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In dem Augenblick, als die erwähnten Schüsse abgefeuert wurden, sah man den Kommandeur Nazis Pascha sich zurückziehen mit einer Geste, die die Menge ermunterte. Es wurde später bekannt, daß, als die ersten Schüsse fielen, er ausrief: „Eine Martini-Kugel hat soeben meinen Kopf gestreift; die Armenier schießen auf mich. Geht hin und zahlt es ihnen heim!“ während mir durch gute muhammedanische Zeugen versichert wurde, daß die erwähnten Schüsse nicht von Armeniern, sondern von Moslems abgefeuert wurden.

Die Reservetruppen, die das armenische Quartier gut kannten, unter welchem sie die beiden vorhergehenden Monate Wache gestanden hatten, dienten sowohl als Führer als auch als Avantgarde und wurden begleitet von einem Trupp von Waldarbeitern von den benachbarten Bergen, mit der Axt in der Hand. Die letzteren brachen die Thüren ein, worauf die Soldaten hineinstürmten, indem sie ihre Martini-Gewehre auf die armenischen Männer abfeuerten, von denen sie einen gewissen Widerstand erwarteten. Diese hatten jedoch alle ihre Waffen abgegeben und konnten in ihrer schrecklichen Lage nichts anders thun, als in äußerster Angst um ihrer Frauen und ihrer Kinder und um des Propheten Jesu willen um Gnade bitten. Mit Schimpfworten wurden sie einer nach dem andern aus ihren Verstecken hervorgezogen und brutal abgeschlachtet. In vielen Fällen hatten sich 15 bis 20 Mann in den größeren Häusern, die mehr Schutz zu gewähren schienen, versammelt. Sie wurden einer nach dem andern herausbefördert und von den Mördern schleunigst umgebracht. In dem Hause, welches dem des protestantischen Pastors benachbart ist (dieser selbst wurde erschlagen und ließ sechs Waisen zurück), wo ich während meines Aufenthaltes hier abgestiegen bin, wurden auf diese Weise 40 Männer erschlagen. Ein gewisser Scheikh befahl seinem Gefolge, so viel als möglich kräftige, junge armenische Leute zusammenzubringen. Diese wurden, ungefähr 100 an der Zahl, auf ihren Rücken geworfen, an Händen und Füßen festgehalten, während der Scheikh in einer Verbindung von Fanatismus und Grausamkeit sich daran machte, indem er Koranverse rezitierte, ihre Hälse durchzuschneiden nach dem Ritus, mit dem man in Mekka die Schafe schlachtet.

Viele armenische Männer versteckten sich in der Tiefe von Cisternen in der Hoffnung, ihren Verfolgern zu entrinnen. Aber die letzteren warfen Krüge und Steine hinunter, schossen mit Revolvern hinab

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 134. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/136&oldid=- (Version vom 31.7.2018)