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verlassen und sechs Stunden auf meinem Zimmer zuzubringen, um dann nach dem Kerker zurückgebracht zu werden.

Als der festgesetzte Tag herankam, weigerte sich der Aufseher seinen Pakt zu erfüllen, weil er einen Fluchtversuch des Verbrechers befürchte. Doch gelang es mir nun, zwei Geiseln für ihn zu stellen. Davon war einer ein kurdischer Landsmann, den der Räuber nach seinen Begriffen von Ehre niemals geopfert hätte, selbst nicht, um das eigene Leben zu retten. Endlich kam er eines Abends zu mir über die Dächer geklettert, damit die Polizisten, die vor meiner Thür aufgestellt waren, ihn nicht bemerken sollten. Ich behielt ihn die ganze Nacht da, zeigte ihn zweien der angesehensten Europäer der Stadt und ließ mich endlich, um keinen Zweifel an der Sache aufkommen zu lassen, am nächsten Morgen mit ihm zusammen photographieren.

Der Bericht dieses kurdischen Ehrenmannes ist ein herrlicher Kommentar zu dem türkischen Regierungssystem in Armenien. Ich kann ihn hier leider nicht vollständig geben. Einige kurze Auszüge sollen genügen.

Frage: Nun, Mostigo, ich wünsche aus deinem eigenen Munde einige deiner großen Thaten zu vernehmen. Ich werde sie niederschreiben, um sie den „Gutsbesitzern“ bekannt zu machen.

Antwort: Recht so. Teile sie den 12 Mächten mit. Er hatte offenbar keine Ahnung von Verantwortlichkeitsgefühl und auch keine Spur von Furcht vor gerichtlicher Bestrafung. Und doch sollte er bestraft werden, es hatte doch geheißen, daß er zum Tode verurteilt sei. Ich wollte diesen Punkt aufklären, frug also weiter.

Frage: Es thut mir leid, dich im Gefängnis zu finden. Bist du lange da?

Antwort: Es thut mir selbst leid. Fünf Monate, aber es scheint eine Lebenszeit.

Frage: Da sind wohl die Armenier daran schuld.

Antwort: Ja wohl.

Frage: Du hast, wie ich höre, zu viele derselben ins Jenseits befördert, ihre Frauen entführt, ihre Dörfer verbrannt und ihnen das Leben heiß gemacht.

Antwort: Das hat mit meiner Einkerkerung nichts zu thun. Ich werde nicht gestraft, weil ich Armenier beraubt habe. Das thun wir alle. Ich tötete selten, nur wenn sie Widerstand leisteten. Aber die

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/176&oldid=- (Version vom 31.7.2018)