Seite:Armenien und Europa. Eine Anklageschrift.pdf/162

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

im Kriegsfall als Gegengewicht gegen die Kosacken zu benutzen. – Diese klare Vernichtungspolitik ist treulich befolgt und seit damals noch bedeutend ausgedehnt worden und wird zweifellos, wenn ihr nicht schleunigst ein Ende gemacht wird, eine definitive Lösung der armenischen Frage herbeiführen. Eine Lösung freilich, die ein Hohn auf alle Civilisation und für die Christenheit eine ewige Schande sein wird. Die eingereihten Kurden werden in ihren heimatlichen Sitzen belassen, vom Militärdienste befreit, mit Waffen versehen, mit der Unverletzlichkeit von Gesandten ausgestattet und mit der der hohen Pforte eigentümlichen Regelmäßigkeit bezahlt. Und sie führten ihre Mission mit peinlicher Genauigkeit aus: sie beraubten reiche Armenier, zündeten die Häuser an, verbrannten Korn und Heu, plünderten Dörfer, trieben Vieh weg, entführten junge Mädchen, entehrten verheiratete Frauen, trieben die Bevölkerung ganzer Distrikte weg und töteten alle, welche mutig oder verrückt genug waren, einen Widerstand zu versuchen. Armenier gehören jetzt zu den ärmsten und elendesten Menschen auf dem Erdball. –

Aber vielleicht sah die türkische Obrigkeit diese Folgen nicht voraus, oder wurden diese von den türkischen Gerichtsbarkeiten mißbilligt? Die Obrigkeit hat diese Folgen nicht bloß vorhergesehen sondern diejenigen, die sie thatsächlich herbeiführten auf alle Weise unterstützt, gefördert und belohnt. Und wenn je ein Armenier sich zu beklagen wagte, wurde er von den Beamten, die er bezahlte, damit sie ihn schützen sollten, nicht nur nicht angehört, sondern in ein abscheuliches Gefängnis geworfen, gefoltert und auf eigentümliche und schreckliche Weise mißhandelt – zur Strafe für seine Unverschämtheit und Anmaßung. –

Es hat sich nun herausgestellt, daß das Blutbad von Sassun eine wohl überlegte That der Vertreter der Hohen Pforte gewesen ist, sorgfältig von denselben vorbereitet und unbarmherzig ausgeführt trotz der Bedenken kurdischer Räuber und der vereinzelten Spuren menschlichen Gefühls, das sich sogar in den Herzen türkischer Soldaten regte. –

Darüber zu klagen, daß in Armenien Leben und Eigentum nicht sicher sind, ist daher, solange das Land von der Hohen Pforte ohne Kontrolle regiert wird, ungefähr ebenso vernünftig, als wenn ein Soldat während eines Gefechtes über die Gefahr

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 160. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/162&oldid=- (Version vom 31.7.2018)