchterne, sei es als feindselige, trotzende, selbstsichere, selbstgefällige, vorlaute Attitude. Leicht macht sich Erröten bemerkbar, oder der Blick ist eigentümlich fangend, untergeschlagen oder feindlich. Es gelingt leicht, eine dieser Attituden oder Geberden, einen mimischen Zug etwa auf das Vorbild zurückzuführen. Oft findet man bei nervösen Kindern schon die Nachahmung des männlichen Prinzips, des Vaters; das Vorbild der Mutter schiebt sich erst durch den Formenwandel der leitenden Fiktion ein, oder wenn von allem Anfang das moralische Übergewicht der Mutter ausser Frage steht. Meist sind es geringfügige Erscheinungen, die sonst der ärztlichen Beobachtung nicht unterzogen werden: Kreuzung der Beine, Arme, eine besondere Art auszuschreiten,

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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/36&oldid=- (Version vom 31.7.2018)