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5.

Schrei nur „Kuckuck!“, liebes Vöglein,
Schrei nur, während ich mich härme!
Trauerst du im Birkenwäldchen,
Wein’ ich still vor Mutters Thür.
Umgehaun ward dir dein Wäldchen,
Mir ist’s Mütterlein gestorben.

6.

Stehet auf, o Vater, Mutter!
Ich berühr’ die Rasendecke
Eures Grabes, euch zu klagen,
Was mir that die fremde Mutter.
Sandte mich zum Apfelbaum,
Daß ich Ruten schnitte dort;
Wie an mein lieb Mütterlein
Lehnt’ ich an den Baum mich innig,
Blüten fielen von dem Baume,
Thränen fielen mir vom Auge.

7.

Schuld am Morgen, schuld am Abend,
Schuld bin ich zu jeder Stunde;
Alles muß ich auf mich nehmen,
Seit mir Vater, Mutter starben.

8.

Eilig eilte fort die Sonne,
Ließ mich stehn im Schatten tief;
Ach, kein Mütterlein mehr hab’ ich,
Das mich in die Sonne führt!
Wart auf mich, du eil’ge Sonne,
Hör, was ich dir sagen will: –
Bringe tausend Abendgrüße
Meinem lieben Mütterlein!
Niedrig steht die Sonn’, wie niedrig,
Fern ist’s Mütterlein, wie fern!
Nie ereile ich die Sonne,
Nie erruf’ ich’s Mütterlein!

Empfohlene Zitierweise:
Victor von Andrejanoff: Lettische Volkslieder und Mythen. Otto Hendel, Halle a.d.S. 1896, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AndrejanoffLettischeVolkslieder.pdf/17&oldid=- (Version vom 10.1.2019)