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starker Majorität sind, günstiger; aber steht nicht die Revolutionierung der christlichen Bevölkerung in diesen Gebieten, die auch schon seit Jahrzehnten auf die von den Mächten garantierten Reformen warten müssen, in einem inneren Kausalzusammenhang mit der Aufrollung der armenischen Frage? Werden, nach allem was vorgekommen ist und noch geschieht, die Großmächte ihre Vogel-Strauß-Diplomatie und England insbesondere seine dog-in-manger Politik aufrecht erhalten können? Harmlose Gemüter sind zwar der Meinung, daß wenn erst die klugen Paschas am goldenen Horn, die eben so ängstlich um die Aufrechterhaltung des Weltfriedens besorgt zu sein scheinen, als die europäische Diplomatie, es fertig gebracht haben, die christlichen Großmächte als Polizeimannschaft zur Herstellung der Ordnung auf Kreta anzustellen, binnen kurzem die orientalische Frage, um einige papierene Verträge bereichert, wieder ad acta gelegt werden wird, und die offiziöse Presse sorgt dafür, daß die Harmlosigkeit in der Beurteilung der Dinge, die im Orient geschehen, nicht ausstirbt.

Man hat nur eins vergessen, daß in Armenien, trotz der Blutabzapfung von reichlich 1/8 alles Christenblutes immer noch ein armenisches Volk von ca. 700 000 Seelen existiert. Was soll aus diesem Volk werden? Vielleicht empfindet es die europäische Diplomatie als eine Erleichterung, daß 500 000 von diesen am Hungertuche nagen und dadurch die Gefahr einer revolutionären Erhebung der Armenier und einer Bedrohung des Weltfriedens im Vergleich mit den Zuständen vor den Massacres bedeutend abgeschwächt ist. In der That, wenn nicht andere Eventualitäten eintreten, ist von dem ausgeplünderten Bettlervolk, dem ja auch Europa, wie es schon die Türken thun, eine Handvoll Kupfermünzen hinwerfen kann, nichts mehr für den Weltfrieden zu fürchten. Aber warum soll dieses Volk zu einem Akt der Verzweiflung, denn zum Tode ist es ja doch verurteilt, nicht mehr fähig sein? Wahrlich, an dem Willen, noch mit letzter Anstrengung an ihren grausamen Schlächtern Rache zu nehmen, würde es vielleicht nicht fehlen. Bevor die europäische Politik eine „armenische Frage“ schuf, gab es in Armenien selbst eine solche nicht, und selbst in den letzten Jahren bis zu dem Ausbruch der Massacres wußte die große Masse der Bevölkerung, wenn sie auch von den versprochenen Formen etwas hatte lauten hören, nichts von einem Streben nach Abschüttelung des türkischen Joches. Aber die türkische

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 117. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/119&oldid=- (Version vom 31.7.2018)