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beschuldigt wird, zu bezahlen oder seine Kuh oder seinen Ochsen den Zaptiehs nicht als Trinkgeld geben will; wenn einer sie bittet, die Ehre seiner Frau oder seiner Tochter zu schonen, dann wird er in eines dieser Gefängnisse geworfen, das er nicht verläßt, ehe er mit dem unauslöschlichen Brandmal des Platzes gezeichnet ist. Nehmen wir einen der gewöhnlichen Fälle dieser Art:

Ein junger Mann aus dem Dorfe Aozud (Distrikt Musch) ging nach Rußland und fand dort Arbeit. Er heiratete auch und lebte dort mehrere Jahre. Gegen Ende 1892 kam er in sein Heimatsdorf zurück, und die Polizei schickte nun auf die Nachricht hin, daß „ein Armenier, der in Rußland gelebt habe, zurückgekehrt sei“, 4 ihrer Leute unter dem Kommando von Isaag Tshausch nach Aozud. Sie kamen zwei Stunden nach Sonnenuntergang an, und während 3 von ihnen Wache hielten, ging der Führer in das Haus hinein, das der junge Mann bewohnte. Gleich darauf wurden Schüsse gehört, und der junge Armenier und Isaag tot aufgefunden. Nun sandte die Obrigkeit von Bitlis einen Obersten der Zaptiehs hin, um die strafende Gerechtigkeit walten zu lassen. Dies geschah denn auch schleunigst. Der Oberst rief die Männer des Dorfes, von denen keiner mit der Sache das Geringste zu thun hatte, zusammen und legte sie ins Gefängnis. Dann deflorierten die Beamten alle Jungfrauen und entehrten alle jungen Frauen des Ortes, worauf sie die Männer wieder in Freiheit setzten mit Ausnahme von 20, die sie ins Gefängnis von Bitlis brachten. Einige von diesen starben dort, und zehn andere wurden bald nachher entlassen. Endlich beschloß man, einen jungen Lehrer, Markar aus dem Dorfe Vartenis, des Mordes an Isaag zu beschuldigen und da nichts gegen ihn vorlag, sollten die andern Gefangenen gegen ihn zeugen. Man sagt ja den Armeniern nach, daß sie Lügner seien, aber sicher treiben sie das Lügen nicht soweit, daß sie einen unschuldigen Menschen an den Galgen schwören. Und so weigerten sie sich, das doppelte Verbrechen des Meineides und Mordes zu begehen. Energische Versuche wurden gemacht, ihren Entschluß zu beugen; sie wurden entkleidet und mit glühenden Eisen gebrannt, bis sie vor Schmerz brüllten. Sie wurden Nächte lang am Schlaf verhindert und dann wieder gefoltert, bis sie erschöpft und gebrochen heulend alles zu beschwören versprachen, wenn man nur ihren Qualen ein Ende mache. Ein Protokoll wurde aufgesetzt, worin sie erklärten, daß Markar im Dorfe war, als

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 184. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/186&oldid=- (Version vom 31.7.2018)