Seite:Anmerkungen übers Theater.pdf/15

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an, aber mit alledem, wenn die Camera obscura Ritzen hat –

So weit sind wir nun. Aber eine Erkenntniß kann vollkommen gegenwärtig und anschaulich seyn – und ist deswegen doch noch nicht poetisch. Doch dies ist nicht der rechte Zipfel, an dem ich anfassen muß, um –

Wir nennen die Köpfe Genies, die alles, was ihnen vorkommt, gleich so durchdringen, durch und durch sehen, daß ihre Erkenntniß denselben Werth, Umfang, Klarheit hat, als ob sie durch Anschaun oder alle sieben Sinne zusammen wäre erworben worden. Legt einem solchen eine Sprache, mathematische Demonstration, verdrehten Karakter, was ihr wollt, eh ihr ausgeredt habt, sitzt das Bild in seiner Seele, mit allen seinen Verhältnissen, Licht, Schatten, Kolorit dazu.

Diese Köpfe werden nun zwar vortrefliche Weltweise was weiß ich, Zergliederer, Kritiker – alle ers – auch vortrefliche Leser von Gedichten abgeben, allein es muß noch was dazukommen, eh sie selbst welche machen, versteh mich wohl, nicht nachmachen. Die Folie, Christlicher Leser! die Folie, was Horatz vivida vis ingenii,[WS 1] und wir

Begeisterung, Schöpfungskraft, Dichtungsvermögen, oder lieber gar nicht nennen. Den

Anmerkungen (Wikisource)

  1. nicht Horaz, sondern Lukrez, De rerum natura I, 72. Das Zitat heißt richtig: „ergo vivida vis animi pervicit …“ – „daher hat die lebendige Kraft seines Geistes gesiegt“.
Empfohlene Zitierweise:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Anmerkungen übers Theater. Weygandsche Buchhandlung, Leipzig 1774, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Anmerkungen_%C3%BCbers_Theater.pdf/15&oldid=- (Version vom 31.7.2018)