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nachdem die Maßregeln der Pforte die Ausführung derselben de facto unmöglich gemacht haben, eine unwürdige Farce ist. Oder meint man wirklich noch, daß die Pforte, was sie auf dem Papier bewilligt, in Armenien durchzuführen gedenkt? Wie soll sie das machen? Sollen dieselben Beamten, unter deren Mitwirkung die Besten des armenischen Volkes totgeschlagen wurden, die überlebenden Bettler dazu einladen, neben ihnen in den Verwaltungsräten der Vilajets und Sandjaks und den Gemeinderäten der Nahies Platz zu nehmen? Sollen die Vorsitzenden der Gerichtshöfe, die in einem summarischen Verfahren Tausende von Armeniern in die Gefängnisse geworfen und zum Tode verurteilt haben, den „armenischen Briganten,“ wie sie die Pforte zu nennen liebt, in den Richterkollegien Sitz und Stimme geben? Sollen die Zaptiejs, die dazu angestellt wurden, die friedliche Bevölkerung armenischer Dörfer wie Diebsnester auszuheben und ihre Habe wie gestohlenes Gut an sich zu nehmen, nun dieselben Armenier als ihre Kollegen willkommen heißen und sie die Pflichten der Wächter der Ordnung lehren? Will man die kurdischen Wölfe, wie unlängst mit der Uniform der Hamidieh-Truppen, so jetzt mit Schafpelzen bekleiden und sie lehren, mit den armenischen Schafen in einem Stall zu wohnen? Da wird man besser thun, solange wenigstens die türkischen Paschas im kaiserlichen Serail und in den Provinzen regieren, die Zeit abzuwarten, wo die Löwen Stroh fressen werden wie die Ochsen, und Kühe und Bären miteinander auf die Weide gehen werden. Nein, solange das gegenwärtige Régime besteht, ist es mit den armenischen Reformen ein für allemal aus, und darum noch einmal die Frage: Soll die Pforte den Triumph behalten, sechs Großmächte auf einmal düpiert zu haben?

Zweitens: Was gedenken die Mächte zu thun, damit das Opfer ihrer Politik, das arme ausgeplünderte Armenien, wieder zu seinem Hab und Gut, und zu einem menschenwürdigen Dasein kommt? Sie könnten es ja so machen wie im vorigen Jahre nach dem Massacre von Sassum: Kommissionen einsetzen, Protokolle aufnehmen und diplomatische Noten schreiben. Es würde allerdings notwendig sein, für die Botschaften und auswärtigen Aemter neue Aktenschränke zu beschaffen. Es würde auch mit einer Kommission wie bei dem Massacre von Sassum nicht gethan sein, sondern mindestens zweihundert dazu nötig sein. Statt 108 Protokollen, wie bei dem genannten Präzedenzfall, würden 21.600 Protokolle erforderlich

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 120. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/122&oldid=- (Version vom 31.7.2018)