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hiermit feierlich, daß das Blutbad von Sassun nur ein Tropfen in dem Ocean armenischen Blutes ist, welches allmählich und in aller Stille seit dem letzten türkisch-russischen Kriege überall im türkischen Reiche vergossen wird. Jahr für Jahr, Monat für Monat, Tag für Tag sind unschuldige Männer, Weiber und Kinder in ihren eigenen Häusern, auf ihren eigenen Feldern erschossen, erdolcht und erschlagen worden. Man hat sie in scheußlichen Kerkern unbarmherzig gefoltert oder hat sie in der Verbannung unter der sengenden Sonne Arabiens langsam hinsterben lassen. Während der ganzen Dauer dieses langen und gräßlichen Trauerspiels hat sich keine Stimme, die um Erbarmen für uns geschrieen hätte, erhoben; keine Hand wurde ausgestreckt um uns zu helfen. Das Trauerspiel nimmt immer noch seinen blutigen Fortgang und ist schon beim letzten Stadium angelangt. Das armenische Volk liegt in den letzten Zuckungen. Soll das europäische Mitleid keine andere Form annehmen können, als die eines Kreuzes auf unseren Gräbern? Ich habe auch zwei rührende Schreiben von Frauen Armeniens erhalten. Sie sind mit den eigenen Siegeln gesiegelt und an deren Schwestern in England adressiert. Wenig genug ist es wahrlich, um was sie bitten, nur daß sie beschützt werden möchten – vor schimpflicher Entehrung – und doch hat es bis jetzt den Anschein, als ob sie das Unmöglichste verlangten. Wir in Europa haben nicht eine blasse Ahnung davon, in welchem Maße junge Frauen und Mädchen überall in Armenien von türkischen Soldaten, kaiserlichen Zaptiehs und kurdischen Offizieren und Räubern mißhandelt werden, – so abscheulich und tierisch mißhandelt, daß ihre Qualen mit dem Tode endigen. Mädchen von elf und zwölf, ja von neun Jahren werden aus dem Schoße ihrer Familien entrissen und in dieser Weise von Leuten mißbraucht, deren Namen man kennt und deren Thaten von den offiziellen Vertretern der Regierung gebilligt werden. Ja, diese Vertreter der Regierung sind selbst die Bestien, die mit dem Gifte ihrer abscheulichen Leidenschaft alle Reinheit und alle Unschuld vernichten. Raub, Entführung und Notzucht sind ganz gewöhnliche Vorkommnisse in Armenien geworden. Und dem allen sieht der „edle Türke“ mit wohlgefälligem Lächeln zu. Ich habe selbst mehr als 300 solcher Fälle gesammelt und von unzähligen anderen erzählen hören. An dem folgenden Fall habe ich ein besonders lebhaftes Interesse genommen, weil ich persönlich mit dem Opfer und ihrer Familie gut bekannt bin. Ihr

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 193. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/195&oldid=- (Version vom 31.7.2018)