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Walther Kabel: Arktische Reizbarkeit. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1913, Bd. 9, S. 206–208

Gemütskrankheit. Fast sämtliche Nordpolfahrer berichten über diese furchtbare Geißel, die in dem eisstarrenden Halbdunkel der Polarländer nur zu leicht heraufbeschworen wird. Höchst wahrscheinlich sind die Zerwürfnisse auf der Südpolexpedition des Oberleutnants Filchner ebenfalls auf „arktische Reizbarkeit“ zurückzuführen.

Es handelt sich um einen Zustand krankhafter Erregbarkeit, der sich häufig bis zu förmlichen Wutanfällen, ja selbst bis zum Wahnsinn steigert. Als Ursachen der Erkrankung hat man hauptsächlich die völlig veränderte Lebensweise an Bord der Expeditionsschiffe und das Bedrückende des Polarlandschaftsbildes mit seiner schaurigen Stille und Eintönigkeit zu betrachten. Gegen diese „arktische Reizbarkeit“ gibt es nur ein Mittel: stete Arbeit und Zerstreuungen.

Man lese in Nansens „In Nacht und Eis“ nach, durch wie verschiedenartige Mittel der kühne Forscher immer wieder den Geist seiner Gefährten zu beeinflussen, sie zu erheitern suchte, alles nur, um das Gespenst der nervösen Gereiztheit von Bord der „Fram“ zu bannen. Nansen glückte dies. Andere Leiter von Nordpolexpeditionen, die sich für den Seelenzustand ihrer Mannschaft weniger besorgt zeigten, wissen von wilden Schreckenszenen zu erzählen, die aus der nichtigsten Veranlassung entstanden.

So entwickelte sich im Mai des Jahres 1832 an Bord der vom Eise eingeschlossenen „Victory“, mit der der Engländer John Roß den magnetischen Nordpol entdeckte, eine Schlägerei zwischen den Expeditionsteilnehmern, bei der drei Leute den Tod fanden. Und die Ursache? Der Matrose Booth war auf Deck ausgeglitten, über die Reling in einen Schneehaufen gefallen und darob von seinen Kameraden ausgelacht worden. Wutschnaubend ergriff er eine Walfischharpune und stieß sie dem Nächststehenden in den Leib. Schnell bildeten sich zwei Parteien, und wenige Minuten später gab es drei Tote an Bord.

Ähnliche Vorfälle haben sich bei allen Polarexpeditionen abgespielt. Am schrecklichsten aber erging es den Leuten des Robbenfängers „King Edward“, der 1897/98 sieben Monate lang an der grönländischen Küste im Eise lag. Das Schiff war reich verproviantiert, und die Mannschaft lebte herrlich und

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Walther Kabel: Arktische Reizbarkeit. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1913, Bd. 9, S. 206–208. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1913, Seite 207. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Arktische_Reizbarkeit.pdf/3&oldid=- (Version vom 31.7.2018)