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auch beträchtliche Summen, die dem armenischen Patriarchen zur Verfügung gestellt werden, zur Organisation einer umfassenden Hilfeleistung verwendet. Die Verteilung geschieht durch die von den amerikanischen Missionen, im Verein mit den armenischen Bischöfen geleiteten 22 Centralstationen, die ein Netz von Hilfsstationen über ihre Distrikte ausgebreitet haben. Es werden überall Listen von den Allerbedürftigsten aufgestellt und sorgfältig durch Komitees von Protestanten und Gregorianern geprüft. Jede Person, von der man annimmt, daß sie fortkommen kann, ohne Hungers zu sterben, wird gestrichen. Das Geld wird mit der größten Sorgfalt verteilt und in kleinen Beträgen den einzelnen übergeben, nur gerade genug, um sie am Leben zu erhalten. Gegen 300 000 Menschen wurden bisher unterstützt und vom Hungertod gerettet.

Aber die Gaben aus England und Amerika haben im Laufe des Sommers in erschreckender Weise nachgelassen. Die Folgen der europäischen Politik, für die es eine Hungersnot in Armenien nicht geben darf, haben sich auch hier geltend gemacht. Obwohl die Hilfskomitees mit der allergrößten Sorge dem kommenden Winter entgegensehen – für die Verteilung von Kleidern und Betten hat bei der Größe der Hungersnot noch wenig, für den Aufbau der Hunderttausende von zerstörten Häusern nichts geschehen können – obwohl sie der ungeheuren Größe der Not ratlos und verzweifelnd gegenüberstehen, so erlahmt doch auch in dem christlichen England und Amerika die bisherige Opferfreudigkeit.

Es ist an der Zeit, daß das evangelische Deutschland seine Pflicht thut und in die Lücke einspringt. Die Gerechtigkeit gebietet es zu sagen, daß die katholische Kirche und das katholische Volk in Frankreich, Italien, Oesterreich und auch Deutschland, dank der Haltung der katholischen Presse, es an Unterstützung der katholischen Armenier und der stark geschädigten katholischen Missionen in Armenien nicht hat fehlen lassen. Der Papst hat 50 000 Lira gespendet, in Frankreich hat der Generaldirektor des „Oeuvre d’Orient“ P. Felix Charmetant, schon im März des Jahres durch die Publikation „Martyrologe Armenien“ die französischen Katholiken aufgerufen. In Oesterreich haben die armenischen Mechitaristen-Brüder unter den Auspicien des Kaisers Franz Josef einen Aufruf erlassen. Auch die evangelischen Kirchen in andern Ländern, wie in Holland und der Schweiz

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/112&oldid=- (Version vom 31.7.2018)