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sie diese abgethan und einige junge Frauen beiseite gebracht hatten, plünderten sie den Kirchenschatz, die Schreine und heiligen Gerate im Werte von etwa 4000 türk. Pfd., zerstörten die Gemälde und Reliquien, indem sie höhnisch Christus anriefen, er möge nun beweisen, daß er ein größerer Prophet sei als Muhammed. Eine mächtige, teils aus Stein, teils aus Holz gearbeitete Empore, die rings um den Oberteil der Kathedrale lief, war vollgepackt mit einer Masse von entsetzten Frauen und Kindern mit nur einigen Männern. Etliche vom Pöbel sprangen auf die erhöhte Plattform des Altars und begannen auf dieselben mit Revolvern zu schießen. Als aber dieser Prozeß zu langwierig wurde, besannen sie sich auf die praktische Methode, die angewendet worden war bei denjenigen, die sich in die Cisternen geflüchtet hatten. Sie brachten einen Haufen von Betten und Kirchenmatten zusammen, gossen einige dreißig Kannen Kerosin darauf, sowie auch auf die im Schiff liegenden Leichen und zündeten dann das Ganze an. Die Balken und das Holzwerk der Emporen fingen bald Feuer, worauf noch die zu den Emporen hinaufführenden Treppen mit gleichem Brennmaterial blockiert, und sodann die ganze sich windende Menschenmasse als eine Beute der Flammen zurückgelassen wurde. Mehrere Stunden lang erfüllte der Geruch von bratendem Menschenfleisch die Stadt, und noch heute, 2½ Monate nach dem Massacre, ist der Geruch faulender und verkohlter Ueberbleibsel in der Kirche unerträglich. Halb 4 Uhr nachmittags zur Stunde des Akindi-Namaz-Gebetes wurde wiederum die Trompete geblasen, und der Pöbel zog vom armenischen Quartier ab. Kurz darauf machten der Mufti und andere Notable unter Vorantritt von Musik, bei der sich viele Blechinstrumente des Militärs befanden, eine Prozession rund um das Quartier, indem sie verkündeten, das Massacre sei nun zu Ende („paydoss“), und sie würden keinen Christen mehr töten. Die nächsten drei Tage beschäftigte man sich damit, die Leichname wegzubringen, indem zu diesem Zweck von den Behörden die Juden und die Esel requiriert wurden. Den Christen wurde nicht erlaubt, die Kirche zu betreten, die jetzt eine Ruine ist. Die Aufräumung der Trümmer wurde durch das Militär besorgt, welches, wie man berichtet, große Mengen von geschmolzenem Gold und Wertsachen auffand, die die Armenier an sich versteckt hatten in der vergeblichen Hoffnung, daß die Kathedrale als ein Heiligtum angesehen werden würde.

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 136. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/138&oldid=- (Version vom 31.7.2018)