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vorzulegen, sich darüber beklagen, „daß die einst glückliche und fruchtbare Gegend jetzt verwüstet und verödet daliege.“

Also dies sind die Greuel, betreffs deren einige erleuchtete Leute in England sich so äußern: „Ach, diese Armenier und Kurden liegen in ewigem Streite, und etwas mehr oder weniger Blutvergießen ändert nichts an der allgemeinen Sachlage.“ Es ist dies ja in einem gewissen Sinne wahr, so nämlich, wie man sagen kann, daß die Schafe mit den Wölfen in ewigem Kriege leben, anders aber nicht. Die Armenier sind nämlich durchweg friedliche Leute, die eifrigsten Landwirte auf dem Lande und passionierte Kaufleute in der Stadt. Für den Fall jedoch, daß irgend einmal das Pflichtgefühl oder der Selbsterhaltungstrieb oder ihre tiefgewurzelte Liebe zu ihren Angehörigen ihren natürlichen Abscheu vor allem Blutvergießen überwinden sollte, so ist ihnen verboten, Waffen zu haben, und die wenigen, die sich gegen dieses Verbot vergehen, werden in einer Weise gequält, daß sie einem hartgesottenen Anhänger des Konfucius die Schamröte in die Wangen treiben müßte. Nein, die Armenier müssen sich zu ihrem Schutze ausschließlich auf die türkischen Soldaten und die türkischen Gesetze verlassen.

Die Art dieses Schutzes nun, der von den kaiserlichen Truppen gewährt wird, offenbarte sich aufs deutlichste im letzten August und September an den Abhängen von Trfekar und auf den Bergen von Andok – in den Hütten von Dalvorik und dem Thale von Ghellygoozan. – Die Dörfer Odandjor, Hamzasheikh, Kakarloob, Kharagul, die 1890 und 1891 blühende und reiche Ortschaften waren, enthielten im Jahre 1894 nicht ein einziges Schaf, kein einziges Pferd, keinen Ochsen. Die Ställe waren verödet, die Scheunen leer, und die Asche von 70 großen Kornschobern erzählte das Uebrige. – Dies war das Werk der Kurden, deren Freunde, die türkischen Soldaten, in jener Gegend im Quartier lagen, und zwar 200 Reiter in Yondjalce, eine halbe Stunde von Odandjor entfernt, 200 in Kop und 100 in Shekagoob. Der Schutz, den sie gewähren konnten, wurde den Kurden zu teil, und ihr Lohn bestand in einem Teile der Beute.

Der Schutz, den die türkischen Gesetze gewähren, ist ähnlicher Natur, bloß noch viel verderblicher für diejenigen Armenier, welche ihn suchen. Einige Thatsachen, für deren Wahrheit eine Wolke von Zeugen einsteht, die durch ausländische Konsuln verbürgt, durch amtliche Schreiben bestätigt sind, mögen vorläufig genügend Licht auf die eigentümlichen

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 169. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/171&oldid=- (Version vom 31.7.2018)