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erhielt grausame Schläge und mußte ohne Nahrung aufrecht stehen. So oft er ohnmächtig wurde, brachte man ihn mit kaltem Wasser oder Hieben wieder zu sich. Sie rissen auch seine Haare aus und brannten ihn mit heißem Eisen. Endlich wurde er ... (Was sie ihm anthaten, kann man nicht erzählen). Hambartzum Boyadjian wurde drei Tage lang der Sonnenglut ausgesetzt. Dann wurden er und seine Gefährten nach Semal gebracht, dort bekamen sie Schläge und wurden in eine Kirche gesperrt. Man erlaubte ihnen nicht nur nicht, die Kirche zu verlassen, um ihre natürlichen Bedürfnisse zu verrichten, sondern man zwang sie sogar, den Taufstein und den Altar zu verunreinigen: Wo seid ihr Christen von Europa und Amerika? Unter den vier Unterschriften ist die eines hochgeachteten und gottesfürchtigen Geistlichen.

Ich selbst kenne eine Menge Leute, die in diesem Gefängnisse gewesen sind. Die Geschichten, die sie von dem erzählen, was sie erlebt haben, sind herzzerreißend, und man würde sie kaum glauben können, wenn sie nicht zur Genüge bestätigt würden durch die Geschichten, welche ihr gefolterter Leib und die tiefen Narben und scheußlichen Entstellungen erzählen, die sie behalten müssen, bis das Grab sie aufnimmt oder die Geier sie verzehren. Die Foltern und Mißhandlungen, die sie erleiden, sind so toll, so unglaublich und haarsträubend scheußlich, daß ein einfacher wahrheitsgetreuer Bericht darüber sich anhört, wie das Irrereden eines kranken Teufels. Aber dies ist ein Gegenstand, den man unmöglich behandeln kann.

Man kann aus dem bisher Gesagten unschwer erkennen, was in Armenien einen Menschen ins Gefängnis bringen kann. Der Besitz von Geld, Vieh, Korn, Land, der Besitz seines Weibes oder einer Tochter genügt schon vollauf. Wir sind empört, wenn wir von der Grausamkeit brutaler Kurden lesen, die in ein Dorf reiten, die Häuser attackieren, die Schafe wegtreiben, die Weiber entehren und dann gemütlich heimreiten, als hätten sie die ehrlichste Arbeit verrichtet. Wir sagen, es sei dies eine Schande für die civilisierte Menschheit, und wir mögen auch ganz Recht haben. – Aber was die Kurden thun, ist noch reine Barmherzigkeit verglichen mit den türkischen Gepflogenheiten, die sich auf die gesetzmäßige Gewalt und auf den Schreck der Gefängnisse stützen. Wenn ein Mann aus Armut oder aus Hunger sich weigert, willkürliche Steuern, mit denen er im Rückstände zu sein

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 183. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/185&oldid=- (Version vom 31.7.2018)