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und keine Betten, keine Küchengeräte zu finden – an einer Stelle sah ich, daß eine alte Petroleumkanne zum Kochen gebraucht wurde – die Häuser waren leer. In Aschwan fand ich fast in jedem Hause ein wenig Speisevorrat, einige Handvoll Mehl oder Mais, aber nur so viel, um höchstens zwei Tage davon zu leben.

Wir haben sie während des Winters am Leben erhalten. Wenn Sie uns keine Hilfe geschickt hätten, so müßten Tausende umgekommen sein. Aber was mich tiefer bewegt als die thatsächliche Not, ist die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage, wenn keine dauernde Hilfe gebracht wird. Besonders ist Vieh nötig. Das Pflügen für die Herbstsaat muß jetzt vorgenommen werden, so lange noch Feuchtigkeit im Boden ist. Wenn der Boden ausgetrocknet und hart ist, können sie nicht pflügen. Wenn sie nicht pflügen, so werden sie im nächsten Jahr keine Ernte haben, und in vielen Dörfern wird das Land den Christen genommen werden. Im Dorfe Aschwan sah ich, daß Türken und Kurden aus den Nachbardörfern kamen und die Felder pflügten. Einige nahmen das Land mit Gewalt, andere haben es von den Besitzern, die es denjenigen überlassen, die Vieh haben, um es zu bebauen. Wenn die Christen ihre Güter verlieren, so ist es nur eine Frage der Zeit, wenn sie den Türken und Kurden auch ihre Häuser geben müssen, um in die Stadt zu ziehen, wo sie von Almosen leben, oder sterben müssen.

In dem Gebiet von Charsandjak werden die Christen in Scharen von den Landeigentümern ausgewiesen. Um Gottes willen bringen Sie das Komitee dazu, dies zu bedenken, und uns, wenn es möglich ist, Hülfe zu schicken!

Manchmal bin ich versucht, alles liegen zu lassen und nach Konstantinopel und von dort nach Europa zu gehen, um es den Leuten klar zu machen, wie verzweifelt die Lage ist. Ich habe acht Dörfer besucht, und die Augen sind mir geöffnet worden, aber wie können Leute das verstehen, die tausend Meilen von uns entfernt sind? Sollte man diese Sache nicht endlich ernstlich erwägen? Mein Herz ist schwer und ich kann den Druck des Mangels und des Elends, dem ich keine Abhilfe schaffen kann, kaum ertragen. Als ich neulich durch ein Dorf kam, kamen alle Einwohner auf die Straße, und riefen weinend: „Wir sind hungrig, hungrig, hungrig“, als wir weiterritten. Dieser Ruf verfolgt mich. Ich habe ihnen etwas Hilfe geschickt, um

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/106&oldid=- (Version vom 31.7.2018)