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beruhigt sein konnte. Aber nun hatte sich durch die Entwickelung seiner Charakterzüge, die auch einen schlechteren Fortschritt in der Schule bedingten, seine Lage in der Familie so ungünstig gestaltet, dass er sich mit seiner verfeinerten Überempfindlichkeit mit Recht als zurückgesetzt ansehen durfte. So fand er den Weg zur Norm nicht mehr. Dass er aber dieses Gefühl der Zurückgesetzheit noch immer nach der Analogie einer weiblichen Rolle apperzipierte, ging schon aus dem ersten seiner Träume während der Behandlung hervor. Dieser lautete: Mir war, als ob ich zusah, wie ein Affe ein Kind säugte“.

Er wurde wegen seiner starken Behaarung, die er übrigens mit Stolz zeigte, von seinem Bruder öfters als Affe bezeichnet. Der Affe, der das Kind säugt, ein weiblicher Affe demnach, ist er selbst. Das heisst, er sieht sich, er empfindet sich in einer weiblichen Rolle, wobei das Säugen als Hinweis auf seine Gynäkomastie aufzufassen ist, die bei der Traumdeutung zur Sprache kam. Dies wäre die von mir für alle Träume behauptete weibliche Linie, der gegenüber die Andeutung der starken Behaarung in der Richtung des männlichen Protestes aufzufassen ist. Patient führt sich also in die Kur mit der Eröffnung ein, dass er sich zurückgesetzt fühle, und lässt uns durch das gewählte Bild erkennen, dass er diese Minderwertigkeit als weiblich werte.

Nebenbei will ich darauf hinweisen, dass der Traum häufig Bilder oder Ausdrucksweisen wählt, die eine gleichzeitige Durchsetzung mit weiblichen und männlichen Charakteren aufweist. Hier ein Affe, dessen Säugen als weiblich, dessen Behaarung gleichzeitig als männlich anzusehen ist. Derartige Ausdrucksformen, die ich als dem psychischen Hermaphroditismus zugehörig erkannt habe, lassen sich auf zwei erleichternde Bedingungen zurückführen: 1. entsprechen sie der infantilen Undeutlichkeit der Geschlechtserkenntnis, 2. ist die Kategorie der Zeit bei starker Abstraktion im Traume völlig oder nahezu völlig ausgeschaltet, ähnlich wie in anderen Fällen die Kategorie des Raumes, so dass zwei Gedanken, die zeitlich oder räumlich zu trennen wären, — in unserem Falle: ich empfinde mich als Weib und will ein Mann sein, — zusammenfallen. Stekel hat, mit einiger Übertreibung, wie ich glaube, in Weiterführung meiner Anschauung vom psychischen Hermaphroditismus jedes Traumsymbol als doppelt geschlechtlich eingestellt; er dürfte sich aber der Wahrheit näher befinden als Freud, der den regelmässigen Befund des psychischen Hermaphroditismus und männlichen Protestes in der Traumanalyse leugnet.

Die Aufdringlichkeit, mit der uns dieser erste Traum des Patienten auf sein Gefühl der Minderwertigkeit hinweist, sozusagen in einer Reaktion auf den Beginn der Kur, ist natürlich auch als Avis an den Arzt zu verstehen: meine Krankheit rührt von meinem Gefühl der Minderwertigkeit her! Meine Krankheit, — Ohnmachtsanfälle und Berufsuntauglichkeit, — sind Sicherungen gegen eine Niederlage im V. Akt. Ich bin ohnmächtig und untauglich wie ein Kind und sehne mich nach der Liebe, — Affenliebe, — wie ich sie im Traume sehe. Wir ergänzen: ohnmächtig aus Prinzip, um wie ein Kind gehätschelt zu werden, was er auch nach seinen Anfällen annähernd erreicht; und untauglich, damit man ihn immer mit Nahrung versorge,

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/99&oldid=- (Version vom 31.7.2018)