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mit den Abgaben, welche die Regierungsorgane, die Zaptiehs, erpressen. Eine Familie z. B. soll 5 Pfund bezahlen und kommt ihrer Verpflichtung nach. Die Zaptiehs jedoch verlangen 3 oder 4 Pfund mehr, für sich selbst. Es wird ihnen verweigert. Nun wird zunächst gehandelt, und man einigt sich auf 1 Pfund. Aber die Zaptiehs sind beleidigt und sinnen auf Rache. Nach einer Woche kommen sie wieder und verlangen die Steuern noch einmal. Die Armenier werden böse und zeigen die Quittung vor; die Zaptiehs lachen und behaupten, daß das vorgezeigte Dokument keine Quittung, sondern ein Blatt aus einem türkischen Buche sei. Nun schützen die Bauern ihre Armut vor und bitten um Gnade. Habsucht, nicht Gnade, bestimmt die Zaptiehs, sich mit drei weiteren Pfunden zu begnügen. Nun wird vielleicht das Geld nicht gleich bezahlt. Dann verlangen die Zaptiehs die Auslieferung der jungen Weiber und Mädchen der Familie, um ihre bestialischen Gelüste zu befriedigen. Eine Weigerung wird mit einer Reihe von Quälereien bestraft, über welche Schamgefühl und Menschlichkeit den Schleier des Schweigens breiten müssen. Entführung und jede Art roher Ausschreitungen, auf welche nur das kranke Hirn orientalischer Lüstlinge kommen kann, vielleicht auch Mord und Brandstiftung schließen das Geschäft der Steuererhebung ab.

Ich habe mit solchen Opfern dieser Beamten der Hohen Pforte gesprochen; ich habe ihre Wunden gesehen, ihre Familien ausgefragt, ihre Priester ausgeforscht, ihre Verfolger, ihre Gefängniswärter (da einige von ihnen wegen Klagens eingesperrt wurden) habe ich gehört, und ich behaupte ohne Zögern, daß die Greuel nicht nur Thatsachen sind, sondern auch, daß sie oft vorkommen. Das Folgende ist die Uebersetzung eines Dokumentes, das in meinem Besitz ist, gezeichnet und gesiegelt von den Bewohnern von Melikan, das erst am 21. März 1895 an seine „Seligkeit den heiligen“ Erzbischof von Erzerum, einen Würdenträger, der von Freund und Feind hochgeachtet wird, gerichtet wurde.

„Seit langer Zeit haben die vier oder fünf Zaptiehs, welche mit Einsammlung der Kaiserlichen Steuern beauftragt sind, unser Dorf zu ihrem Hauptquartier gemacht und zwingen die Bewohner der umliegenden Landschaft hierher zu kommen, um ihre Steuern zu bezahlen. Sie essen, trinken und füttern ihre Pferde auf unsere Kosten und zeigen ganz offen, daß sie entschlossen sind, uns an den Bettelstab zu bringen. Letzthin kamen sieben andere Zaptiehs, welche nicht einmal den Vorwand

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 167. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/169&oldid=- (Version vom 31.7.2018)