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für seine Gliedmaßen sich beschweren würde. Die Folge, über die geklagt wird, ist genau das Ziel, das man erreichen will, und daß es so vollständig erreicht wird, ist nur ein Beweis für die Wirksamkeit der angewendeten Mittel. Ein hervorragender Staatsmann des Auslandes, der gewöhnlich für einen waschechten Türkenfreund gilt, sagte neulich in einer vertraulichen Unterredung zu mir: die türkische Regierung in Armenien könne am besten bezeichnet werden als organisierter Diebstahl, legalisierter Mord und preisgekrönte Unzucht. – Gegen ein solches System zu protestieren, ist ja recht und gut, wird aber schwerlich viel helfen. Ein Menschenfreund, der ein Gefängnis besucht, mag sich wohl entsetzen, wenn er einen Sträfling vorfindet, der an Händen und Füßen gebunden ist; aber er wird sich schwerlich lange mit Klagen aufhalten, wenn er erfährt, daß der Gefangene zum Tode verurteilt ist, und im nächsten Augenblicke aufgehängt werden wird. Der erste Schritt, der bei der Ausführung des „Vernichtungsplanes“ gethan wurde, war, daß man systematisch daran ging, die Armenier an den Bettelstab zu bringen. Dies macht sich ganz natürlich in einem Lande, dessen Beamte acht oder zehn Monate lang auf ihren Gehalt warten müssen, und dann noch mit einem Bruchteil dessen, was ihnen zukommt, sich begnügen müssen. – „Ich habe seit 20 Wochen keinen Pera bekommen und kann nicht einmal Kleider kaufen“, erklärte der alte Beamte, der die Aufgabe hatte, mich in Erzerum Tag und Nacht zu „beschatten“. „Zahlt man Ihnen den Gehalt regelmäßig?“ fragte ich den Chef des Telegraphenamtes in Kutek. „Nein, Effendi, nicht regelmäßig“, antwortete er. „Ich habe seit acht Monaten nicht das Geringste erhalten. Doch ja, der Gehalt für einen Monat wurde mir am Beiramfeste gegeben“. „Wie bringen Sie sich denn durch?“ – „ärmlich“. „Aber Sie müssen doch etwas Geld haben, um Leib und Seele zusammenzuhalten“. „Ich habe etwas, natürlich, nicht aber genug. Allah ist barmherzig. Sie haben mir ja eben selbst etwas Geld gegeben“. „Jawohl, aber das ist doch nicht für Sie, das ist der Betrag für die Depeschen. Das Geld gehört dem Staate“. „O“, sagte er, ich behalte alles Geld, das vom Publikum eingezahlt wird. Ich nehme es als Abschlagszahlung auf meinen Gehalt. „Es beträgt ja nicht viel; aber es mag sein, wie es will, ich stecke es in die Tasche“. Diese Leute sind natürlich kleine Beamte, aber sie befinden sich in keiner wesentlich anderen Lage als die Majorität der höheren

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/163&oldid=- (Version vom 31.7.2018)