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das weiße Leichentuch von Feldern und Wiesen aus- und hinwegrollt, die Eisesbanden der Quellen, Bäche und Ströme bricht und die starren Häupter gewaltiger Baumriesen in Kurlands weiten, tiefen Wäldern in heroisch-jauchzendem Uebermut zaust und beugt, wenn der Sonnenheld, der Indra, Apollo, Siegfried, der lettische Laimon und Kurbad. mit goldenen Strahlenspeeren den alten Winter- und Wolkendrachen in seine fernen Nordlandshöhlen zurücktreibt, wenn es überall zu sprießen und zu grünen beginnt, und ein unsagbar süßes und doch kräftiges Ahnen, wie von kommendem großen Glück, auch das ärmste elendeste Menschenherz durchweht und mit neuer Hoffnung erfüllt, – dann hebt ringsum das Jubeln, Jauchzen und Jodeln, oder wie es lettisch heißt „Gawileeschana“ an, – fröhliche, neckische Lieder, von Hirten, Mädchen, Kindern zu dem immer reiner und blauer werdenden Himmel emporgesandt. – Aber auch die holde Frühlingszeit, die Zeit der Verheißung und Erwartung geht vorüber, wie alles im Leben vorübergeht. Möge nun auch jenes unsagbare Glück, wie immer, ein Traum, ein Ideal bleiben, etwas von reicher Erfüllung liegt doch in dem heißen, alle Knospen und Keime üppig entfaltenden Sommer, dessen Einleitung die Lihgo-Gesänge bilden. Dann folgt die Mahd- und Erntezeit mit all ihrer Emsigkeit und Mühe, begleitet von den Liedern der Arbeit. Im Spätherbst und Winter aber, wenn sich der Schwerpunkt aller Thätigkeit in die schützenden vier Wände, ins Haus verlegt, kommen die Abendunterhaltungen, die „Wakareeschana,“ an die Reihe. Namentlich Samstag abends pflegen sich in den größeren Gesinden (d.h. Bauernhöfen) die Mägde, bevor und nachdem sie die Badestube besucht, zu versammeln. Die eine strickt oder näht, die andere stickt oder spinnt – und es werden

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Victor von Andrejanoff: Lettische Volkslieder und Mythen. Otto Hendel, Halle a.d.S. 1896, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AndrejanoffLettischeVolkslieder.pdf/9&oldid=- (Version vom 22.8.2016)