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Formen werfen, welche die türkische Gerechtigkeit in Armenien einnimmt.

Kevork Vartanian aus dem Dorfe Mankassar bezeugt unter anderem folgendes: 1892 kam ein Kurde, Namens Andon, der Sohn des Kerevasch (von dem Stamme Tschalal) mit seinen Kameraden in mein Haus und nahm mir 5 Pfund in Gold weg, die ich mir gespart hatte, um Saatkorn zu kaufen. Ich reichte eine Klage gegen ihn ein, aber die Obrigkeit wies mich mit Verachtung ab. Als Andon hörte, daß ich ihn verklagt hatte, kam er eines Nachts mit 12 Männern wieder, nahm auf dem Dache Aufstellung und feuerte durch eine Oeffnung in meine Wohnung. Meine Schwiegertochter, Yezeko, wurde von einer Kugel getroffen und starb. Ihre zwei Knaben und mein zwei Jahre altes Kind Missal kamen ebenfalls dabei ums Leben. Dann drangen die Kurden in die Wohnung ein und nahmen meine Möbel, Kleider 4 Ochsen und 4 Kühe. Ich eilte nach dem Dorfe Karakiliffe und klagte bei Rahim Pascha. Nachdem er mich angehört hatte, sagte er: „Die Hamidieh sind des Sultans Krieger. So zu handeln ist ihr Recht. Ihr Armenier seid Lügner.“ Und wir wurden ins Gefängnis geworfen. Wir wurden nicht freigelassen, bis wir nicht 2 Pfund in Gold bezahlt hatten.

Im folgenden Winter kamen 200 Soldaten unter Führung des Rahim Pascha selbst in unser Dorf. Er sagte uns sofort, daß es ungesetzlich sei, wegen der Thaten der Kurden zu klagen. Dann quartierte er sich und seine Truppen bei uns ein und verlangte täglich acht Schafe, 10 Metzen Hafer und außerdem Eier, Hühner und Butter. 40 Tage hinter einander lieferte unser Dorf alle diese Nahrungsmittel gratis. Als Entgelt bekamen wir Flüche und Schläge. Rahim Pascha, der sich über seinen Wirt Pare erzürnte, weil derselbe gemurrt hatte, ließ einen kupfernen Kessel am Feuer erhitzen und dem Pare auf den Kopf setzen. Dann zog er ihn nackt aus und ließ ihn mit Zangen an Armen und Beinen zwicken.

Kaum hatten diese Elenden unser Dorf verlassen, als Aïpé Pascha mit 60 Reitern einzog. Als sie sahen, daß keine Schafe mehr im Dorfe zu bekommen waren, schlachteten und aßen sie unsere Ochsen und Kühe. Nachdem sie uns sechs Tage lang in jeder denkbaren Weise drangsaliert hatten, zogen auch sie wieder ab. Wem konnten wir unsere Klagen vortragen, wenn die obrigkeitlichen Personen selbst solche

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/172&oldid=- (Version vom 31.7.2018)