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Glaubenslehre vielversprechende, auf positiver Grundlage ruhende dogmatische Bestrebungen es über Ansätze und Anfänge nicht hinaus brachten: weder Twestens Vorlesungen noch Becks christliche Lehrwissenschaft noch Liebners christliche Dogmatik wurden vollendet. Von größeren dogmatischen Schriften innerhalb dieses Zeitraumes sind nur die Werke von Lange und Ebrard zu nennen, das eine auf unirtem, das andere auf reformirtem Standpunkte ruhend. Mehr sporadisch als in wissenschaftlicher Vollständigkeit vertrat die lutherische Grundanschauung Sartorius, wärend Martensen in seiner Dogmatik sie geistvoll unter reichen spekulativen Motiven anklingen ließ. Thomasius hat vom Centrum des rechtfertigenden Glaubens als organisirenden Prinzips der dogmatischen Darstellung oder, anders gefasst, von der persönlichen, durch Christus vermittelten und widerhergestellten Gemeinschaft zwischen Gott und dem Menschen aus, in tiefer Versenkung in Bekenntnis und Geist der lutherischen Kirche, unter starker Berücksichtigung der dogmatischen Vorgeschichte, aber durchaus frei der kirchlichen Theologie als solcher gegenüberstehend, sich bemüht, „das Dogma aus seinen tiefinnerlichen Gründen und Lebenswurzeln heraus neu und frisch zu reproduziren und ihm so eine Gestalt zu geben, in welcher es als Ausdruck des Einen biblisch kirchlichen Glaubens erscheine, welcher seiner Natur nach immerdar alt und jung zugleich ist“. Thomasius berürt sich hier genau mit Martensen, der in einer Reproduktion Erneuerung und Verjüngung der kirchlichen Dogmen die Aufgabe der Theologie unserer Tage erkennt (aus meinem Leben I, S. 170). Die eigentümliche Verbindung von kirchlicher Gebundenheit und wissenschaftlicher Freiheit, von gründlicher, schlichter und doch in die Tiefe gehender Explikation mit Gemütswärme und einem praktischen Lebenshauch mutet bei dem Werke immer von neuem an. Es ist von ihm eine bedeutsame Doppelwirkung, nach der rein theologischen wie nach der praktisch-kirchlichen Seite ausgegangen. Die konfessionelle Richtung fand in ihm wissenschaftliche Selbstrechtfertigung, Vertiefung und Verstärkung. Mit unmissverständlicher Klarheit hat Thomasius selbst seinen Standpunkt, der eine gesunde Mitte zwischen jeder Verflüchtigung der Substanz des

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Adolf von Stählin: Löhe, Thomasius, Harleß. J. C. Hinrichs’sche Buchhandlung, Leipzig 1887, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Adolf_von_St%C3%A4hlin_-_L%C3%B6he,_Thomasius,_Harle%C3%9F.pdf/59&oldid=- (Version vom 31.7.2018)