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Tragt mit Vorsicht meine Truhe,
Denn drei Thränenbecher liegen
Ganz zu unterst! Einen füllt’ ich,
Während ich erwuchs, mit Thränen,
Und den dritten, als die Truhe
Ich mit meiner Mitgift füllte.

Um mein Kränzchen muß ich weinen,
Weinen wie um Vater, Mutter;
Ach, im Kranz sind leicht die Schritte,
Ach, im Kranz ist leicht das Leben!

Drei Maß Lieder nahm ich mit mir,
Als ich mit dem Freier fortzog.
Ist die Schwiegermutter gütig,
Will ich singend sie erfreuen;
Aber ist sie bös’ und heftig,
Bleib’ ich stumm und spar’ die Lieder.

Wolfesmutter, Sohnesmutter,
Gehen beide eines Weges;
Wolfesmutter sucht ein Lamm sich,
Sohnesmutter eine Web’rin.[1]

Stolz bist du, o Schwiegermutter,
Aber ich bin noch viel stolzer;
Du berühmst dich deines Sohnes,
Ich berühm’ mich meiner Tugend!

Weit ließ mich die Mutter ziehen
Und versprach mir, nicht zu weinen;
Als ich meine Schuhe anzog,
Weinte sie schon bitterlich;
Als ich mich ins Wolltuch hüllte,
Weinten alle lieben Brüder;

  1. d. h. eine Schwiegertochter, die hart arbeiten soll.
Empfohlene Zitierweise:
Victor von Andrejanoff: Lettische Volkslieder und Mythen. Otto Hendel, Halle a.d.S. 1896, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AndrejanoffLettischeVolkslieder.pdf/24&oldid=- (Version vom 10.1.2019)