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Warag[1], das von einer Truppenabteilung mittels Kanonen beschaffen, erstürmt und, nachdem der Klosterabt Pater Aristakes und sein Bruder Pater Werthanes an der Schwelle des Thores enthauptet und alle übrigen Mönche nebst den 25 Schülern niedergemacht worden waren, ausgeplündert und zuletzt verbrannt wurde.

In der Stadt beläuft sich die Zahl der getöteten Armenier auf mehr als 1000; der angerichtete materielle Schaden ist unermeßlich, dürfte aber, soweit es das bewegliche Vermögen allein betrifft, über 1 Mill. türk. Pfd. betragen. Ungefähr 3000 Häuser wurden geplündert, gegen 600 vollständig niedergebrannt; fünf Kirchen wurden entweiht und durch Brand zerstört; desgleichen wurden sechs Schulen eingeäschert.

Auf dem Lande sind die Metzeleien und Verwüstungen noch schrecklicher gewesen. Genauere Angaben darüber fehlen noch. Doch bin ich im stande, auf Grund vorläufiger zuverlässiger Ermittelungen, folgende Thatsachen mitzuteilen: Die Zahl der umgekommenen Armenier dürfte sich auf mindestens 20 000 Seelen beziffern (anderen Nachrichten zufolge soll die Zahl der Opfer fast das Doppelte betragen), nicht mitgerechnet die vielen Tausende, die nach allen Richtungen versprengt und spurlos verschwunden sind; nach vielen Tausenden zählen die Frauen und Mädchen, die geraubt worden sind. Der materielle Schaden läßt sich zur Zeit nicht sicher abschätzen, ist aber natürlich ungeheuer groß. Der ganze Wohlstand unserer blühenden Provinz ist auf lange, lange Jahre hinaus völlig vernichtet; kaum ein Dorf dürfte der Plünderung und Zerstörung entgangen sein; die Felder sind verwüstet, die Saaten vernichtet; das Vieh fiel, soweit es am Leben blieb, in die Hände der Kurdenhorden. Tausende von Familien in der Stadt und auf dem Lande sind ihrer Ernährer beraubt, viele wohlhabende Bürger und Bauern sind heute an den Bettelstab gebracht. Im ganzen Bezirke liegen Tausende von Leichen der unglücklichen Erschlagenen umher, zum Fraß den wilden Tieren und zur Augenweide für die blutdürstigen türkischen und kurdischen Raubmörder. Als vor zwei Tagen der russische Konsul Herr Wladimir von seinem Urlaub hierher zurückkehrte, waren noch viele Straßen der

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 153. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/155&oldid=- (Version vom 31.7.2018)
  1. Das altberühmte Kloster Warag ist Stammsitz einer gleichnamigen Kongregation, hat eine bedeutende Bibliothek und eine vielbesuchte Klosterschule. (Anm. d. Uebers.)