Seite:Armenien und Europa. Eine Anklageschrift.pdf/12

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

bis zum 21. Juli in Musch, fünf bis zehn Stunden vom Schauplatz des Massacres entfernt und begnügte sich in weiser Beschränkung damit, unter Zurückweisung der von den Delegierten präsentierten christlicher Zeugen, in hundert und acht Sitzungen türkische Zeugen, die zuvor über die Aussagen instruiert waren, zu verhören und auf solche Weise die Schuld der „armenischen Briganten“ zu erhärten. Zeugen, die etwas Gegenteiliges aussagten, büßten ihre Unvorsichtigkeit mit sofortiger Ueberführung ins Gefängnis. Die Konsular-Delegierten verzichteten endlich darauf, dieser Farce noch weiter zu assistieren, begaben sich in das Sassungebiet und stellten auf eigene Faust die genugsam bekannten entsetzlichen Thatsachen und die Schuldlosigkeit der friedlichen armenischen Bevölkerung fest.

Wir sind im Begriff, in die Untersuchung nicht eines, sondern hunderter von Massacres, die seit Oktober vorigen Jahres ununterbrochen bis zu diesem Tage in Armenien stattgefunden, einzutreten. Wir ziehen es aber vor, nicht das löbliche Beispiel der türkischen Kommission zu befolgen, sondern uns europäischer Gepflogenheit anzuschließen. Wir begeben uns daher zuerst auf den Boden der Thatsachen und werden in die quaestio juris erst eintreten, wenn unsern Leser in der Lage sind, sich über die quaestio facti ein Urteil zu bilden. Also die Thatsachen.

Nach monatelangem Drängen der christlichen Großmächte, insbesondere Englands, Frankreichs und Rußlands, die seit siebzehn Jahren den armenischen Provinzen versprochenen Reformen endlich in Ausführung zu bringen, entschloß sich der Sultan im Herbst vorigen Jahres, seinen Widerstand gegen den vereinten Druck der Mächte aufzugeben und den ihm von den Mächten aufoktroyierten Reformplan für die sechs armenischen Provinzen Erzerum, Bitlis, Wan, Mamuret-ul-Aziz (Charput), Diarbekir und Sivas anzunehmen. Um die drohende Sprache Englands zu beschwichtigen, gab der Sultan überdies in einem Schreiben an Lord Salisbury sein Wort darauf, daß die Reformen buchstäblich und unverzüglich ausgeführt werden würden.

Am 30. September 1895 wünschten die Armenier der Hauptstadt Konstantinopel dem Drängen der Mächte auf Einlösung der Versprechungen des Berliner Vertrages dadurch Nachdruck zu geben, daß sie dem Großvezier eine Petition überreichten, in der die Klagen und Forderungen des armenischen Volkes niedergelegt waren. Ein Zug

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/12&oldid=- (Version vom 31.7.2018)