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Walther Kabel: Arktische Reizbarkeit. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1913, Bd. 9, S. 206–208

in Freuden. Der Kapitän, ein Trunkenbold, kümmerte sich um nichts, sondern ließ jeden nach Belieben schalten und walten.

Durch die spätere Verhandlung vor dem Londoner Seegericht wurden nun die folgenden grauenhaften Vorgänge festgestellt. Am 4. Dezember 1897 brach in der Mannschaftskajüte beim Kartenspiel Streit aus, der jedoch durch den Steuermann beigelegt wurde. Trotzdem begab sich der anscheinend wieder völlig ruhig gewordene Matrose Perkins in seine Koje, holte sich einen Revolver und schoß den Steuermann, den Schiffsjungen und den Koch kaltblütig über den Haufen. Die beiden ersteren starben noch an demselben Tage, der Koch, der nur an der Schulter verletzt war, genas nach längerem Krankenlager. Der Attentäter wurde in Eisen gelegt. Zwei Tage darauf schlug ein anderer Matrose dem Kapitän mit einer Eisenstange über den Kopf, weil er angeblich eine zu kleine Portion Tabak erhalten hatte, und entfloh dann in die Eiswüste hinein. Er wurde trotz eifrigen Suchens nicht wieder aufgefunden. Am Weihnachtsabend beschuldigte der Bootsmann, ein Deutscher, einen Matrosen, absichtlich ein Licht seines kleinen, aus Besenreisern hergestellten Tannenbäumchens ausgelöscht zu haben. Der Matrose griff, ohne ein Wort zu sagen, zum Messer und stieß es dem Deutschen ins Herz.

Kurz bevor der „King Edward“ dann vom Eise freikam, brach bei dem inzwischen wiederhergestellten Schiffskoch der Wahnsinn aus: er versuchte das Fahrzeug in Brand zu stecken und mußte, da er in Tobsucht verfiel, in einer kleinen Kabine gefesselt mit nach der Heimat genommen werden. Als der Walfischfänger in London im Juni 1898 eintraf, führte er als Besatzung außer dem Kapitän nur noch drei gesunde Leute.

Das Seegericht nahm eine strenge Untersuchung vor. Die beiden Mörder wurden jedoch freigesprochen, da der Verteidiger geltend machte, die bisher unbestraften Angeklagten hätten im Wahnsinn die Verbrechen verübt: arktische Reizbarkeit. Dem Kapitän aber entzog man das Patent als Schiffsführer mit der Begründung, es sei seine Pflicht gewesen, sich auch um die seelische Verfassung seiner Leute zu bekümmern, und dies habe er in sträflichster Weise vernachlässigt.

W. K.
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Walther Kabel: Arktische Reizbarkeit. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1913, Bd. 9, S. 206–208. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1913, Seite 208. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Arktische_Reizbarkeit.pdf/4&oldid=- (Version vom 31.7.2018)