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Das Massacre war ausschließlich anti-armenisch; kein Unterschied wurde gemacht zwischen Gregorianern, Protestanten und römischen Katholiken. Die Kirche der letzteren wurde völlig geplündert. Von 300 jakobitischen Familien wurden nur 40 Personen und außerdem ein griechischer Katholik getötet. Zwei oder drei Chaldäer wurden noch verwundet. Die Gründlichkeit, mit der die Arbeit gethan wurde, kann man aus der Thatsache ersehen, daß 126 armenische Familien vollständig ausgerottet wurden, nicht ein Weib noch Kind ist von denselben übrig geblieben. Die Zahl der in dem Massacre getöteten Armenier zu berechnen, ist schwer; die offiziellen türkischen Register der früheren armenischen Bevölkerung und der jetzt übergebliebenen sind völlig unzuverlässig, da eine große Zahl, um der Besteuerung zu entgehen, nicht registriert waren, während einige unoffizielle türkische Schätzungen der armenischen Verluste die von den Armeniern selbst gegebenen weit überschreiten und offenbar übertrieben sind. Nach einer sehr sorgfältigen und mühevollen Untersuchung glaube ich, daß nahezu achttausend Armenier an den zwei Massacre-Tagen des 28. und 29. Dezember umgekommen sind, von denen 2500 bis 3000 in der Kathedrale getötet oder verbrannt waren. Ich würde aber nicht überrascht sein, wenn sich nachträglich herausstellen sollte, daß die Zahl von 9 oder 10 000 mehr der Wahrheit entspricht. Die Tausende von Witwen und die vielen Tausende von Waisenkindern und die übrig gebliebenen erwachsenen Männer befinden sich im äußersten Elend. Gegenwärtig ist die Zahl der Sterblichkeit infolge von mangelnder Sorge für die Verwundeten, von Hunger und Krankheit und allgemeinem moralischen und physischen Elend groß und wird noch größer werden. Der Verlust von Eigentum wird oberflächlich auf 150 000 bis 200 000 Pfd. Sterl. geschützt und ist noch schwerer zu berechnen. Die Mehrzahl hat thatsächlich alles verloren mit Ausnahme der Kleider, die sie anhatten, und die Behörden haben keinen ernstlichen Versuch gemacht, das geplünderte Eigentum wieder zurückerstatten zu lassen. Familien, die früher wohlhabend waren, sind nun an den Bettelstab gebracht und schämen sich Hilfe in Anspruch zu nehmen. Viele Kinder sind zu jung, um das Eigentum ihrer toten Eltern an Haus und Land zu reklamieren und zu verwalten, und ein großer Teil ist sicher für dieselben verloren. Ueberdies sind viele Muhammedaner, besonders Landleute, den Armeniern der Stadt stark verschuldet. Die Schulden

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 137. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/139&oldid=- (Version vom 31.7.2018)