Seite:Armenien und Europa. Eine Anklageschrift.pdf/123

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

sein, und die diplomatische Korrespondenz, die in dem englischen Blaubuch über Sassum für eine Großmacht allein 267 Nummern aufwies, würde für sechs Großmächte, das Schreibwerk der Pforte noch garnicht gerechnet, auf 320.400 Schriftstücke anschwellen müssen. Warum soll die gewissenhafte Gründlichkeit, die man für die Untersuchung eines Massacres erforderlich erachtete, bei einigen hundert von Massacres nicht angebracht sein? Oder gedenken die Großmächte, nachdem sie die Mücke von Sassum geseiht haben, die Kameelkarawane der armenischen Massacres zu verschlucken? – Also, was gedenken die Mächte für die Opfer ihrer Politik zu thun?

Drittens: Was soll aus den sechshundert bis tausend Dörfern werden, die zwangsweise zum Islam bekehrt wurden? Was aus den Hunderten von christlichen Kirchen, die gegenwärtig als Moscheen dienen? Wollen die Mächte, wie sie einst die Pforte in das Konzert der europäischen Großmächte aufnahmen, nun auch den Islam als eine neue christliche Religionsgemeinschaft anerkennen? Dann brauchte von erzwungener Apostasie nicht mehr die Rede zu sein, und man könnte die Sache auf sich beruhen lassen. Es ist aber anzunehmen, daß die christliche Kirche dagegen protestieren würde. Was aber dann? Glaubt man wirklich, daß die muhammedanische Bevölkerung von Armenien etwa einem von den Diplomaten erwirkten Befehle Gehorsam leisten und den mit dem unaustilgbaren Zeichen der Beschneidung behafteten neuen Glaubensbrüdern wieder die öffentliche Ausübung des christlichen Kultus gestatten würde? Da sollten Diplomaten lieber erst bei einem Mollah in die Schule gehen und sich über die Vorschriften des Koran eine Vorlesung halten lassen. Es wäre der kürzeste Weg, noch weitere hunderttausend Armenier dem Tode auszuliefern, wenn man den Versuch machen wollte, ohne die Garantie einer europäischen Ueberwachung solcher Maßregeln die Rückkehr der zwangsweise konvertierten Bevölkerung zum christlichen Glauben und die Uebergabe der in Moscheen verwandelten Kirchen an den christlichen Kultus zu erzwingen. Also, was gedenken die Mächte in dieser Sache zu thun, um die Ehre der Christenheit gegenüber dem Triumph des Islam in retten?

Auf diese Frage eine Antwort zu geben, ist nicht unsere Sache, sondern wir appellieren an Herz und Gewissen christlicher Kaiser und Könige, die das ihnen von Gott anvertraute Schwert nicht umsonst

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 121. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/123&oldid=- (Version vom 31.7.2018)