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nur einer von den beliebten Späßen, mit denen die Hohe Pforte die europäische Diplomatie dann und wann zum besten hat. Im Gegenteil, die Kurden, die wohl wissen, wie ihnen das Herz des Beherrschers der Gläubigen gewogen ist, werden in dieser Auszeichnung ihrer Kameraden nur eine Belohnung ihrer in den letzten Monaten geleisteten Dienste und eine Ermunterung zur Fortsetzung ihrer Schandthaten erblicken.

Daß es aber in Armenien nicht zur Ruhe kommt, dafür werden die Kurden so wie so schon sorgen. Nur wird, da bei der christlichen Bevölkerung nichts mehr zu holen ist, die türkische an die Reihe kommen. Es giebt eine hübsche Aesop’sche Fabel: Ein Schafhirt fand einst das Junge eines Wolfes, zog es auf und lehrte es nach einer Weile Lämmer benachbarter Herden zu stehlen. Der Wolf bewies sich als ein gelehriger Schüler und sagte zu dem Hirten: Seit du mich stehlen gelehrt hast, mußt du ein scharfes Auge darauf haben, daß nicht von deiner eigenen Herde etwas fortkommt. Die türkische Regierung mag immerhin ein Auge haben auf die Kurden, die sie angestellt hat die Christen zu plündern. Da aber diese gelehrigen Wölfe noch obendrein so klug sind, sich mit den Schäferhunden, den türkischen Soldaten und Gendarmen unter eine Decke zu stecken, wird sie wohl das Nachsehen haben.

Das schlimmste Resultat der Vernichtungspolitik der Pforte ist aber die Aufstachelung des muhammedanischen Fanatismus, der aus den Ereignissen der letzten Monate gelernt hat, daß er sich straflos in Christenblut baden darf, und daß das christliche Europa von einer Christenverfolgung im Morgenland ungefähr soviel Notiz nimmt wie von einem Mondwechsel. Auch der Türke weiß nun, daß die Zeitalter der Kreuzzüge tempi passati sind, und daß die Herzen der Diplomaten von keinerlei romantischen Empfindungen mehr beseelt werden. „Wir Muhammedaner“, sagte ein Moslem, „sind Sand in die Augen der Welt. Der Sultan läßt alle Armenier abschlachten und Europa wagt nicht den Finger aufzuheben.“ Wer in den letzten Monaten den Orient bereist hat, wird sich, wenn anders er einen Einblick in die Stimmung der muhammedanischen Bevölkerung gewonnen hat, davon überzeugt haben, daß her Hochmut der Moslems keine Grenzen mehr kennt und davon träumt, sich nächstens aller Christen, die unter muhammedanischer

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/117&oldid=- (Version vom 31.7.2018)