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Volkswut und zum Beginn des von langer Hand wohlvorbereiteten Angriff auf die Armenier.

Es war Montag, der 15. Juni. Der Major Halim Effendi, der sich schon seiner Zeit durch seine Greuelthaten bei den Metzeleien in Sassun hervorgethan hatte, und dem die „polizeiliche Aufsicht“ sowie „die Sorge für die Aufrechterhaltung der Ordnung“ in dem hauptsächlich von Armenien, bewohnten Stadtteile Aigestan[1] anvertraut war, begab sich an der Spitze einer starken Truppenabteilung nach der Klor-Dar-Straße, woselbst angekommen er Halt machen und ohne weiteres auf die in einen panischen Schrecken geratene Menge auf der Straße Feuer zu geben befahl. Dies war das Zeichen zum Beginn des Gemetzels. Sofort eilten aus den türkischen Vierteln wilde Pöbelhaufen herbei, mit Flinten, Messern, Schwertern und Aexten bewaffnet; sie machten alle Armenier, die ihnen auf ihrem Wege begegneten, nieder, drangen in deren Häuser und begannen dort zu plündern, zu zerstören und niederzubrennen. Das Morden und Zerstören dauerte den ganzen Tag. Die armenischen Stadtteile Klor-Dar, Arark, Haikawang, Thorman, Pos-Dagh, Tschawurme, Surp-Hagog und Noraschen wurden fast gänzlich zerstört. Die Zahl der Opfer belief sich auf etwa 800 Seelen, und zwar durchweg männlichen Geschlechts, während Frauen und Mädchen in der bestialischesten Weise geschändet und zum großen Teil in die Harems weggeführt wurden. Viele flüchteten sich in die Wohnungen einflußreicher Türken, in der Hoffnung ihr Leben zu retten; ungefähr 100 solcher Flüchtlinge, die bei dem hiesigen Bürgermeister Temür-Zade Halil Pascha Schutz gesucht hatten, wurden nach zwei Tagen hinausgeführt und einzeln abgeschlachtet. Die Geistlichen: Pater Dr. Daniel und Priester Mesrop fanden bei diesem gräßlichen Gemetzel auch einen entsetzlichen Tod: Letzterer wurde lebendig geschunden, ersterer dagegen auf der Straße erschlagen, sein Leichnam durch die Straßen geschleift und schließlich in eine Kotgrube geworfen.

Die Nacht verlief ruhig. Am anderen Morgen, den 16. Juni,

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 148. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/150&oldid=- (Version vom 31.7.2018)
  1. Die Stadt Wan besteht aus der sog. Innern Stadt, welche von einer Mauer umgeben ist und an deren nördlicher Seite auf einer Bergspitze die uralte Semiramis-Burg, gegenwärtig türk. Citadelle, sich erhebt, und der außerhalb der alten Mauern in östlicher Richtung gelegenen, weitausgedehnten Außenstadt Aigestan („Gartenstadt“) genannt. (Anm. d. Uebers.)