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Aber wir können jeden Augenblick wahrnehmen, dass wir Handlungen begehen, die sowohl das Prinzip der Selbsterhaltung als der Erhaltung der Gattung verletzen, ja dass uns eine gewisse Willkür (Fries, Meyerhof) gestattet, ebenso wie bezüglich der Lust, auch bezüglich der Selbsterhaltung unsere Wertung nach oben oder nach unten zu verschieben, dass wir auch oft auf Selbsterhaltung ganz oder teilweise verzichten, sobald Lust oder Unlust ins Spiel kommt, dass wir andererseits die Lustgewinnung häufig aufgeben, sobald unserem Selbst eine Schädigung droht. In welcher Weise ordnen sich diese beiden, sicherlich wirksamen Anreize der Hauptleitlinie unter, die zur Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls antreibt? Die zwei verschiedenen Anschauungen entsprechen zwei Typen von Menschen, denen sich noch andere anreihen lassen, deren einer in seinem Persönlichkeitsgefühl des Beitrags der Lust am wenigsten entraten kann, während der andere einen Einschlag des Lebensgefühls, des Unsterblichkeitsgedankens in erster Linie fordert. Daraus entstehen modifizierte Apperzeptionsweisen, die ein gegensätzliches Denken im Sinne von „Lust — Unlust“, von „Leben —Tod“ bedingen. Die Einen können die Lust nicht, die Andern das Leben nicht entwerten. Im Gedanken der Zeugung, die wieder gegensätzlich nach dem Schema „Männlich-Weiblich“ gedacht wird, nähern sich diese beiden Typen und suchen ihren Ausdruck in der Richtung des „männlichen Protests“. So weit nervöse Menschen dabei in Betracht kommen, hat der eine Typus die Unlustgefühle seiner Organminderwertigkeit zu kompensieren gesucht, der andere ist in der Furcht vor dem Tode, vor frühem Sterben aufgewachsen. Ihre Anschauung der Welt liefert ihnen nur Bruchstücke, ihre Seele ist partiell farbenblind, dabei aber oft scharfsichtiger, wie die Daltonisten in ihrem Farbenverständnis.

Wir schliessen diese kritische Betrachtung mit dem Hinweis auf den unbedingten Primat des Willens zur Macht, einer leitenden Fiktion, die um so heftiger einsetzt und um so frühzeitiger, oft überstürzt ausgebildet wird, je schärfer das Minderwertigkeitsgefühl des organisch minderwertigen Kindes in den Vordergrund tritt. Das Persönlichkeitsideal ist als Richtungspunkt von der Sicherungstendenz geschaffen und trägt alle Leistungen und Gaben fiktiv in sich, um die sich das disponierte Kind verkürzt glaubt. Diese der Norm gegenüber verstärkte Fiktion regelt das Gedächtnis, sowie Charakterzüge und Bereitschaften in ihrem Sinne. Die neurotische Apperzeption erfolgt nach einem bildlichen, mit starken Gegensätzen arbeitendem Schema, die Gruppierung der Eindrücke und Empfindungen geschieht mit entsprechend gefälschten und erdichteten Werten.

Es liegt in dem Wesen der neurotischen Fiktion, des gesteigerten Persönlichkeitsideals, dass man sie bald als „abstrakten Mechanismus,“ bald als „konkretes Bild“, als Phantasie, als Idee zu Gesichte bekommt. Man darf im ersteren Falle das Symbolische der Darstellung und ihren Zusammenhang mit kompensierten Minderwertigkeitsgefühlen nicht übersehen, und man muss im zweiten Falle den massgebenden Anteil der psychischen Dynamik, die nach „oben“ drängt, vor allem erfassen.[1] Solange


  1. Von neueren Autoren, die diesem Gesichtspunkt Rechnung tragen, muss ich in erster Linie H. Silberer nennen.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/46&oldid=- (Version vom 31.7.2018)