Seite:Armenien und Europa. Eine Anklageschrift.pdf/126

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Katholiken, griechische Katholiken, Maroniten und Juden waren und die übrigen 40 000 türkische, kurdische und arabische Muhammedaner.

Wie Euer Excellenz wissen, haben zwei Massacres in Urfa stattgefunden, das erste am 28. und 29. Oktober, und das zweite oder große Massacre am 28. und 29. Dezember desselben Jahres. Die Ursachen, welche zu diesen Massacres führten, sind entferntere und näher liegende.

Die Haltung der türkischen Regierung in der armenischen Frage war seit dem letzten russisch-türkischen Krieg darauf angelegt, mit einer solchen furchtbaren Katastrophe zu endigen, wie sie kürzlich über das armenische Volk und die Regierung des Sultans hereinbrach. Seit 12 oder 15 Jahren hat der Widerstand der letzteren gegen die Ausführung der in den Verträgen für die armenischen Provinzen versprochenen Reformen eine Anzahl Armenier zur Verzweiflung getrieben, so daß sie ihre Zuflucht zu revolutionären Plänen nahmen. Anstatt zwischen den Schuldigen und Unschuldigen zu unterscheiden, zogen es die ottomanischen Beamten vor, teils aus Unwissenheit, größtenteils aber aus Beweggründen persönlichen pekuniären Vorteils, alle Armenier als Verräter anzusehen, die nichts anderes im Sinn hätten, als das ottomanische Joch abzuwerfen. Wie es gewöhnlich im Orient geht, wenn die Central-Regierung sich derselben Meinung angeschlossen hat, wurde die Thatsache förmlicher Auflehnung einzelner Armenier verworren und begraben in einer Masse von aufgebauschten Beschuldigungen, vorgeblichen aufrührerischen Dokumenten und imaginären Berichten mit Listen von revolutionären Komitees, die von allen Seiten regneten, sobald von der Central-Regierung ein dahingehender Wunsch empfunden wurde. Türkische Beamte und einflußreiche Muhammedaner brachten solche Vorstellungen in verbrecherischer Weise unter die unwissende und urteilslose Masse der muhammedanischen Bevölkerung, die sich in ihrer allgemeinen Handlungsweise durch die Vorschriften des Scheri-Gesetzes leiten ließ. Dieses Gesetz schreibt vor, daß, wenn die Rayahs (Christen) versuchen, bei fremden Mächten Schutz (Dekhalet) zu suchen, die Grenzen ihrer Privilegien (Berat), die ihnen von ihren muhammedanischen Herren gesteckt sind, zu überschreiten, und sich selbst aus ihrer Gebundenheit zu befreien, ihr Leben und Eigentum verwirkt ist, und sie der Gnade der Muhammedaner verfallen sind. Nach der Meinung der Türken haben die Armenier durch Anrufung der fremden

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/126&oldid=- (Version vom 31.7.2018)