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das tiefste, zarteste Verständnis für Poesie, wie es nur einer selbst poetisch angelegten Natur eignen kann. „Die göttliche Barmherzigkeit“, sagt Harleß am Schlusse, „lässt es auch heute noch nicht an anderem Manna als dem warhaftigen Brot des Lebens fehlen, das wie Tau auf die Wüste fällt und Leib und Seele mit irdischer Speise wacker macht. Das sind die Gaben der Kunst, welche Gott gibt und kein Mensch sich geben kann. Und wer über ihnen die Ruhe des Sabbats nicht versäumt, dem mag es auch gegeben werden, dass er, von ihrer Kraft gelabt und gestärkt, das Gefilde der Moabiter verlässt und aufsteigt zu dem Gebirge, von welchem sein Auge in der Dämmerung der Ferne Kanaan erblickt. Wol dem, welchen die Kunst auf solche Höhen fürt!“

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 Harleß ist im Jare 1836 in eine zweite Ehe getreten. Seine zweite Gattin, eine geborene Karbach, war durch seltene christliche Bewärung und Reife nicht bloß der edelste Schmuck, sondern auch die kräftigste Stütze seines an Gaben und Segnungen, aber auch an Mühen und Anfechtungen reichen Lebens. An schweren, niederziehenden Gewichten hat es Harleß’ sonst so begnadigtem Leben nicht gefehlt. Er war trotz seiner männlich kräftigen Erscheinung in seinem Leben viel von Krankheit heimgesucht. In den letzten Jaren trat ein Augenleiden, zuerst wenig beachtet, immer bedrohlicher auf, entwickelte sich zum grauen Star und endete mit fast völliger Erblindung. Im Sommer 1878 kündete sich ein Drüsenleiden an, das immer hartnäckiger und schmerzvoller wurde; jedes Wort tat ihm zuletzt weh, jeder Bissen wurde ihm zur Qual. Ganze Tage hindurch machte er sich nur durch Zeichen oder einzelne Worte verständlich. Nur bei der Morgenandacht, in welcher er nach alter Gewonheit an das gelesene Gotteswort anknüpfend, ein freies Gebet sprach, hörten die Seinen zusammenhängende Sätze, in denen sich die alte Klarheit und Kraft des Geistes ungetrübt aussprach. Schon Monate vor seinem Heimgang hatte er ganz mit der Welt abgeschlossen; nur die innigste Liebe zu den Seinen blieb unverändert; die Ankunft einer verheirateten Tochter war ihm die letzte irdische Freude. Wie nahe er sich seinem Ende fülte, bewies die zärtliche Art, mit welcher er allabendlich Gottes

Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Stählin: Löhe, Thomasius, Harleß. J. C. Hinrichs’sche Buchhandlung, Leipzig 1887, Seite 135. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Adolf_von_St%C3%A4hlin_-_L%C3%B6he,_Thomasius,_Harle%C3%9F.pdf/149&oldid=- (Version vom 31.7.2018)