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Verwaist und in der Fremde.


1.

Gleich erkannte ich die Waise
In der ganzen Mädchenschar:
Hielt ein weißes Tuch in Händen,
Voll von Thränen war das Tuch.

2.

Schneeweiß war das Waisenmädchen,
War es denn mit Schnee beschüttet?
Nein, so weiß ist auch der Schnee nicht,
Nur des Waisenmädchens Tugend!

3.

„Guten Abend, Waisenmädchen!
Ist es wahr, daß du verlobt bist?“
     „Es ist nicht wahr, liebe Marja,
     Geh’ ich doch mit leeren Händen!“
„Gott sei mit dir, Waisenmädchen!
Helfen will ich dir getreulich:
Geb’ dir hundert braune Pferde
Und zweihundert bunte Kühe.“

4.

Wohl erkannte ich das Mädchen,
Dem die lieben Eltern starben:
Barhaupt und mit nackten Füßen,
Bleichen, eingefallnen Wangen,
Wuchs es auf zu Leid und Kummer,
Trägt sein Kränzlein[1] es voll Trauer.

  1. Die lettischen Mädchen tragen auf dem Kopf Kränze aus Perlen, Flittern oder Blumen.
Empfohlene Zitierweise:
Victor von Andrejanoff: Lettische Volkslieder und Mythen. Otto Hendel, Halle a.d.S. 1896, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AndrejanoffLettischeVolkslieder.pdf/16&oldid=- (Version vom 10.1.2019)