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Wesen die der absoluten Person eignenden absoluten Qualitäten in Latenz. Wenn die zur Herrschaft gelangte frühere dogmatische Vorstellung von einem unbedingten Besitz und Gebrauch der göttlichen Eigenschaften von Seiten der göttlichen Natur Christi, aber nur von einem mitgeteilten Besitz und teilweisen Gebrauch dieser Eigenschaften von Seiten der menschlichen Natur redete, so wird die richtige Anschauung die sein, dass die eine gottmenschliche Person auf Grund einer mit der Menschwerdung unmittelbar gegebenen Selbstbeschränkung die göttlichen Qualitäten zwar potential besaß, aber auf deren Vollgebrauch verzichtete und dieselben nur in vereinzelten Akten innerhalb der menschlich beschränkten Lebensform, der irdischen Knechtsgestalt offenbarte. Es dürfte richtig sein, was Delitzsch irgendwo sagt: „die Herrlichkeit göttlicher Eigenschaften bildet hienieden den ruhenden Hintergrund seiner Person und leuchtet nur in einzelnen Strahlen durch seine Knechtsgestalt“, oder Düsterdieck: „er hat die ihm unverlierbaren göttlichen Eigenschaften auch im irdischen Leben und gebraucht sie, aber beides nicht in gottgleicher Weise, sondern seiner Knechtsgestalt entsprechend (Apologetische Beiträge III, S. 72)“. Diese Art von κτῆσις und χρῆσις war zugleich eine κρύψις: das ganze geschichtliche Leben des Herrn war nach der gesamten evangelischen Überlieferung, namentlich aber nach dem Ev. Johannis eine Verhüllung und Offenbarung göttlicher Majestät zugleich. So manches Unsichere und Schwankende die Thomasiussche Darstellung der Kenosislehre auch haben mag, so ist gerade von dieser dogmatischen Position eine bedeutende theologische Bewegung ausgegangen; es dürfte auch nicht zuviel mit der Behauptung gesagt sein, dass die Mehrzal derjenigen Theologen, welche nach der Schrift an die ewige Präexistenz des Sones Gottes glauben, auch an einer realen Selbstentäußerung desselben nach dem ebenfalls klaren biblischen Zeugnisse (Joh. 17, 5; Phil. 2, 6 f.; 2 Kor. 8, 9) festhalten. Besonders möchten wir Kahnis, Steinmeyer und vor allem Frank nennen; letzterer hat in dem System der christlichen Warheit am tiefsten, gründlichsten und förderndsten unter Überwindung der bezeichneten Einseitigkeit den Warheitskern der Kenosislehre zur Ausbildung gebracht. Anklänge an diese Lehre

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Adolf von Stählin: Löhe, Thomasius, Harleß. J. C. Hinrichs’sche Buchhandlung, Leipzig 1887, Seite 49. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Adolf_von_St%C3%A4hlin_-_L%C3%B6he,_Thomasius,_Harle%C3%9F.pdf/63&oldid=- (Version vom 31.7.2018)