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Vorwand, über die Rachsucht der Armenier zu klagen. Natürlich, er hätte die Sheikhs zum Mittagessen einladen und liebenswürdig unterhalten oder sie wenigstens ganz in Ruhe lassen sollen.

Sei dem aber wie ihm wolle, Mgirdutch und sein jüngerer Bruder, welche wußten, daß das Verhängnis hereinbrechen werde, rannten in das Haus des Mussa Bey und erklärten sich für Muhammedaner. Dann schickten sie Boten zu ihrem Vater, teilten ihm mit, was sie gethan hatten und baten ihn, dasselbe zu thun. Und er that es. Ein Mullah wurde beordert, die neubekehrte Familie in den Glaubenslehren des Islam zu unterrichten. Zufällig war der Mullah ein Mann, welcher lange Jahre Meliks treuer Diener gewesen war und viel mehr Lust hatte, Christ zu werden, als sein früherer Herr Muhammedaner. Mit diesem befreundeten Mullah besprach Melik seine Fluchtpläne und schickte seine verwitwete Tochter mit einem erwachsenen Mädchen und drei Knaben nach Rußland. Als sie nahe an die Grenze kamen, wurden sie von Kurden überfallen, die das Mädchen in ihre Gewalt zu bekommen suchten. Aber sie klammerte sich an die Hand ihrer Mutter und setzte den Bemühungen der Kurden, sie wegzuführen, den verzweifeltsten Widerstand entgegen. Da ihnen ihre Absicht nicht gelang, schossen die Kurden das Mädchen tot. – Ihre Mutter nahm die Leiche auf den Rücken und trug sie nach dem Dorfe Ghairavank, wo sie von Vater Raphael beerdigt wurde. –

Nach einiger Zeit flohen Melik und die übrigen Glieder seiner Familie nach Rußland. Er ließ alles zurück – sein Haus, seine Aecker, sein Heu, Korn, Vieh und nahm nur ein wenig Geld mit – und dies nahmen ihm die Kurden auf dem Wege ab.

Er war dankbar, daß Gott ihn lebendig über die Grenze hatte gelangen lassen.

Und die Ueberzeugung ist sehr stark unter den Armeniern verbreitet, daß dies die einzige Gunst ist, für die sie je zu danken haben werden.

Es ist nicht leicht für einen Armenier, die Grenze zu überschreiten und nach Rußland zu gelangen, wenn er nur irgend Gold oder Silber oder Kleidungsartikel besitzt; und wenn ein Weib das Land verlassen will, so muß sie in der Regel vorher eine Behandlung über sich ergehen lassen, deren bloße Erwähnung unser Blut in Wallung bringen müßte. „O, diese Dinge werden von den Armeniern nicht so lebhaft empfunden, als sie von Europäern empfunden

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 188. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/190&oldid=- (Version vom 31.7.2018)