Seite:Armenien und Europa. Eine Anklageschrift.pdf/104

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

unternehmen, denn wir könnten wieder angegriffen werden.“ Ein türkischer Knabe hat zu den Christen gesagt: „Ich sagte euch vorigen Herbst, was geschehen würde, und ihr glaubtet mir nicht. Jetzt fangt ihr an, eure Felder zu bestellen, aber ich sage euch, eure Arbeit wird vergeblich sein.“

Von allen Seiten kommen dieselben Berichte. Aus der Gegend von Palu hört man Gerüchte von neuem, wachsendem Schrecken. In den Dörfern von Aghun bedrohen die Türken wieder die Einwohner. Die Christen fühlen, daß es keine Sicherheit für sie giebt, und sie haben keinen Mut, die Hände ans Werk zu legen. Ich fragte: „Was werdet ihr im Winter anfangen, wenn ihr euch kein Obdach während des Sommers errichtet?“ Sie antworteten: „Wir werden sterben. Wir haben Alles verkauft, was uns geblieben war. Unsere Hilfsmittel sind erschöpft. Wenn uns nicht geholfen wird, werden wir sterben.“ Sogar in den Dörfern bei Charput, in Keserik, Morenik und andern wird nichts gebaut. Die Leute sagen: „Wenn uns keine Hilfe wird, so werden wir versuchen, aus dem Lande zu entfliehen.“

Wir suchen sie zum Bauen zu ermuntern, aber wir können ihnen kein Geld für Bauholz anbieten; wir dringen in sie, ihre Felder zu bestellen, aber wir können ihnen kein Vieh geben. Die Herbstsaaten gingen unbeachtet auf, und die Frühlingssaat ist nicht gesäet worden. Soweit Menschen sehen können, ist es wahrscheinlich, daß diejenigen, die im vorigen Winter dem Tode entronnen sind, im nächsten Winter sterben müssen, wenn ihnen keine dauernde Hülfe gebracht wird.

Unsere Unterstützungen haben einfach das Volk am Leben erhalten. Wie nah sie dem Verhungern gekommen sind, können Sie aus einem andern Dorf erfahren, was ich heute besucht habe, aus Korpey.

Es bestand früher aus 150 Häusern, von denen vielleicht 15 stehen geblieben sind; die andern sind gänzlich zerstört. Nur die Mauern zeigen, welch schönes Dorf es früher war. Die Leute gehen in Lumpen; es sind keine Betten da, außer in 12 Häusern. Den ganzen Winter haben sie ohne Decken auf dem Fußboden geschlafen. Die Spitzen aller Bäume um das Dorf sind abgehauen worden, so daß nur die bloßen Stämme geblieben sind. Die Dorfbewohner haben im Winter die Aeste abgehauen, um sie in der Stadt gegen Lebensmittel zu verhandeln. Weder Schafe, noch Vieh ist vorhanden, nur zwei Hunde sind noch da. In den Häusern fand ich weder Korn,

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/104&oldid=- (Version vom 31.7.2018)