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„Während im Laufe der letzten Jahre in allen armenischen Provinzen Feuer und Schwert in der gräßlichsten Weise wütheten und Hunderttausende von Armeniern teils hingeschlachtet, teils namenlosem Elend und dem Verderben preisgegeben wurden, erfreute sich unsere Provinz Waspurakan einer verhältnismäßigen Ruhe, obgleich besonders seit dem letzten Herbst die armenische Bevölkerung unter der Bedrückung und Verfolgung seitens der hiesigen türkischen Behörden mehr oder weniger zu leiden hatte. Niemand von uns konnte jedoch ahnen, welch’ schreckliches Loos unserem blühenden Lande Vorbehalten war.[1]

Die Kunde von den in den verschiedensten Gegenden Armeniens verübten Gräuelthaten erfüllte auch uns hier mit Schrecken und größter Besorgnis; wir schwebten in beständiger Gefahr und waren tagtäglich des Ausbruchs des muhammedanischen Fanatismus gewärtig. Zu wiederholten Malen gemachte Versuche seitens des türkischen Pöbels in unserer Stadt, eine allgemeine Erhebung gegen die Armenier ins Werk zu setzen, mißlangen nur durch die von dem thatkräftigen Vali Nazim Pascha rechtzeitig getroffenen umfassenden Vorsichtsmaßregeln.

Der allgemeine Fanatismus in den hiesigen türkischen Kreisen wurde noch mehr angefacht durch die Haltung des seit Januar d. J. hier eingetroffenen Kommissäre Saadeddin Pascha, der, als Spezialabgesandter des Sultans, angeblich als „Friedensstifter“ zu wirken die Aufgabe hatte. Als er nun im letzten Monat nach Konstantinopel zurückberufen wurde, weil er, höchstwahrscheinlich, den gewissenlosen Machthabern daselbst nicht scharf und rücksichtslos genug gegen die Armenier vorzugehen schien, suchte er durch die Beschleunigung der Ausführung seines bösen Planes seine Unentbehrlichkeit auf seinem Posten sowie seine Entschlossenheit und seinen dienstfertigen Eifer zu erweisen. Er ging selbst so weit, daß er den berüchtigten kurdischen Räuberchef Schekir, einen selbst von den türkischen Gerichten verurteilten Mann, als Gast bei sich aufnahm, zwei Tage lang bewirtete und mit allen Ehrenbezeugungen überhäufte. Saadeddin Pascha suchte schon von Anfang an, sich in alle Angelegenheiten der Civil- und Militärverwaltung zu mischen und sämtliche Geschäfte allmählich in seine Hände

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 146. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/148&oldid=- (Version vom 31.7.2018)
  1. Waspurakan bildet ein Hauptzentrum der armenischen Nation; die Zahl der hier lebenden armenischen Bevölkerung beläuft sich auf ca. 200,000 Seelen. (Anm. d. Uebers.)