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Stadt mit zahlreichen Leichen der gefallenen Armenier bedeckt, so daß bei seiner Einfahrt der Wagen ganze Straßen lang über dieselben hinweg fahren mußte. Seit einigen Tagen langen ganze Scharen von flüchtigen Frauen und Kindern in einem bejammernswerten Zustande hier an; sie finden in den Wohnungen der Konsuln, sowie in den Häusern und Anstalten der protestantischen und römisch-katholischen Missionen ein notdürftiges Unterkommen, zum größten Teil lagern sie unter freiem Himmel. Die Zahl dieser Flüchtlinge beläuft sich gegenwärtig auf etwa 25 000 Köpfe, und wird durch neuen Zuzug ohne Zweifel noch mehr wachsen. Die Verpflegung dieser völlig mittellosen Massen kann unter den obwaltenden Umständen in genügender Weise kaum bewerkstelligt werden: täglich können zur Zeit nicht mehr als 15 000 Laib Brote verteilt werden. Viele müssen Tage lang hungern; täglich sterben eine Anzahl dieser Unglücklichen den Hungertod; auch Krankheiten beginnen, große Verheerungen unter ihnen anzurichten; es wird der Ausbruch einer Cholera-Epidemie befürchtet.

Durch die Anordnung der Metzeleien in unserer Provinz hat die türkische Regierung einen doppelten Zweck verfolgt: zunächst wollte sie, in konsequenter Durchführung des bereits in den anderen Vilajets gegen unsere Nation systematisch ins Werk gesetzten Ausrottungsplans, nunmehr auch die armenische Bevölkerung Waspurakans mit einem Schlage vertilgen, sodann zu gleicher Zeit der Habsucht und Raubgier der Türken und Kurden und namentlich des unzufriedenen Militärs, das seit langer Zeit keinen Sold erhalten hatte, volle Befriedigung verschaffen.

Trotzalledem zwang der Kommissär Saadeddin Pascha eine Anzahl hervorragender Armenier unter Anwendung von Gewalt dazu, ein Schriftstück an die Adresse des Sultans zu unterschreiben, worin sie erklären, daß „die belanglosen Unruhen“ in Wan „durch Anstiften einiger verbrecherischer armenischer Uebelthüter hervorgerufen worden seien.“

Der Civil-Gouverneur Nazim Pascha hat dieser Tage um seine Entlassung gebeten, welche ihm sofort gewährt wurde. An seiner Stelle wurde der Kommissär Saadeddin Pascha zum Gouverneur ernannt. Derselbe hat sofort ein Kriegsgericht eingesetzt, welches die Aufgabe hat, auf „die Revolutionären“ zu fahnden und sie abzuurteilen.

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 154. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/156&oldid=- (Version vom 31.7.2018)